Die shallow shopping mall und ihr Zentralbegriff

Richard Schuberth präsentiert mit seinem identitätspolitischen Lesebuch eine Zusammenschau seiner Texte aus über 25 Jahren schreibender Dekonstruktion zu Gender, Sexualität, Männlichkeit, Nation, Rassismus und noch vielem mehr. Der Begriff der Identität wird dem Autor zur Klammer, die das Konvolut disparater und teils weit auseinanderliegender Arbeiten zusammenhält. Dabei ist das Buch ursprünglich aus dem Versuch entstanden, etwas substanziell Neues zum Identitätsbegriff zu schreiben: Ein Begriff, dessen schillernde Karriere bereits vor der Erstveröffentlichung der versammelten Texte begann und der heute zum überall anzutreffenden linksliberalen Gemeinplatz geworden ist. Wie Schuberth in seinem »Intimen Vorwort« preisgibt, fiel ihm nach mehrmaligen vergeblichen Anläufen allerdings auf, dass er bereits seit langem zum Begriff geschrieben hatte. Die einzelnen Analysen brauchten nur in der Sammlung zusammengestellt werden, die nun mit Die Welt als guter Wille und schlechte Vorstellung. Ein identitätspolitisches Lesebuch im Drava-Verlag vorliegt.  

Im besten Sinne handelt es sich um ein Best of Schuberth. Die Sammlung umfasst Ausschnitte aus der vor über 25 Jahren geschriebenen Diplomarbeit, Artikel, Essays und Aphorismen, außerdem Manuskripte von Radiosendung. Zudem werden die thematisch geordneten Abschnitte von Cartoons und Collagen unterbrochen. Dabei eignet sich das Lesebuch für alle, die sich nicht allein von den Auswüchsen identitärer Phänomene in Öffentlichkeit, Politik und Alltag abgestoßen fühlen, sondern an einer streng dialektischen Dekonstruktion derselben festhalten möchten. Von Schuberth lässt sich lernen, wie man es hinbekommt, im Dickicht der Empirie den Sinn für Kritik und Leid nicht zu verlieren. Denn bei aller Polemik gegen die Sprachregelungen der jeweiligen linken Gemeinde verliert der Autor zu keinem Zeitpunkt das Leid derjenigen aus dem Blick, in deren Namen Identitätspolitiken auf den Plan treten. Allerdings tun sie das, in einer Abwandlung des Titels von Schopenhauers Hauptwerk, mit gutem Willen und schlechter Vorstellung. 

Immer und immer wieder differenziert Schuberth auf unterschiedliche wie ungewöhnliche Weise das identitäre Phänomen auseinander. Dabei zieht sich etwas durch die Beiträge, dass als die Schuberth’sche Volte bezeichnet werden kann: Am Anfang steht die Erwartungshaltung, dass die fade Identitätspolitik gleich in die wohlverdiente Tonne getreten werde. Dabei legt der Autor geschickt Spuren aus, begonnen beim Titel, und die Umrisse des jeweiligen Gegenstands werden in etwas abgegrabbelten Umschreibungen wiedergegeben, wie sie bei ideologiekritischen und konservativen Autor:innen von Bahamas bis FAZ inzwischen Usus sind. Die Volte besteht darin, dass Schuberth die aufgebaute Erwartung im weiteren Fortgang jedoch bewusst enttäuscht und eben nicht vernichtende Polemik übt. Stattdessen wendet sich die Kritik in einem dialektischen Schachzug auch den Kritiker:innen der Identitätspolitik und deren im- wie expliziten Plädoyer für das Bestehende zu. Leser:innen, die schon vor der Lektüre des Buches zu wissen glauben, was vom »Identitätsquatsch« zu halten ist, dürfte also das Lachen im Halse stecken bleiben. 

Das Lesebuch endet mit der Preisrede Was bedeutet Widerstand vom Herbst 2021. Wie in einem Epilog zieht der Autor darin die Motive zusammen: Der Materialismus hält den Individualismus in Schach wie auch umgekehrt, und heraus springt die Schuberth’sche Volte. Hier lässt sich nachlesen, welches Credo das identitätspolitische Lesebuch zusammenhält: »Nonkonformität […] legitimiert sich nur durch ihre geistige Begründung. Doch nichts verzeihen die Mitbarbaren, die linken wie rechten, weniger als eine Radikalität, die nicht nur sexy Pose ist, sondern weiß, was sie tut, und sie in jeder ihrer Nuancen zu begründen weiß.« (450f.) Weil identitäres Denken inzwischen ebenso ubiquitär geworden ist wie die Vereinzelung in der Gruppenidentität der shallow shopping mall des Kapitalismus, mag die Aufforderung zur geistigen Reflexion beinahe antiquiert klingen, notwendig bleibt sie trotzdem.  

Der rote Faden des Bandes ist auch bei nichtchronologischer Lektüre erkennbar, insofern trifft die Bezeichnung »Lesebuch« zu. Natürlich sind viele behandelte Gegenstände und Anlässe schon gealtert: So künden manche Texte von fernen Bereichen und Auseinandersetzungen, sei es geographisch, politisch oder historisch. Lesenswert bleibt die Sammlung aber nicht allein ihrer Konsistenz, ihres Witzes und ihrer Wortgewalt wegen, sondern auch, weil sie Einblicke gibt in die nahezu vergessene Handwerkskunst gut gearbeiteter Kritik.  

Felix Hempe 
 

Richard Schuberth, Die Welt als guter Wille und schlechte Vorstellung. Ein identitätspolitisches Lesebuch, Drava Verlag, Klagenfurt 2022, 452 S., € 21,00.