Über Ausbeutung und Rassismus

Einwände gegen einen Trend in der antirassistischen Theoriebildung 

Im Klappentext des Sammelbands Die Diversität der Ausbeutung heißt es, dass »so gut wie nicht« diskutiert würde, »wie Klasse und Rasse« zusammenhängen, was sich leicht als Anbiederung an einen linken Dauerbrenner missverstehen lässt.Vgl. Eleonora Roldán Mendívil/Bafta Sarbo (Hrsg.), Die Diversität der Ausbeutung, Berlin 2023. Selbstverständlich ist die Frage nach dem Zusammenhang zwischen beiden ausführlich diskutiert worden. Ausgang und Ergebnis der Diskussionen waren jedes Mal ein und dasselbe: Dass das Eine nicht im Anderen aufgeht, dass keine Hierarchie der Kämpfe postuliert werden darf, obwohl die »soziale Frage« irgendwie allgemeiner ist als verschiedene Diskriminierungen, und dass auch ansonsten alles ziemlich verwirrend und multidimensional ist. Deswegen halten es die meisten mit der Intersektionalität, die die Not zur Tugend gemacht hat und allen ihr »Identität« genanntes Selbstverständnis so lassen möchte, wie die Gesellschaft es zusammengepuzzelt hat. Dabei wird impliziert, dass dies konfliktlos möglich sei, ohne dass die »Identität« der einen permanent die der anderen verletzt. Davon ausgenommen sind nur Jüdinnen und Juden, die Antizionismus versichern müssen, bevor sie Unverletzbarkeit fordern dürfen. Auf den ersten Blick sieht es daher so aus, als sei der »materialistische Antirassismus«, den die Herausgeber:innen des Bandes für sich reklamieren, bloß hochtrabender Titel einer weiteren Stellungnahme innerhalb dieses allseits bekannten Geplänkels. 

Auf den zweiten Blick macht es sich eine solche Einschätzung aber zu einfach. Der relative Erfolg des inzwischen in vierter Auflage erschienen Bandes dürfte vielmehr auf ein darin enthaltenes Radikalitätsversprechen zurückzuführen sein, das am deutlichsten in dem zentralen Aufsatz Bafta Sarbo, Rassismus und Gesellschaftliche Produktionsverhältnisse, in: Mendívil/Sarbo, Diversität, 37–63.  der Mitherausgeberin Bafta Sarbo herausgearbeitet wird. Die Autorin »diskutiert« darin die Frage, »wie Klasse und Rasse« zusammenhängen und gibt eine Antwort, die zeigt, dass ihre Frage gesellschaftskritisch gemeint war. Rassismus, lautet das zentrale Theorem des Aufsatzes, sei »eine objektive Gedankenform im Verhältnis von Ausbeutung und Überausbeutung.«Ebd., 44f.Oder, leicht variiert: »Das Prinzip der Rassifizierung ist damit trotz der Nichtexistenz von biologischen Rassen oder klar abgrenzbaren Kulturkreisen nicht willkürlich. Die Zugehörigkeit zu einer rassifizierten Gruppe ist durch die zeitliche und räumliche Verortung bei der Einbindung in die kapitalistische Produktion als Arbeitskräfte bestimmt.« Der Rassismus »ist damit ein soziales Verhältnis zwischen Menschen, die auf unterschiedliche Weise in die Produktion einbezogen und ausgebeutet werden.«Ebd., 58. 

Sarbo zielt also auf einen Begriff von Rassismus, der nicht allein auf der Systematisierung von Erfahrungen beruhen soll. Dabei scheint er zugleich den Vorteil zu haben, diese »Erfahrungen«, um eine soziologische Beschreibung zu ergänzen. Denn dass die weltweite Arbeitsteilung Muster aufweist, die mit rassistisch gesetzten Grenzen zumindest grob korrespondieren, ist schwer zu übersehen. So geht Sarbo über die intersektionalistische These hinaus, nach der »verschiedene Machtverhältnisse« »auf vielfältige Art und Weise miteinander verwoben« seien. Der Intersektionalismus greift aber noch aus weiteren Gründen zu kurz, denn die Vorstellungen davon, wie die rassifizierten Anderen sich zur Arbeit verhalten, gehören bereits zum Rassismus. Diese reichen von der Vorstellung, dass »Fremde« ihrer Natur nach faul seien und zur Arbeit gezwungen werden müssen, bis hin zur konträren Vorstellung, dass sie aufgrund ihrer niedrigeren Ansprüche in der Lage und Willens seien, »uns« die Arbeit zu nehmen. Beide Vorstellungen sind rassistisch, weil sie kollektivierende Urteile über die gesamte Fremdgruppe fällen. Solche Thematisierung der Arbeit entstammt keinem anderen »Machtverhältnis«. Vielmehr ist Rassismus ein Mythos vom gesellschaftlichen Zusammenhang einer Welt, in der Arbeit die dominierende Form der Aneignung von Natur ist. Klassenspezifische Zuschreibungen fällen hingegen individuelle Urteile. Sie unterstellen also beispielsweise allen Nicht-Besitzer:innen von Produktionsmitteln einzeln mangelnde Leistungsbereitschaft, obwohl sie diese kollektiv als Anlage der eigenen »Rasse« oder »Kultur« voraussetzen. 

