2 61

Die Letzte macht das Licht aus

Probleme und Ideologien des Klimawandels

Frühjahr 2024

Editorial

Im November 2023 befinden wir uns in den letzten Zügen der Heftproduktion, unter dem Eindruck des historischen Massakers der Hamas an Jüdinnen und Juden und dem um sich greifenden Antisemitismus. Vor einem Jahr, ungefähr zur Zeit als unser letztes Heft herauskam, waren sich die meisten Linken hierzulande sicher: Antisemit:innen, das sind die Nazis, die AfD-Wähler:innen und die Corona-Leugner:innen. Reflexion auf den Antisemitismus in den eigenen Reihen? Fehlanzeige. Schon die Gedenkdemos im Februar 2022 anlässlich des Terroranschlags in Hanau wurden durch pro-palästinensische Gruppen vereinnahmt, die keinen Hehl aus ihrer Verachtung von Jüdinnen und Juden machten. 2023 waren an gleicher Stelle Sprechchöre wie »Von Hanau bis nach Gaza, Yallah Intifada« zu hören. Weiter

Inhalt

Top Story

Phase 2

Die Letzte macht das Licht aus

Einleitung zum Schwerpunkt

In den Debatten über den menschengemachten Klimawandel tauchte in den letzten Jahren vermehrt der Begriff des Ökozids in der politischen Öffentlichkeit auf. Er bezeichnet, nach der bisher nicht ratifizierten Definition eines unabhängigen Expert:innengremiums, »rechtswidrige oder willkürliche Handlungen, mit dem Wissen begangen, dass eine erhebliche Wahrscheinlichkeit schwerer und entweder weitreichender oder langfristiger Schäden für die Umwelt besteht, die durch diese Handlungen verursacht werden«. Der Tatbestand des Ökozids soll ein juristisches Instrument bereitstellen, mit dessen Hilfe künftig konkrete Verursacher:innen, staatliche wie nicht-staatliche Akteur:innen bis hin zu einzelnen Personen, für verursachte Klima- und Umweltschäden zur Rechenschaft gezogen werden.   Weiter…

Walther Zeug & Lisa Mast

Der ideologische Fußabdruck des Kapitalismus

Die Krise gesellschaftlicher Naturverhältnisse, individualisierter Konsumkritik und unpolitischer politischer Bildung

In der ökologischen, sozialen und ökonomischen Dauerkrise des Kapitalismus ist es gegenwärtig vor allem die fortschreitende Zuspitzung des anthropogenen Klimawandels, die für viele ein Handeln notwendig erscheinen lässt. Dass es unaufhaltsam ›so weitergeht‹, ist die Katastrophe für eine jüngere Generation, die sich in verfinsternden Zukunftsvisionen um ihr Glücks- und Fortschrittsversprechen betrogen sieht: »It's like we are stuck in a hamster wheel, everyone is blaming each other« (Greta Thunberg). Weder Klimakonferenzen noch staatliche Reformen oder corporate responsibility konnten bisher einen effektiven Beitrag zur Lösung der sozialökologischen Krise leisten, geschweige denn ein Gefühl von Zuversicht oder Hoffnung verbreiten. Stattdessen erleben wir eine gesteigerte Ideologieproduktion, die im notwendig falschen Bewusstsein neoliberaler Vergesellschaftung, in individueller Verantwortung und individuellem Handeln, vermeintliche Auswege aus dieser Krise sucht. In Herrschaftsverhältnissen, die die ökonomische Strukturlogik eines expansiven Wachstums fortwährend (re-)produzieren, erscheinen diverse Formen der Moralisierung und Individualisierung auch im Kontext der Klimabildung von Kindern und Jugendlichen als populäre Methoden.  Weiter…

Alex Struwe

Vom Ende her gedacht

Ohnmacht, Schuldabwehr und der Verlust von Reflexion im Angesicht der Katastrophe 

Sir David Attenborough hat schon viel Inspirierendes über die Natur gesagt. Zum Beispiel, dass sie die »größte Quelle der Schönheit« und »so vieler Dinge, die das Leben lebenswert machen« sei. Seit einem halben Jahrhundert dokumentierte er für die BBC diese Schönheit des Lebens auf der Erde; kaum einer, der nicht schon durch seine Augen über den blauen Planeten und seine Wunder staunte. Einmal versunken in die Erhabenheit, die der ritterliche Naturforscher in diesen unzähligen Conscious Documentaries bewiesen hat, kann man von den blöden Menschen und ihrer Überheblichkeit gegenüber Mutter Erde nur schlecht denken. »Wir sind eine Plage auf der Erde«, sprach also der demütige Weise so vielen armen Seelen aus dem Herzen. Wer kennt ihn nicht, den Affekt von Selbsthass und Zivilisationsverachtung, wenn wieder einmal ein Bulldozer den Regenwald rodet, die Müllteppiche den Ozean bedecken und die rauchenden Schlote den Himmel verdüstern?  Weiter…

