Im 19. und 20. Jahrhundert erreichte der Begriff Materialismus Bewusstsein und Praxis von Millionen Menschen. Er war mit der spezifischen Lösung eines politischen Problems verbunden: Die Unfähigkeit der modernen Gesellschaften, sich selbst zu verstehen und sich wirklich nach universalistischen Vorstellungen auszurichten, sollte nicht mehr einfach nur moralisch beklagt, sondern ihre Ursachen beseitigt werden. Es gab offensichtlich etwas, das den Menschen beim Versuch, ihre Geschichte selbst zu machen, geradezu gegenständlich im Weg war, wie eine Barriere. Und selbst wer nicht zu sagen vermochte, was dieses Etwas ganz genau sein sollte, konnte sich doch auf die politische Forderung einigen, dass es gelte, ihm auf den Grund zu gehen.
Weil dieses Etwas offenbar eine Macht darüber hatte, die Verwirklichung von philosophischen Ideen zu verhindern oder sogar ihre Entstehung zu beeinflussen, berief man sich auf die Begriffswelt des Materialismus. Die eigenständige Wirksamkeit desjenigen Objekts sollte zum Ausdruck gebracht werden, das außerhalb der unmittelbaren Verfügungsgewalt der Subjekte lag, obwohl es aus nichts als ihrem eigenen Tun hervorging. Irreführend war dabei höchstens, dass es sich bei diesem Objekt nicht um mit Händen greifbare Gegenstände handelte; nicht um Werkzeug, Ackerland oder Fabrikhallen, sondern um gänzlich Immaterielles wie Arbeits-, Kapital- und Machtverhältnisse. Der Überzeugungskraft des Materialismus tat dies aber zunächst keinen Abbruch.
Erst als die revolutionären Wellen, die mit dem Begriff verbunden waren, abebbten, zeigten sich auch deutlich Risse in der materialistischen Logik. Der marxistisch geprägte Materialismus ist zwar auch heute noch ein wichtiger Baustein für kritische Gesellschaftsanalysen. Neben seine Tradition hat in den Kultur- und Sozialwissenschaften aber auch ein Neuer Materialismus Einzug gehalten, der dem Anspruch nach eine gänzlich neue Bestimmung des Subjekt-Objekt-Verhältnisses, des Verhältnisses der Menschen zu ihrer unbelebten Umwelt vornimmt und gleichzeitig dennoch das Erbe der klassischen Begriffswelt antritt.
Trotz oder sogar wegen des deutlich gestiegenen Interesses an materialistischer Theorie, das in jüngster Zeit von der scheinbar unerbittlichen Realität der Finanzkrisen und dem Wiedereinbrechen der Natur in unsere ökonomischen Kalkulationen angefacht wurde, befinden wir uns aber in einer Situation, in der das verfügbare Theorieangebot mit der Reichweite der Fragen nicht immer mithalten kann. Treibt die Gesellschaft wirklich auf einen metabolic rift zu, also auf ein Zerbrechen der materiellen Stoffwechselketten zwischen Natur und Menschheit? Wie kann eine ökologische und soziale Alternative aussehen, wenn nicht nur die Natur, sondern auch die eigentümliche Dynamik der zwischenmenschlichen Verhältnisse als materielle Gewalt begriffen werden? Warum steuert die Politik, gemessen an den Richtwerten der Wissenschaften, nicht gegen den Klimawandel an und priorisiert stattdessen mit schlafwandlerischer Präzision die Interessen von großen Industrien? Müsste angesichts dieser Gemengelage nicht das Verhältnis von politischem Subjekt und Materialität grundsätzlich neu gedacht werden?
In den Fragen der Klimabewegung geht es entsprechend nicht nur um Ökologie, sondern um eine Kritik der politischen Bearbeitung der Klimakrise. Zugleich vermengen sich darin verschiedene und in manchen Hinsichten gegensätzliche Bedeutungen des Begriffs vom Materialismus. Die jüngsten Ansätze eines New Materialism haben wenig gemein mit dem Materialismus einer Kritik der Politischen Ökonomie und doch sind sie Bearbeitungen eines geteilten Problems: Der Wirksamkeit von Mechanismen, die außerhalb der unmittelbaren Reichweite des gesellschaftlichen Gestaltungswillens liegen.