Parallel zu dieser Individualisierung wird die Klassendifferenz in einem Prozess der Selbstrassifizierung zum Verschwinden gebracht, an dessen Ende ein nationales »Wir« und dessen Gesamtarbeitskraft stehen. Im Gegensatz zum Arbeitsstolz des »Wir« ist Klasse von vorneherein keine im Alltagsbewusstsein als Erfahrung erscheinende Kategorie. Alle Bilder der Klasse, die in ein identitäres Selbstbild übernommen werden können, fordern die Identifikation der Einzelnen mit der Übermacht des kapitalistischen Verwertungsprozesses. Daher klingt es zunächst plausibel, wenn Sarbo in Anlehnung an Stuart Hall argumentiert, dass »das Verhältnis von Ausbeutung und Überausbeutung, das sich im Rassismus als soziales Verhältnis ausdrückt, materiell existiert und real ist, [...] sich in der rassistischen Ideologie nur verzerrt als ein Verhältnis zwischen Rassen oder Kulturen«Ebd., 61. darstellt. So gefasst, muss die Entstehung von Klassenbewusstsein zwingend mit einer antirassistischen Zurückweisung der ideologischen »Verzerrung« des »Verhältnis[ses] von Ausbeutung und Überausbeutung« einhergehen. Aus dieser Zurückweisung einer dem Rassismus gegenüber blinden Einheit aller Ausgebeuteten, verbunden mit dem Versuch, diesen auf etwas zurückzuführen, was nicht bereits selbst rassistisch ist, bezieht der »materialistische Antirassismus« Sarbos sein Versprechen auf Radikalität. Dieses stellt ein Ende der antirassistischen »Sisyphusarbeit«Ebd., 63. in Aussicht. Überausbeutung, die dem Verständnis der Autorin nach auch von den regulär Ausgebeuteten nicht gewollt sein kann, wird von ihr als die Achillesferse ausgemacht, auf die ihr Antirassismus zielt. Diese scheint leichter angreifbar zu sein als das irrationale Gebräu, dass die meisten anderen antirassistischen Theorien vor sich sehen. Im Gegensatz zu diesem lasse sich Überausbeutung konkret angreifen und stellt somit einen single point of failure dar. 

 

Die »Eigendynamik«, oder der Verzerrer und der irrationale Rest 

Allerdings hat diese Ausrichtung auf einen single point of failure einen Preis, der sich am Umgang mit dem Irrationalismus zeigt. Denn selbstverständlich ist den Herausgeber:innen des Bandes bewusst, dass sich Rassismus nicht in Ausbeutung erschöpft. Ausgehend von den Pogromen, die mit der Wiedervereinigung einhergingen und vom deutschen Genozid an den Herero und Nama weist Sarbo ausdrücklich darauf hin, dass es sich bei »rassistischer Gewalt […] für das Kapital […] um eine Zerstörung von Arbeitskraft und damit der wichtigsten Grundlage der Kapitalakkumulation«Ebd., 60. handelt.Die in diesem Zusammenhang verbreitete These, dass sich in den rassistischen Differenzen nicht die Interessen des Kapitals zeigen, sondern die Konkurrenz des Proletariats untereinander, weist Sarbo zurück. Ihre Begründung dafür ist eigenartig, da die Konkurrenz aber tatsächlich keine Erklärung hergibt, gehe ich darauf an dieser Stelle nicht weiter ein. Stattdessen nimmt sie eine »Dialektik von Ausbeutung und Vernichtung« an, die »im Wesentlichen kennzeichnend für rassistische Formationen«Sarbo, Rassismus, 60. sei. Diese Annahme steht allerdings in offenem Gegensatz zu der oben zitierten Bestimmung, denn sie wirft die Frage auf, warum einem materialistischen Rassismusbegriff nur einer der beiden Pole dieser angenommenen Dialektik zugrunde zu legen ist. Daran anschließend stellt sich die Frage nach dem anderen Pol, dem der Vernichtung: Überausbeutung und Vernichtung sind schlicht nicht das Gleiche, was Sarbo auch nicht sagt. Überausbeutung lässt sich zwar so bestimmen, dass sie tendenziell zum Tod der Ausgebeuteten führt, weil sie das zur Reproduktion der Arbeitskraft notwendige Minimum langfristig unterläuft. Nach dieser Bestimmung unterscheidet sich Überausbeutung aber ebenfalls von rassistischer Gewalt, die bewusst und mit subjektivem Hass sowie Aufwand ausgeübt wird. Damit das Verhältnis als Dialektik bezeichnet werden könnte, müsste zudem die Ausbeutung die Vernichtung schon enthalten und, einer inneren Logik nach, das eine in das andere übergehen sowie umgekehrt. 