Sandra Zettpunkt, Ted Gaier, Jan Off

Von No Future zu Fridays for Future 

Ein Triptychon 

Von Anti-AKW-Protesten, den Warnungen vor saurem Regen und dem Absterben der Wälder bis hin zur Gründung der Partei Bündnis 90/Die Grünen samt erstmaligem Einzug in bundesdeutsche Parlamente: Die achtziger Jahre waren ein Jahrzehnt der Ökologie- und Umweltbewegung. Die damalige Angst vor dem großen Knall, nicht zuletzt angeheizt durch die Havarie des Kernkraftwerks Tschernobyl, war allgegenwärtig und strahlte bis in politische Jugend- und Subkulturen aus. Der Tanz auf dem Vulkan sollte das erwartete Ende der Welt zelebrieren. Das Motto, frei nach den Sex Pistols: »No future for you!« Kaum 40 Jahre später liegt der Fall anders. Unter der Überschrift »Fridays for Future« ist eine regelrechte Versessenheit auf die Zukunft entbrannt. Spätestens im letzten Jahrzehnt sind Artensterben, Endlichkeit der Ressourcen und Klimawandel wieder zu zentralen Themen geworden, um die sich neue aktivistische Bewegungen und Gruppierungen gebildet haben.   Weiter…

Peter Bierl

Realsozialismus und Umweltschutz  

Zur Geschichte von Ökologie und Industrie in den sozialistischen Staaten 

Es ist notwendig, immer wieder darauf hinzuweisen, dass es der Kapitalismus ist, der die ökologischen Grundlagen menschlichen Lebens zerstört. Ohne Bruch mit der Kapitalverwertung wird dieser Prozess nicht enden. Das heißt aber nicht, dass andere Gesellschaftsformen nicht ihre Öko-Nischen zerstört hätten oder zerstören könnten. Auch die realsozialistischen Staaten, vielleicht mit Ausnahme Kubas in jüngerer Zeit, verfügten über keine positive Ökobilanz. In diesem Beitrag soll skizziert werden, was die wesentlichen Ursachen dafür waren, obwohl Profitlogik und Konkurrenz sowie das Privateigentum an Produktionsmitteln aufgehoben waren.   Weiter…

Florian Geisler

Natur und Determination

Der Streit zwischen Neuen und alten Materialismen um die Bestimmung des gesellschaftlichen Naturverhältnisses 

Im 19. und 20. Jahrhundert erreichte der Begriff Materialismus Bewusstsein und Praxis von Millionen Menschen. Er war mit der spezifischen Lösung eines politischen Problems verbunden: Die Unfähigkeit der modernen Gesellschaften, sich selbst zu verstehen und sich wirklich nach universalistischen Vorstellungen auszurichten, sollte nicht mehr einfach nur moralisch beklagt, sondern ihre Ursachen beseitigt werden. Es gab offensichtlich etwas, das den Menschen beim Versuch, ihre Geschichte selbst zu machen, geradezu gegenständlich im Weg war, wie eine Barriere. Und selbst wer nicht zu sagen vermochte, was dieses Etwas ganz genau sein sollte, konnte sich doch auf die politische Forderung einigen, dass es gelte, ihm auf den Grund zu gehen.   Weiter…

Phase 2

»Irgendwann wird die Schwelle übertreten worden sein« 

Interview mit den Organisator:innen von Klimawandel & Gesellschaftskritik 

Vom 20. bis 22.05.2022 fand an der Universität Oldenburg der Kongress Klimawandel & Gesellschaftskritik statt, organisiert von einem Bündnis der jeweiligen Referate des lokalen AStA, der Forschungsstelle Kritische Naturphilosophie und der überregionalen, studentischen Arbeitsgemeinschaft Rosa Salon. Für die Tagung wurden in 30 Vorträgen, 13 Panels und mehreren Podiumsdiskussionen über 50 Referent:innen zusammengebracht. Nicht nur des großen Umfangs, sondern auch der Auswahl der Teilnehmer:innen wegen bot die Veranstaltung einen Querschnitt durch die deutschsprachige Theorie-Linke und deren Auffassungen zum Klimaproblem. Die Phase 2 hat mit den Organisator:innen gesprochen und nach Ansprüchen, Herausforderungen und Ergebnissen der Tagung gefragt.   Weiter…