Erkenntnistheorie als Angelpunkt
Dieses Problem beginnt ganz grundlegend, auf der Ebene der Epistemologie: Also mit der Frage, welchen Anspruch auf Wahrheit Behauptungen über Wirklichkeiten haben. Die Methoden der Klimawissenschaft etwa können zwar mit immer größerer Präzision die verschiedenen Entwicklungsszenarien der Temperaturen und ihrer Folgen voraussagen sowie genaue Angaben zu planetaren Belastungsgrenzen angeben, jenseits derer sich das globale Gleichgewicht stark verschiebt. Nur fehlt es leider an einer geeigneten Macht- oder Kommunikationsstruktur, mithilfe derer diese Grenzen in gesellschaftspolitische Positionen übersetzt werden können. Der Klimawandel hat im globalen Norden und Westen bisher noch vergleichsweise geringe materielle Folgen. Beobachter:innen müssen auch deshalb feststellen, dass erreichbare Öffentlichkeiten und mobilisierbare Mehrheiten ganz offenbar gewillt sind, die mit dem Klimawandel verbundenen Risiken mehr oder minder bewusst einzugehen.
Die Form, in der kritische Theorien der Gesellschaft ihre Sätze bilden – sprich der Diskurs, vor dessen Hintergrund Kritik ihre Wahrheit und Wirkung erlangen will –, muss diesem Umstand Rechnung tragen. Die Strategie, gesellschaftliche Widersprüche sichtbar zu machen, kann nicht (mehr) darauf vertrauen, dass von dieser Sichtbarkeit eine unmittelbare positive Wirkung ausgeht. Theorien über die Strukturen und den Wandel von Gesellschaften sind genau deshalb auch so wichtig für die Formulierung von politischen Forderungen und der Bewertung ihres Erfolgs, weil sich normative Bestimmungen und materiale Erwartungshaltungen nicht einfach objektiv an einem äußeren Gegenstand messen lassen. Eine politische Forderung kann nur dann Auskunft über ihre Richtigkeit geben, wenn sie über einen dafür geeigneten Maßstab verfügt – während auch dieser Maßstab wiederum Auskunft über seine Wahrheit geben muss. Kurz gesagt: Wer den Klimawandel skandalös findet, kann nicht darauf vertrauen, dass andere das auch tun.
Ein unendlicher Zirkel? Nicht unbedingt. Der Versuch, einen solchen Maßstab wissenschaftlich zu definieren ist zwar oft gescheitert, aber muss es nicht notwendigerweise. Sicher ist, dass die Auseinandersetzungen um das Klima das Ringen um einen solchen handfesten Maßstab wieder stärker in den Vordergrund gerückt haben. Politische Diskurse, die zuvor noch in Begründungsschwierigkeiten steckten, scheinen durch den Klimawandel plötzlich wieder einen festen Boden unter den Füßen zu bekommen: Wenn es nur eine begrenzte Menge an fossilen Brennstoffen und Kapazitäten zur Senkung des CO2-Gehalts gibt, dann kann das besonders im Westen eingeübte Modell, Kämpfe um soziale Ungleichheit mit der Zurverfügungstellung von billiger Energie sowie aufwändiger Fertigprodukte und Dienstleistungen (wie große neue Automobile und globale Flugmobilität) zu befrieden, offenbar nicht mehr funktionieren.
Vielen Menschen scheint dieser Zustand mehr oder weniger deutlich vor Augen zu stehen, daher wächst ihr Interesse an Begriffen, die dessen materiellen Gehalt auf den Punkt bringen können. Die Situation ist in dieser Hinsicht vergleichbar mit der Finanzkrise ab 2008, während der ebenfalls ein gesteigertes Interesse an materialistischen Gesellschafstheorien zu verzeichnen war. Um an dieses Interesse aber im Sinne einer radikalen politischen Kritik anzuschließen, muss das darin nur implizit angedeutete Verhältnis von Wahrheit, Wissenschaft, Natur und Kritik explizit und transparent gemacht werden. Auf welche Wahrheits- und Wissenschaftsbegriffe kann man sich in diesem Feld beziehen? Welche Verbindungen lassen sich zwischen Natur und der Kritik an Naturverhältnissen aufbauen? Ich möchte aus diesem sehr breiten Feld zwei Positionen herausgreifen: den Ökosozialismus in seiner radikaldemokratischen Formulierung und bestimmte Perspektiven aus den neuen Materialismen. Beide Positionen haben den Vorteil, dass sie nicht nur Umweltfragen und Biokapitalismen an sich diskutieren, sondern dies auch mit einer Debatte um politische Epistemologie verknüpfen.