Sarbo begegnet diesen Problemen mit der Behauptung, »dass Rassismus als eigenständiges und widersprüchliches Phänomen begriffen werden muss, das sich nicht allein aus den Bedürfnissen des Kapitals ableiten lässt, sondern eine Eigendynamik entwickelt.«Ebd. »Eigendynamik« bezeichnet an dieser Stelle eine Entwicklung, die einsetzt, nachdem die Sache von den Bedürfnissen des Kapitals in die Welt gesetzt worden ist. Erkenntnistheoretisch ist diese Lösung aber ein Offenbarungseid, denn ein Begriff hat sich ja auf genau diejenigen Aspekte einer Sache zu beziehen, in denen diese eigenständig ist, gerade weil sie eine Eigendynamik aufweist. Um beim marxschen Vorbild zu bleiben: Ein Begriff des Kapitals lässt sich bilden, weil es als verdinglichte Form gesellschaftlicher Beziehungen erscheint, die ihren eigenen Gesetzen unterliegen. Der Eigendynamik des Kapitals ist eine Verselbständigung des Werts im Tauschwert und im Geld vorausgegangen, die den Zwang zu immer weiterer Akkumulation mit sich bringt. Ein analog dazu gebildeter Begriff des Rassismus hätte also gerade zu bestimmen, wie dieser seine Eigenständigkeit gewinnt. Sarbo will dem marxschen Vorbild zwar folgen, beschränkt ihren Begriff jedoch auf eine Funktion, die die zu begreifende Sache für etwas anderes hat, nämlich für die Kapitalakkumulation. Die Folge davon ist, dass der Vorgang der »Verzerrung« unerörtert bleibt, obwohl das anfängliche Versprechen auf Radikalität eine Antwort auf die Frage verlangt, »wie aus dieser ökonomischen Differenz, der Überausbeutung der kolonialen Arbeitskraft, die rassistische Ideologie entsteht.«Ebd., 47.  Einen tatsächlichen Entstehungsprozess zeigt sie aber nicht. Der so angekündigte Abschnitt »Rassismus als Ideologie« beschreibt nur die Effekte, die die bereits verzerrte »Ideologie« hat. Dabei wird betont, dass »Rasse, eine von Menschen geschaffene Kategorie und ökonomisch produzierte Differenz, als natürliche Differenz«Ebd., 48. erscheint. Allerdings ist der Hinweis auf die Naturalisierung kein Nachweis dafür, dass die naturalisierte Differenz durch eine Verzerrung der ökonomischen Differenz entstanden ist. Ganz im Gegenteil: Weil Natur zumindest in diesem Zusammenhang als Synonym für »ungeworden« und »unveränderbar« gilt, ist damit lediglich gesagt, dass es sich um eine fetischistische Form oder eben »objektive Gedankenform« handeln könnte, weil der dinglichen Erscheinung ihr Wesen nicht mehr anzusehen ist. 

