Wer nur einen Film von Chantal Akerman gesehen hat, kann vermuten, dass ihr semi-autobiographischer Text Meine Mutter lacht (im französischen Original Ma Mère rit, 2013), der 2022 in deutscher Übersetzung im Diaphanes Verlag erschienen ist, nicht dem chronologischen Aufbau herkömmlicher Autobiographien folgt. Die 1950 in Brüssel geborene jüdische Filmemacherin und Autorin ist international dafür bekannt und ausgezeichnet, dass sie eine radikal formale Bildsprache verwendet. In ihren über 45 genreübergreifenden Filmen und Installationen ist die Form nicht bloß Trägerin eines Narrativs, sondern eine politische Haltung, die den Inhalt bestimmt. Ihr weithin bekanntester Film Jeanne Dielman, 23, quai du Commerce, 1080 Bruxelles von 1976 wurde 2022 vom renommierten britischen Filmmagazin Sight & Sound auf den ersten Platz der The Greatest Films of All Time gewählt. Der Film ist beispielgebend für Akermans Stil, der sich dem Alltäglichen widmet und damit eine passive Rezeptionshaltung herausfordert: statische Einstellungen und suchend-tastende Kamerafahrten thematisieren auf diese Art jüdische Emigrationsgeschichten, lesbisches Begehren, den Innen- und Außenraum verlebter Transitorte, den Lebensalltag von Frauen oder das Verhältnis zur eigenen Mutter, die auch als Protagonistin in Akermans letztem (dokumentarischen) Film No Home Movie von 2015 zu sehen ist. Als Tochter einer Mutter, die Auschwitz überlebt hat, versucht Akerman sich der Todesstille, dem Unbegreiflichen zu nähern, aber ihre Mutter bleibt beim Ungesagten, beim Nichts, dem kein Wort, kein Bild entgegentreten kann. Meine Mutter lacht widmet sich genau diesem Nichts in der fast erstickenden Nähe der Mutter-Tochter-Beziehung, die gleichzeitig der Sauerstoff für beide zu sein scheint. Beim Lesen merkt man schnell, dass man es eher mit einer Antiautobiographie zu tun hat, mit der Akerman wie in ihren Filmwerken die Grenze zwischen Dokumentation und Ungezeigtem bzw. Unzeigbarem hinterfragt. So wechselt die fragmentarische Erzählperspektive teilweise unbemerkt und sprunghaft von ihrer eigenen zu der ihrer Mutter, wobei eine Art Zwiegespräch entsteht. Dadurch wird nicht nur die gegenseitige Unabdingbarkeit beider Frauen fühlbar, sondern der Text bricht personelle und zeitlich-historische Linearität auf, um Platz für das Nichts zu schaffen. Auch Akermans Selbstbeschreibung als altes Kind greift die Abwendung von Linearität und Abgeschlossenheit gekonnt auf.
Wie in ihrem Film Jeanne Dielman entblättert sich der Text anhand von vermeintlich ereignislosen Alltagshandlungen: dem gemeinsamen, etwas mühevollen Schreiben einer Einkaufsliste, Spaziergängen, den Angewohnheiten und Haushaltsroutinen der erkrankten, gebrechlichen Mutter oder ihrer Haushaltshilfen. Akermans Beobachtungsgabe heftet sich mit psychoanalytischer Genauigkeit an Details. Sie zeigt die historische und interpersonelle Mehrdeutigkeit beiläufiger Versprecher auf, verhuschter Alltagsgesten, verbaler Leerstellen oder eines unbeholfenen Lachens. In ihren Beschreibungen, die distanziert und zugleich intim sind, legt sie dabei nicht nur die ständige Präsenz der Massenvernichtung und deren intergenerationelle Auswirkungen auf die Mutter-Tochter-Beziehung offen, sondern aktualisiert sie grundlegend.
Auch wenn Akerman sehr intim über ihre schwerwiegenden depressiven Phasen, die scheinbar ausweglosen Emotionsmühlen einer festgefahrenen Beziehung und die nervliche Anstrengung der Besuche in der mütterlichen Wohnung schreibt, bietet sie kein Moment der Identifikation oder Nähe für die Leser:in an. Es ist ihr Text. Ein Text, der niemanden mit vorschnellen Analysen oder einem übereifrigen Erkenntnisgewinn für sich einnehmen möchte, der keine Erleichterung bietet und auf gewisse Art bis zur letzten Seite fremd bleibt. Akerman setzt ihren intim-distanzierten Kamerablick sprachlich fort, der biographisch bestimmende Themen wie Diaspora und Shoa über die Form aufgreift. Meine Mutter lacht ist ein buchstabengewordener tracking-shot, dessen kapitellose Absätze an einem vorbeigleiten und die in ihrer Poesie einzeln für sich stehen könnten. Auch der Schriftsatz entspricht einer lyrischen, dialogischen Rhythmik. Mal als kleine und mal als große Schnipsel tauchen unkommentierte Bilder aus Akermans Kindheit und stills ihrer Filme inmitten des Textes auf. So liest man das Buch eigentlich nicht, sondern schaut dabei zu, wie es sich vor den eigenen Augen entlang bewegt.
Bemerkenswert ist auch die Übersetzungsarbeit von Claudia Steinitz, die Akermans lakonisch-sparsamen, manchmal humorvollen Ton trifft, ohne dabei die Mehrdeutigkeit aufzugeben. Nachdem man das Buch gelesen hat, empfiehlt es sich, sich einen Tag lang einzuschließen und mit Meine Mutter lacht im Gedächtnis Saute ma ville, Jeanne Dielman, D'Est, News from Home und American Stories zu schauen, um mit Zuckerwürfeln, Kaffee und Zigaretten in Akermans Welt zu bleiben, von der wir nur noch ihr Werk haben. Chantal Akerman nahm sich 2015, ein Jahr nach dem Tod ihrer Mutter, in Paris das Leben.
Viola Steiner-Lechner
Chantal Akerman, Meine Mutter lacht, aus dem Französischen von Claudia Steinitz, Diaphanes Verlag, Zürich 2022, 206 S., € 22,00.