Anneke Schmidt

Prometheus macht sich zum Zwerg

Günther Anders, die Kritik der Technik und der Klimawandel 

Sind wir als Menschheit durch eine sich immer rasanter entwickelnde Technologie zum Untergang verdammt oder lassen sich die grassierenden Umweltprobleme, mit denen wir unweigerlich konfrontiert sind, technisch lösen? Wenn in öffentlichen Debatten über Technik oder den technischen Fortschritt gesprochen wird, changiert das gezeichnete Bild meist zwischen Heilserwartung und Weltuntergang. Egal ob es um Reproduktionstechnologie, die Vision von Fusionsreaktoren und einer sauberen Kernkraft oder die Besiedelung des Weltalls geht: Kaum eine Utopie oder Dystopie kommt ohne die Technik als Protagonistin aus. In gewisser Hinsicht unterscheiden sich die an Innovationen geheftete ganzheitliche Erlösungshoffnung und der reaktionäre Primitivismus nur durch das emotionale Vorzeichen. In beiden Verständnissen ist Technik eine dem Menschen äußerliche Ding-Technologie, die als Instrument zur Hand ist. Als solche bügelt sie für den Optimisten in der Zukunft aus, was die Menschheit vermasselt hat, während sie für den Pessimisten so weit auf die Spitze getrieben ist, dass ihre Anwendung menschlichen Bedürfnissen nicht mehr entspricht. Auch die Kritik, die Technik, mit der wir täglich konfrontiert sind, entziehe sich in ihrer genauen Funktion unserem Verständnis, richtet sich meist auf bestimmte Anwendungsbereiche und Einzeltechnologien. Bemängelt wird eher die Komplexität der Arbeitsteilung als das Fehlen einer adäquaten (Begriffs-)Bestimmung. Dabei wäre eine Verständigung darüber, was Technik als solche ist, vor allem aber, was sie für uns ist und welche Rolle sie in unserer kollektiven Weltbeziehung einnimmt, das Fundament einer gelingenden Debatte darüber, was wir im Kontext des Klimawandels von ihr erhoffen dürfen oder befürchten müssen.  Weiter…

Martin Dornis

Das Naturschöne im Klimawandel

Perspektiven einer ästhetischen Kritik des Mensch-Natur-Verhältnisses 

Die Menschheit befindet sich derzeit in einem Umbruch, wie sie ihn wohl seit 12.000 Jahren nicht erlebt hat. Klimawandel, Globalisierung und Digitalisierung verändern die Lebensbedingungen, die in der neolithischen Revolution geschaffen wurden. Der in dieser Zeit errungene relative Ausgleich zwischen Mensch und Natur schwindet. Gesellschaftliche Veränderung bleibt versperrt, solange sich ihre potenziellen TrägerInnen in gegensätzliche Denkweisen verstricken: Natur und Gesellschaft stünden zueinander im Widerspruch; ohne Herrschaft erfolge die Auflösung der Gesellschaft ins Chaos; ohne fortwährenden Fortschritt verfalle die Menschheit in Stagnation, müsse »auf die Bäume zurück«, wie es gern heißt; Gesellschaft sei veränderlich, Natur hingegen statisch; die Technik sei der Feind der Natur.  Weiter…

Ewgeniy Kasakow

Angis Rache 

Deutsche Linke am Ende der Merkel-Ära 

Im Januar 2002 initiierten die Grünen eine E-Mail-Postkartenkampagne mit dem Titel »Rache für Angie«. Unmittelbarer Anlass war die Entscheidung der damaligen Oppositionspartei CDU/CSU, nicht Angela Merkel, sondern Edmund Stoiber zum Spitzen- und damit zum Kanzlerkandidaten zu küren. Ein West-Mann statt einer Ost-Frau. Die Kampagne stieß auf Kritik aus dem eigenen Lager, da die Grünen ebenfalls mit dem aus dem Westen stammenden männlichen Spitzenkandidaten Joschka Fischer in den Wahlkampf zogen. Das letzte Jahr der ersten rot-grünen Koalition hatte gerade begonnen und so langsam wurde das Feuilleton müde, die Schröder-Regierung als ein »Generationenprojekt der 68er« zu analysieren. Die 68er-Partei sui generis, die so gönnerhaft die Solidarität im Namen der Fairness für die politische Konkurrentin forderte, ahnte noch nicht, dass diese 16 Jahre an der Macht bleiben, alle Witze über ihr Aussehen, ihr Lieblingsadjektiv »alternativlos« und ihr angeblich fehlendes Charisma überleben würde.   Weiter…