Zum Nachweis, dass es sich bei »Rasse« tatsächlich um etwas »ähnlich dem Geldfetisch«Ebd. handelt, fehlen zwei entscheidende Punkte: Erstens kann nicht vorausgesetzt werden, dass einer unklaren Genese ein Fetischismus zugrunde liegt. Vielmehr könnten die Unklarheiten genauso subjektiven bzw. psychologischen Abwehrmechanismen geschuldet sein, die die für den angenommenen Fetisch bedeutenden Zusammenhänge weiter im Unbewussten halten. Im Fall des Rassismus spricht viel dafür, dass dies der Fall ist, denn im Unterschied zum Geldfetisch sind rassistische Zuschreibungen nicht nur inhaltlich vielfältiger, sondern ihre Intensität verteilt sich zudem unterschiedlich auf die jeweiligen Gesellschaftsmitglieder. Niemand kann sich durch nicht-rassistisches Denken der Teilhabe an der rassistischen Ordnung entziehen. Versuche, das Denken und Handeln in rassistischen Kategorien zu verlernen, resultieren jedoch nicht zwangsläufig in der gleichen Sorte von Realitätsverlust, welche durch den Versuch entstünde, die subjektive Anerkennung des Waren- oder Geldfetischs zu verlernen. Das ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass Rassismus doch keine objektive Gedankenform ist. 

Zweitens müsste nachgewiesen werden, dass dem Fetisch genau das behauptete Verhältnis zugrunde liegt und kein anderes. Beim Geldfetisch ist das recht einfach, denn der steht unbezweifelbar in einem Bezug zur Wertform, weil das Geld selbst etwas wert ist und eine überschaubare Menge an Eigenschaften hat, die allesamt auf Funktionen im ökonomischen Verkehr zurückzuführen sind. »Rasse« oder »Kultur« beinhalten hingegen neben Vorstellungen von der Arbeitsmoral und -fähigkeit der Rassifizierten solche von deren Sexualität. Weiterhin behaupten Rassist:innen die Konstanz von »Rasse« und »Kultur« bevorzugt mittels einer Vererbungslehre und nicht in Form einer ökonomischen Theorie. Daher ließe sich mit mindestens gleichem Recht behaupten, dass »Rasse« und »Kultur« Fetische der Sexualität oder des Geschlechterverhältnisses sind. Zugunsten derjenigen postmodernen Rassismustheorien, die auf Foucaults Verständnis von Biopolitik basieren, muss in diesem Zusammenhang zumindest bemerkt werden, dass sie bemüht sind, all diese Aspekte des rassistischen Denkens zu berücksichtigen. Hinter das Verständnis Foucaults zurückzufallen, ist schlicht reduktionistisch. In dieser Hinsicht sitzen »materialistischer« und intersektionaler Antirassismus in einem Boot: Beide können den Zusammenhang, den der Begriff der Biopolitik herstellt, nicht darstellen. So kommt es zu den verschiedenen »Identitäten«, die einander bloß überschneiden sollen, ohne sich jedoch gegenseitig zu verletzten. 

 

Die Definition der Überausbeutung 

Die Frage, ob es möglich ist, die beiden fehlenden Punkte nachzuliefern, verlangt einen Blick auf den ökonomischen Kern der These, von dem angeblich »realen« »Verhältnis von Ausbeutung und Überausbeutung«. Der »materialistische Antirassismus« hält das Verhältnis einerseits für eins zwischen qualitativ Verschiedenen, wobei die Differenz andererseits nur durch quantitative Variation entsteht. Das »über« im Terminus Überausbeutung soll anzeigen, dass es sich um ein »mehr vom Gleichen«, nämlich der Ausbeutung, handelt. Damit ginge Ausbeutung über sich selbst hinaus. Die Definition dazu lautet: Überausbeutung »wird erreicht, indem entweder ein im Verhältnis zum gesellschaftlichen Durchschnitt oder zur gesellschaftlich ausgehandelten Untergrenze geringerer Lohn gezahlt wird oder die Arbeitszeit über die Schranken des Normalarbeitstags hinaus verlängert wird«.Ebd., 44. Gemessen an dieser Definition ist die reduktionistische Variante, nach der das Verhältnis Ausbeutung-Überausbeutung die alleinige materielle Grundlage des Rassismus ist, eigentlich schon aus dem Spiel. Wie auch immer es sich in einzelnen historischen Konstellationen gestaltet, existiert das Verhältnis, so definiert, nur, weil die Lohnhöhen und die Arbeitszeiten zweier Gruppen miteinander verglichen worden sind, um eine Erkenntnis zu gewinnen und die Differenz zu kritisieren. Verglichen mit dem Verhältnis von Arbeit und Kapital, dem Realität zukommt, weil Charaktermasken beider Seiten Rechte und Pflichten im Arbeitsprozess besitzen, nachdem sie Arbeitskraft gegen Geld und umgekehrt getauscht haben, kommt dem Verhältnis von Ausbeutung und Überausbeutung keine Realität zu. Es gibt keine gesellschaftliche Form, in der sich Ausgebeutete in ihrer Praxis auf Überausgebeutete beziehen. 