Ökosozialismus und die Ent-Epistemologisierung der Kritik
Eine erste Umgangsweise mit dem Problem von Erkenntnis und Politik ist die Ent-Epistemologisierung der Politik. Seit geraumer Zeit ist die radikaldemokratische Kritik an gegenwärtigen politischen Handlungsweisen ein zentraler Bezugspunkt für linke Projekte. In dem aktuellen Band zur »Grünen demokratischen Revolution« hat die Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe, die auch die spanische Podemos und La France insoumis berät, erneut ihre ablehnende Haltung gegenüber allzu verwissenschaftlichten Positionen zum Ausdruck gebracht. Zu Mouffes zentralen Themen gehörte immer schon die Kritik an uneinlösbaren Ansprüchen des Marxismus auf die wissenschaftliche Begründung von Politik. Diese Position lässt sich als Ent-Epistemologisierung beschreiben, weil ihre Lösung des Begründungsproblems tendenziell darin besteht, sich vom Universalismus und einem emphatischen Wissenschaftsbegriff abzuwenden – das Problem der Vermittlung zwischen Wissenschaft und Politik also als unlösbar und wenig relevant darzustellen. In ihrem neuesten Buch, in dem Mouffe versucht, diese radikaldemokratische Logik auf die Umwelt- und Klimathematik zu beziehen, liest sich das so: »Es braucht keine Theorie der Wahrheit […] oder universelle Gültigkeit«. Was zählt, wäre vielmehr die Aktivierung von Emotionen: »Menschen müssen das Gefühl haben, dass sie eine Stimme haben und ermächtigt werden, wenn sie sich politisch engagieren«.
Richtig an Mouffes Intervention ist, dass sich auch in der Klimafrage keine automatische Übersetzung von wissenschaftlichen Aussagen in politische Folgen einstellt, egal wie apokalyptisch die Vorhersagen auch ausfallen. Ohne einen politischen Transmissionsriemen können Erkenntnisse keine Wirkung entfalten. Die ökosozialistische Kritik zielt entsprechend darauf, dass die existierenden politischen Mechanismen nicht ausreichen, um eine ökologische Transformation herbeizuführen. Mouffe scheint aber gerade darauf zu bestehen, dass diese Mechanismen und ihre Situierung in der Geschichte selbst eine black box bleiben müssen. Denn eine übergreifende Perspektive, die erklärt, warum die Pfade zu einer nachhaltigen Politik derart institutionell blockiert sind, wäre ja nichts anderes als eine Theorie über eine gesellschaftliche Wahrheit.
Es scheint außerdem in Mouffes Ent-Epistemologisierung eine Inkonsistenz vorzuliegen. Als sozialistische Denkerin hat Mouffe selbstverständlich eine Geschichtsauffassung, die auf Begründungen basiert. Bei der Vorgehensweise, die Begründung der eigenen Position in den Hintergrund zu rücken, handelt es sich also um eine Strategie, die Einsprüche gegen diese Auffassung vorwegzunehmen und zu umschiffen. Man möchte die Menschen zurecht nicht mit großen Theorien des wissenschaftlichen Sozialismus abschrecken und möglichen Bündnispartner:innen nicht mit einer vorgefertigten Weltanschauung vor den Kopf stoßen. Diese Strategie erzeugt daher unweigerlich einen neuen Bruch zwischen der politischen Bewegung einerseits, die ihren politischen Ausdruck erst noch finden muss, und andererseits der die richtige Richtung bereits kennenden philosophischen Avantgarde. Es ist fraglich, ob ein solches Spiel mit verdeckten Karten nicht mit einer weiteren Rückentwicklung der Urteilsfähigkeit der Menschen einhergeht, anstatt die erhoffte Aktivierung eines demokratischen und ökologischen Geistes in der Gesellschaft zu bewirken.
