Dialektik und Revolution

Dialektik und Revolution Herbert Marcuse hat in Eros and Civilization auf die Dialektik der historischen Revolutionen aufmerksam gemacht: Da der Kampf der Unterdrückten gegen die Herrschaft immer die Errichtung eines neuen Herrschaftssystems zur Folge gehabt habe, sei bisher »jede Revolution auch eine verratene Revolution« gewesen. Dem Zusammenhang von Revolution und Konterrevolution geht auch Gerhard Stapelfeldt in Der Geist des Widerspruchs. Studien zur Dialektik nach. Im Fokus des die Reihe abschließenden dritten Bandes Theorie und Praxis steht das Verhältnis von Revolution und Aufklärung: Warum »reproduziert alle Praxis, die die Verwirklichung der Vernunft intendiert, den gesellschaftlichen Dogmatismus, so daß die Revolutionen sich in Gegenrevolutionen, Restaurationen und Tyrannei vollenden«? (Bd. 1, 15) Die Antwort auf diese Frage ist nach Stapelfeldt nur kritisch darzustellen: »durch eine aufklärende, genetische Kritik der Geschichte der theoretischen und praktischen Aufklärung und ihrer Selbstzerstörung.« (Bd. 1, 16) Alle Aufklärung von unbewusst herrschenden Verhältnissen steht im Bann des gesellschaftlichen Dogmatismus. Dieser muss durch Kritik aufgelöst werden, zugleich werden Teile davon in der Kritik reproduziert, weil niemand über die Verhältnisse hinaus ist, die er oder sie kritisiert. So steht alle Aufklärung in Gefahr, in ihr Gegenteil umzuschlagen: Der Vernunft-Anspruch der Aufklärung mündet in »theoretische[m] Dogmatismus« (Bd. 1, 27). Mit dieser Verdinglichung der Kritik geht eine neue rational-irrationale Form der gesellschaftlichen Praxis einher: Terror im Namen der Vernunft. Die historischen Beispiele für den Umschlag von Aufklärung in Barbarei werden von Stapelfeldt detailliert analysiert. Sei es, dass die Revolutionäre ihre dogmatisierten Grundsätze in gewaltsame Praxis übersetzen, sei es, dass auf Revolutionen Gegenrevolutionen folgen. Als ein wichtiges Beispiel kann die Französische Revolution gelten: War die liberal-bürgerliche Aufklärung ein theoretischer und die Revolution ein praktischer Widerspruch gegen die feudalen Verhältnisse und sollten mit ihr Freiheit und Gleichheit durchgesetzt werden, so zeigte deren Verlauf nicht allein den Umschlag von Aufklärung in Vernunft-Terror. Zudem endete sie mit dem Staatsstreich Napoléon Bonapartes und leitete eine Epoche der Restauration ein. Es ist das Verdienst von Stapelfelds Studie, eine ausführliche Darstellung des Verhältnisses von Theorie und Praxis in der Geschichte von Aufklärung, Revolution und Tyrannei zu geben. Die entscheidenden Momente der revolutionären Dialektik liegen in der historischen Spezifik: »Dargelegt wird in Form einer dialektischen Geschichtsphilosophie die Entstehung und Entwicklung einer aufklärenden, ent-mythologisierenden Theorie und Praxis, der durch ihren Dogmatismus die Selbstdestruktivität, der Verfall der aufklärenden Kritik zu einer Theorie und Praxis rationaler Re-Mythologisierung der bürgerlichen Gesellschaft immanent ist.« (Bd. 1, 10) Das inhaltliche Problem eines »revolutionären« Dogmatismus durchzieht selbst die Theorie von Karl Marx. Einerseits radikalisiert Marx die kritische Tradition der bürgerlichen Aufklärung, andererseits bleibt seine Theorie in den gesellschaftlichen Verhältnissen gefangen. Mit der Prognose des notwendigen Zusammenbruchs der kapitalistischen Produktionsweise und des Überganges in eine sozialistische Gesellschaft schlägt dialektische Kritik in dogmatischen Geschichtsdeterminismus um. Diese Marxsche Setzung wird im orthodoxen Marxismus zu einer unumstößlichen Lehre, die unterschlägt, dass der Übergang zum »Verein freier Menschen« (Marx) als dialektischer Prozess zu begreifen wäre, in dem die Menschen sich selbst und ihrer Verhältnisse bewusst werden. Ein Resultat von Stapelfelds Buch ist darin zu sehen, dass vermeintlich ewige Wahrheiten oder historische Universalschlüssel die Kritik der Gesellschaft notwendig desavouieren. Sie münden allesamt in doktrinären Theorien, die ihren Fluchtpunkt im gesellschaftspolitischen Autoritarismus haben. Die Gesellschaftskritik kann aber keineswegs auf Marx verzichten. Sie muss eine Meta-Kritik, eine Reflexion der Kritik im gesellschaftsgeschichtlichen Kontext, leisten. Kritik als einen selbstreflexiven Aufklärungsprozess zu konzipieren, um so eine Aufklärung des »Gesellschaftlich-Unbewußten« (Bd. 1, 15) anzugehen, ist ein zentrales Motiv der Studie. Stapelfeldt entfaltet den Gedanken, dass Dialektik keine bloße theoretische Aufklärung des „Gesellschaftlich-Unbewussten“ sein kann, da der Widerspruch gegen widerspruchsvolle Verhältnisse nur im Kontext einer »revolutionären Praxis« (Marx) Wirklichkeit werden kann: »Die Emanzipation von unterdrückenden Verhältnissen gelingt nur, wenn in diesen Verhältnissen transzendierende, utopisch-vernünftige Potentiale enthalten sind, die durch eine revolutionäre Klasse – ein revolutionäres Subjekt – immanent gegen das Bestehende zur Geltung gebracht werden.« (Bd. 2, 489) In einem gesellschaftskritischen Aufklärungsprozess geht es nicht um Ergebnisse, die als Dogmen zu Fetischen werden können, sondern um den Prozess der Erkenntnis und Kritik. Diese theoretische Einsicht zu leisten und umfangreich zu untermauern, ist angesichts der Theorie- und Hoffnungslosigkeit des neoliberalen Zeitalters eine bedeutende Leistung. Paul Stegemann Gerhard Stapelfeldt, Der Geist des Widerspruchs. Studien zur Dialektik. Dritter Band: Theorie und Praxis, zwei Teilbände, ça ira-Verlag, Freiburg 2021, 1.448 Seiten, € 49,00.