Die Beziehung, die zwischen diesen beiden empirisch konstruierten Gruppen trotzdem bestehen kann, muss daher anderer Art sein. Die Wissenschaft kennt von der Außenhandelsbilanz bis zur Geburtenrate jede Menge solcher Verhältnisse. Diese Verhältnisse sind dann allerdings nicht aktiv vermittelnd, sondern passiv durch die Totalität vermittelt. Ausbeutung und Überausbeutung können mit dieser Feststellung höchstens noch Teilmomente eines größeren Zusammenhangs sein. In den Begriff eines solchen Zusammenhangs müssen dann aber alle diejenigen aktiv vermittelnden Formen eingehen, die die Ausgebeuteten und die Überausgebeuteten in ein nicht nur empirisch konstruiertes Verhältnis setzen. Das bedeutet aber, dass der single point of failure keiner ist. 

Bei genauerer Betrachtung fällt allerdings an der von Sarbo vorgebrachten Definition auf, dass sich sogar eine solche mit zu berücksichtigende Form aktiver Vermittlung in ihr verbirgt: Es handelt sich hierbei um die ausgehandelte Untergrenze des Lohns, die mit dem Tarifvertrag tatsächlich eine aktive Form inklusive den zu »Tarifpartnern« harmonisierten Charaktermasken enthält. Allerdings kommt diese Form als Erklärung erst für die Varianten des Rassismus ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in Betracht, da sie zuvor nicht existiert hat. Entweder waren die Arbeiter:innen gar nicht organisiert oder ihre Vereinigungen waren verboten. Ihre Entstehung fällt in das zweite Drittel des 19. Jahrhunderts: In Großbritannien kommt es 1872, in Frankreich 1884 und in Deutschland 1897 zu ihrer Legalisierung. Trotzdem kommen Tarifaushandlungen als Erklärung nicht in Frage, weil jedem Ausschluss vom Aushandlungsprozess bzw. vom ausgehandelten Tarifvertrag bereits die »verzerrte« Differenz zugrunde liegen muss, und nicht die ökonomisch reale, die verzerrt auftritt. Wäre es anders, müsste das Recht nach ökonomischen Kriterien zwischen Ausgebeuteten und Überausgebeuteten diskriminieren und nicht nach Nationalstaatsgrenzen, Staatsangehörigkeit oder Aufenthaltsstatus. 

Für die Erklärung des Rassismus der Epochen davor bleibt Sarbo von vornherein nur »das Verhältnis zum Durchschnitt«, dessen Existenz und Höhe nicht ausgehandelt und dann fixiert wurde. Dieser variiert nach (Arbeits-)Marktlage, ist ohne empirische Forschung unbekannt und wird allein schon deshalb unterlaufen, weil in jede Durchschnittsbildung auch unterdurchschnittliche Werte eingehen. Dass die qualitativen Differenzen im Rassismus die Verzerrung solcher fließenden quantitativen Differenzen sind, ist daher fragwürdig. Zumal die rassistischen Phantasien hierzu ja eine ständige Bevorteilung der »Überausgebeuteten« wittern und auf Ungleichbehandlung zielen. So drücken sie den Wunsch nach einer eindeutigen Grenze zwischen »wir« und »die« aus, die es aber gerade nicht gibt. 