Ein solches Vorgehen führt dazu, dass die eigenen universellen Werturteile und Wahrheiten, von denen man mehr oder weniger bewusst zehrt, nie einer transparenten Überprüfung unterzogen, geschweige denn Gegenstand einer wissenschaftlich kontrollierten Theoriedebatte werden können. Damit wird die historisch-materialistische Dimension des Problems – welche Mechanismen und Entscheidungen in der Geschichte haben die Krisensituation in der Gegenwart hervorgebracht und werden es in Zukunft wieder tun? – zugunsten von Verfahrensfragen – wie lassen sich Mehrheiten jetzt zeitnah produzieren? – ausgeblendet. Die Analyse der strukturellen Unfähigkeit auf die Klimakrise zu reagieren, die mit gegenwärtigen sozialen und politischen Verhältnissen einhergeht, wird damit zum spekulativen philosophischen Gegenstand. Eigentlich handelt es sich aber um ein Problem, das für empirische Studien zugänglich ist. Diese Möglichkeit sollte daher auch ausgeschöpft werden, anstatt die Ent-Epistemologisierung von Gesellschaftstheorie weiter voranzutreiben.
Epistemologie und Neue Materialismen
Das Verhältnis von materieller Wirklichkeit und materialistischer Erkenntnis wird auch noch in einem anderen Zusammenhang diskutiert, nämlich im Theoriekontext der Neuen Materialismen. Dieses sehr diverse Feld lässt sich schwer auf einen Begriff bringen, dennoch eint die meisten Beiträge eine grundlegende Skepsis gegenüber klassischen Erkenntnistheorien. Nach der linguistischen Wende in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts, die die Eigensinnigkeit, relative Unabhängigkeit und eigenständige Wirksamkeit kultureller Systeme betont hatte, geht es den neuen Materialismen oftmals darum, gegenüber der Sprache auch die Bedeutung von Materie für gesellschaftliche Phänomene wieder in den Fokus zu rücken. Dabei zirkulieren durchaus unterschiedliche Auffassungen darüber, was alles Teil dieser Materialität ist.
Im soziologischen Kontext wurde etwa betont, dass soziale Verhältnisse nicht ohne bestimmte materielle Gegenstände gedacht werden könnten, die deshalb nicht nur als Symbol oder Werkzeug aufgefasst werden sollten. Bruno Latours berühmter Text über den Berliner Schlüssel sollte etwa zeigen, dass ein Wohnungsschlüssel nicht einfach nur ein Artefakt ist, dessen Bedeutung sich aus dem Machtverhältnis zwischen Mieter und Vermieter ableiten lasse, sondern ein konstitutiver Bestandteil dieses Verhältnisses; und als Objekt den beteiligten Subjekten gleichrangig. Im Kontext der feministischen Gesellschaftskritik versuchen die neuen Materialismen, die Dimension körperlicher Erfahrung jenseits von einer symbolischen Ebene zugänglich zu machen und den vielfach gegenderten Subtext von populären Begriffen und Gegensätzen zu hinterfragen, etwa denen zwischen Natur und Gesellschaft oder eben Subjekt und Objekt. Insbesondere bei Fragestellungen auf der Mikro-Ebene und in Bereichen, in denen Körperlichkeit eine direkte Rolle spielt, wie in der Medizinsoziologie, sind sie damit sehr erfolgreich.
Dieser material turn stellt seine Anschlussfähigkeit an gesellschaftspolitische Vorstellungswelten von Natur in einer anderen Weise her als der radikaldemokratische Ökosozialismus und auch anders, als man es von Theorien hinter dem alten Sammel- und Kampfbegriff des Materialismus kennt. Eine genaue Abgrenzung fällt dabei schwer, lässt sich aber wiederum anhand einiger epistemologischer Fragen aufzeigen.
Handlungsmacht und Gleichursprünglichkeit
Eine zentrale Auseinandersetzung zwischen neuen und alten Materialismen ist das Thema der Handlungsmacht beziehungsweise agency, also der Fähigkeit, sozial und politisch tätig zu werden. Viele neue Materialismen zeichnen sich dadurch aus, die Aufteilung der Welt in passive Natur und aktive, handlungsmächtige Gesellschaft zu problematisieren. Eine solche Trennung führe dazu, die entscheidende Rolle beispielsweise von Tieren oder natürlichen Emissionssenkern zu unterschätzen, und so zu einer falschen Einordnung der gegenwärtigen politischen Potentiale zu kommen. Ein »Kapitalozentrismus« – also der einseitige Fokus auf das Verhältnis zwischen Kapital und menschlicher Arbeit – verhindere, dass etwa die metabolische Arbeit von Tieren, die eventuell anders, aber nicht unbedingt weniger direkt in den Verwertungsprozess eingeht, angemessen berücksichtigt wird, wenn Tiere, Gene oder Wälder nur als Objekt, nicht aber als eigenständiges Subjekt betrachtet werden. Andere, wie Andreas Malm, halten dem die Formel »Weniger Latour, mehr Lenin« entgegen. Die Anerkennung der Handlungsmacht könne sehr wohl auch im traditionellen Materialismus geleistet werden und die Erweiterung auf nicht-menschliche Akteure sei ein Schritt in die falsche Richtung.