Woher dieser Wunsch kommt, wird offenbar, wenn zusätzlich der marxsche Begriff der Ausbeutung betrachtet wird. Ausbeutung besteht – auch laut Sarbo – darin, dass »der Lohn, den die Arbeiter:innen ausbezahlt bekommen, an dem, was durchschnittlich zur Reproduktion der Arbeitskraft nötig ist, [bemessen ist], und nicht an dem Wert, der von den Arbeiter:innen produziert wird.«Ebd. Ausbeutung, der Grund für die Existenz von Kapital, ist also die Aneignung dieser Mehrwert genannten Differenz. Das »durchschnittlich« bezieht sich nicht auf die Lohnhöhe, sondern auf den Wert, der zur Reproduktion der Arbeitskraft benötigten Waren. Der Wert der Ware Arbeitskraft basiert nicht auf einem Aushandlungsprozess, sondern ist vor allem von der Produktivität des Kapitals bestimmt, das die zur Reproduktion nötigen Waren produziert. Der Lohn muss an diesem Wert »bemessen« werden, weil sich seine Empfänger:innen nicht ernähren können, wenn er dauerhaft darunter liegt. Wenn dieser Begriff von Ausbeutung als gültig erachtet wird, kann die kontinuierlich gewachsene Weltbevölkerung, von der ein enorm hoher Anteil im Verlauf der Geschichte fremdrassifiziert worden ist und noch immer wird, nicht permanent überausgebeutet worden sein. Sarbos Rassismusbegriff fordert aber, dass Überausbeutung »keinen Ausnahmezustand [bezeichnet], sondern ein Verhältnis, das einen Grundpfeiler der kapitalistischen Akkumulation darstellt«Ebd., 43.. Es lässt sich zwar argumentieren, dass Gleichgültigkeit gegenüber Leben und Tod von Fremdrassifizierten dem Rassismus immanent ist. Diese potenziell qualitative Differenz nützt der Akkumulation aber nicht zu höheren Profiten. Spätestens die Verwirklichung der Gleichgültigkeit zerstört Arbeitskraft und erfüllt damit das Kriterium, mit dem bei Sarbo die »Eigendynamik« des Rassismus ansetzt. Ein deutlicher Hinweis darauf, dass diese nicht vom materialistischen Begriff abgespalten werden darf. Wenn die Dynamik des Rassismus Kapitalinteressen widerspricht, und dies nicht auf Interessen zurückgeführt werden kann, die das Proletariat durchgesetzt hat, muss bei der Bildung des Begriffs die Irrationalität beider Seiten berücksichtigt und deren Quelle bestimmt werden. 

Noch deutlicher wird das Problem bei dem Versuch, das Verhältnis von Ausbeutung und Überausbeutung im Fall der SklavereiIm Folgenden geht es um Sklaverei im Kapitalismus, also bei gleichzeitiger Existenz freier Lohnarbeit. Historisch frühere Sklavenhaltergesellschaften sind anders zu verhandeln.zu ermitteln. Dieser bietet sich einerseits an, weil Sarbo ihrem Aufsatz das Zitat »Sklaverei kommt nicht von Rassismus, Rassismus kommt von Sklaverei« von Eric Williams vorangestellt hat und andererseits, weil sich an ihm deutlich zeigt, dass der Rassismus eine Rolle im ökonomischen Prozess spielt. Allerdings fällt die Sklaverei vollständig in die Epoche des Kapitalismus, in der die Löhne des gerade entstehenden Proletariats – von allen Seiten unbestritten – gerade zum Überleben gereicht haben. Selbstverständlich hatten versklavte Arbeiter:innen genau die gleichen Reproduktionsbedürfnisse wie Lohnarbeiter:innen. Dem Kapital ist es unter quantitativen Gesichtspunkten einerlei, in welcher Form es den Wert der zur Reproduktion der Arbeitskraft nötigen Waren liefert. Daher ist hier der Formunterschied, der die Sklaverei zu einem eigenständigen Skandal gemacht hat, das Entscheidende: Die Versklavten sind nicht schlechter entlohnt worden, sondern gar nicht, weil sie als unselbständiger Besitz versorgt worden sind. Daher ist anzunehmen, dass die im Sklavereirassismus fixierten »Rassenmerkmale« auf diese im Sinn einer materialistischen Formkritik tatsächlich reale Differenz bezogen sind. Zumal ein großer Teil der zugehörigen Mythologie die Aberkennung der Fähigkeit legitimiert hat, als freies und selbständig diszipliniertes Subjekt der eigenen Arbeitskraft zu fungieren. Darin besteht die Nähe des Sklavereirassismus zum Kolonialrassismus, mit dem die Kolonisator:innen ihre zivilisatorische Mission begründet haben, den Undisziplinierten die Einsicht in die Natur der Arbeit einzupeitschen. Weil es dabei nicht um die Ausbeutung der Arbeitskraft ging, sondern grundlegender um Bildung und Formung ausbeutbarer Arbeitskraft, erklärt sich so auch, warum im Rassismus Vorstellungen von Arbeit mit solchen von Sexualität vermischt erscheinen: In den Ursprungsmythen vom noch zu bildenden Subjekt gehen beide undifferenziert ineinander über.In der psychischen Genese der je individuellen Subjekte gibt es zunächst weder das eine noch das andere, und ein Ursprung von beidem begründet sich erst nachträglich, was ein verwandtes, aber anderes Thema ist. 

Sarbo erwähnt diverse Aspekte dieses Prozesses zwar,Sarbo, Rassismus, 41 ff. behandelt diese jedoch wie nebensächliche Illustrationen der für sie zentralen Differenz von Ausbeutung und Überausbeutung. Damit verfehlt sie, dass gerade diese Differenz eher imaginär als real ist. Die Differenz wird sowohl von der Seite des Kapitals als auch seitens der Arbeit gewünscht und in Anspruch genommen, was die Geschichte des Rassismus der USA bis zum Bürgerkrieg belegt. Den Sklavenhalter:innen erschien die Sklavenarbeit besonders profitabel, weil die imaginierte Differenz ihre real vorhandene Kontrolle über die Versklavten hypostasierte. Den der Sklaverei spezifischen Formen der Leistungsverweigerung, die möglich waren, weil kein Lohnverlust befürchtet werden musste, glaubten die Sklavenhalter:innen, mit brutaler körperlicher Zucht begegnen zu können. Die dabei zugefügten Verletzungen haben aber die Leistungsfähigkeit ihres Besitzes zusätzlich eingeschränkt und so dessen Fähigkeit zur Mehrarbeit über den gleichbleibenden Wert hinaus gesenkt. In diesem Konflikt entstand die rassistische Phantasie, nach der die Versklavten natürlich gegebene, reine und daher unverwüstliche Arbeitskraft verkörpern, deren Arbeit auch keiner Subjektivität bedarf. Im gleichen Atemzug haben sich die Sklavenhalter:innen die Notwendigkeit der Versorgung der Versklavten als patriarchale Gutmütigkeit und Zeichen überlegener Zivilisiertheit zugutegehalten. Die noch nicht zu Weißen homogenisierten, aus Europa eingewanderten Proletarier:innen skandalisierten wiederum, dass die Versklavten aufgrund der Versorgungssicherheit besser gestellt seien als sie selbst, obwohl sie nicht zu den Zivilisierten zu zählen seien. So propagierte ein Teil der Proletarier:innen die Abschaffung der Sklaverei, aber nur um – nicht minder vergiftet paternalistisch wie ihre »Klassenfeinde« – die Rückführung aller frei gelassenen Versklavten nach Afrika zu fordern. Die rassistische Begründung für die Forderung lautete, dass diese als doppelt freie Lohnarbeiter:innen in Amerika nicht überlebensfähig seien. 

Bereits diese elementaren Bestandteile der Eigendynamik des Rassismus sind also von irrationalen, weil imaginären Bildungen durchzogen. Auch waren sie bereits zum Zeitpunkt ihrer Entstehung, wenn auch verschieden motiviert, auf beiden Seiten des Klassenverhältnisses vorhanden. Was auch bei Sarbos zweitem Beispiel, dem deutschen Rassismus gegen Arbeitsmigrant:innen nach dem Zweiten Weltkrieg, so bleibt. Zwar scheint der Begriff der Überausbeutung hier zunächst naheliegender, weil es mittlerweile ausgehandelte Lohngruppen gab und die sogenannten »Gastarbeiter:innen« sich auf unterdurchschnittlichem Niveau reproduzieren mussten. Allerdings sahen die Anwerbeabkommen mit den Herkunftsstaaten für Arbeitsmigrant:innen die gleichen Tarifverträge wie für die Angehörigen der ortsansässigen postfaschistischen »Herrenrasse« vor. Und obwohl die in den Abkommen festgeschriebene Gleichheit auf den politischen Druck der Gewerkschaften hin zustande gekommen ist, und obwohl sich in der Praxis sicherlich viele Möglichkeiten fanden, die Bestimmungen zu umgehen, lassen sich diese nicht zum Kern des Rassismus machen. Die Kapitalverbände sahen die »Gastarbeiter:innen« trotz Tariflöhnen als günstige Arbeitskraft an, weil die Erziehungs- und Ausbildungskosten in den Herkunftsländern angefallen waren. Zudem wurde zunächst erwartet, dass auch die Altersversorgung den Herkunftsländern zufiele, da die »Gastarbeit« wieder verschwinden sollte, sobald der gastgebende »Volkskörper« den all das motivierenden Arbeitskräftemangel behoben hätte. Wie bei der Sklaverei stand auch hier die Vorstellung von der Subjektlosigkeit der Anderen im Mittelpunkt des Rassismus. Allerdings hatte dieser sich mittlerweile so gewandelt, dass sich nicht mehr die individuelle Arbeitskraft imaginär abgrenzt, sondern die gesellschaftliche Gesamtarbeitskraft, die sich im Autoritären Staat selbstrassifiziert hat. 

Zudem erfolgte die damalige Arbeitsmigration, den allgemeinen kapitalistischen Arbeitszwang einmal gesetzt, freiwillig. Den Migrant:innen, die dem Überausbeutungstheorem zufolge in ihren Herkunftsländern zumindest dann Ausgebeutete gewesen sein müssen, wenn es sich bei diesen Ländern um ehemalige europäische Kolonialstaaten handelte, dürfte ihre »Überausbeutung« in Deutschland verhältnismäßig attraktiv erschienen sein, ansonsten hätten sie sich nicht auf den Weg gemacht. Hieran zeigt sich zweierlei: Erstens sind die rassifiziert erscheinenden Hierarchien solche des Arbeitsprozesses, in die der Verwertungsprozess nur allgemein hineinspielt. Das Kapital versucht, z.B. wenn es Fachkräftemangel beklagt, sich fehlende Arbeitskraft der sachlichen Gestalt ihrer Produktionsmittel gemäß zu beschaffen. Zweitens muss das Kapitel gegen den Rassismus, der zu diesem historischen Zeitpunkt bereits hochgradig institutionalisierten Reproduktion der Gesamtarbeitskraft in nationaler Form vorgehen, um den Import von Arbeitskraft durchzusetzen. Ein Großteil der rassistischen Eigendynamik dieser Epoche lag bei Institutionen, die die »Gastarbeit« als dem »Volkskörper« fremde Elemente abwehren wollten. In diesem Konflikt erscheint das Kapital auch heute noch gelegentlich als antirassistische Kraft. Und zwar immer dann, wenn versucht wird, dessen irrationalen Voraussetzungen inklusive der Bereitschaft der Massen, als Arbeitskraft zu fungieren, mit den Anforderungen der technischen Rationalität der Produktivkräfte in Übereinstimmung zu bringen. Dabei handelt es sich um einen Anspruch auf Verfügung und Identität, der grundsätzlich von rassistischen Vorstellungen durchzogen ist. Rassismus hat also ökonomisch funktionale Aspekte. Aber selbst unter diesen Aspekten ist die Höhe des potenziellen Mehrwerts bloß die wichtigste Nebensache der Welt. Die Hauptsache des Rassismus unter ökonomischen Gesichtspunkten ist hingegen sein Beitrag zur Disziplinierung der Individuen zu Träger:innen von Arbeitskraft. Der Rassismus war aber schon immer umfassender als alle seine ökonomischen Aspekte: In der gegenwärtigen Erscheinungsform als Krisenrassismus hat er neue Elemente entwickelt, die nicht mehr der ökonomischen Verwertung des Arbeitskräftereservoir nutzen, sondern dessen Entwertung bannen sollen. Dies lässt sich bestens anhand der Phantasien demonstrieren, nach denen »wir« uns den Wohlstand nicht mehr leisten können, weswegen »wir« auch keine Arbeit abzugeben haben. Heutige Rassist:innen fordern den Ausschluss der rassifizierten Anderen von der Arbeit, die sie als ihren Besitz verteidigen. Das heißt zwar noch lange nicht, dass sie zufrieden wären, wenn der Beitrag dieser Anderen zur Reproduktion des Kapitals, mit dem sie identifiziert sind, tatsächlich wegfiele. Allerdings wollen Rassist:innen, insbesondere wenn sie neurechts für »Identität« und »Souveränität« schwärmen, die Formen ihrer Abhängigkeit vom Kapital und damit auch von dessen anderen Arbeitskräften nicht mehr wahrhaben. So treten die Elemente, die die Funktion der Arbeit für das Kapital legitimieren und/oder heroisieren, in den Hintergrund. Der Rassismus geht von einem Mythos des gesellschaftlichen Zusammenhangs einer Welt, in der Arbeit die dominierende Form der Aneignung von Natur ist, über in einen Mythos, in dem Arbeit wie jede andere Form gesellschaftlicher Vermittlung Kultur sein soll, die wie Natur unmittelbar ist. 

 

JustIn Monday 

Der Autor lebt und schreibt in Hamburg.