Die neuen Materialismen haben zweifellos recht, wenn sie darauf hinweisen, dass die politischen Implikationen marxistischer Arbeits- und Werttheorien nicht hinreichend ausgearbeitet sind. Beispielsweise können krisentheoretische Ausdeutungen in der Regel nicht erklären, warum die politische Mobilisierung von Ressourcen zur Herstellung einer neuen Stabilität immer wieder zustande kommt und die Krise so dauerhaft vertagt wird. In der Praxis gelingt die neomaterialistische Problematisierung zu eng gefasster Deutungsangebote aus dem traditionellen Materialismus und umgekehrt bisher jedoch kaum. Die neuen Materialismen haben bisweilen Schwierigkeiten, die relative (Un-)Abhängigkeit von politischen Mechanismen zu berücksichtigen, weil nur wenige ausgearbeitete Alternativen zu denjenigen gängigen politischen Begriffen bestehen, die in den Blick ihres wissenschaftstheoretischen Zweifels geraten. Wenn etwa die Kategorie der Subjektivität völlig zurecht einer kritischen Prüfung unterzogen wird, ist damit nur scheinbar automatisch eine Kritik der bürgerlichen Gesellschaft geleistet, die diese Subjektivität hervorbringt.
Dieses Problem lässt sich beispielhaft am Begriff des Biokapitalismus im Sinne von Kaushik Sunder Rajan illustrieren, der die wechselseitige Koproduktion von Biotechnologien und einer neuen Durchsetzungsweise des Kapitalismus herausstellt, die sich sowohl gegen klassisch materialistische Zugänge als auch diskursanalytische Perspektiven sperrt. Rajan macht geltend, dass sich im besonders stark von finanziellen Spekulationen getriebenen Feld der Biotechnologien die Bewertungen etwa des Marktwertes von Firmen aber auch die Bewertung konkreter Produktionsprozesse stark von klassisch materiellen (gemeint sind: profitorientierten) Maßstäben abgewandt haben. Der Börsenwert eines Biotech-Startups bemesse sich nicht danach, wie viele Ellen Garn es pro Arbeitsstunde produziert, er hänge vielmehr fast vollständig von der Hoffnung auf zukünftige, noch gar nicht absehbare Gewinne ab. Klassische Ideologien, wie etwa die scheinbare rechtliche Gleichstellung von Kapital und Arbeit, gingen mehr oder minder direkt aus dem Verhältnis hervor, bei dem ein Tausch von gleichen Werten dennoch verschleiert zu ungleichen Ergebnissen führt. Die Ideologie der digitalen oder biologischen Technologien sei hingegen weniger direkt ableitbar, es handele sich nicht um ein zweifelsfrei feststellbares falsches Bewusstsein.
Gleichzeitig sei es aber ebenso wenig ein reiner Diskurs, dessen Machteffekte von den Verhältnissen in diesem Industriezweig weitgehend losgelöst bleiben. Biotechnologie als reine Wissenschaft, sei ohne kapitalistische Verwertung schließlich überhaupt nicht denkbar, da ihre materielle Grundlage die Vernetzung mit einer ganzen Produktwelt aus Instrumenten, Reagenzien und Apparaten ist. Und diese Produkte sind in ihrer spezifischen Form eben keine wissenschaftlichen, sondern kapitalistische. Vielmehr gehen solche vermeintlich rein diskursiven Bausteine direkte Verbindungen mit der Praxis der Firmen ein: Aus dieser Sicht wäre zum Beispiel Tesla nicht einfach nur ein weiterer Automobilhersteller, der absichtsvoll von seiner Marketingabteilung ein falsches Bewusstsein über unrealistische Mobilitätskonzepte verbreiten lässt, dessen Existenz und Gewinn ansonsten aber von materiellen Größen (wie viele Autos pro Fließbandstunde etc.) abhängt. Stattdessen müsste man zugeben, dass der Diskurs der Hoffnung auf die zukünftige Elektromobilität immer schon untrennbar mit allen Stufen der Unternehmensentwicklung verwoben ist. Die Fragen, wer zuerst da war, Tesla oder die Ideologie der Elektromobilität und welche Seite die andere determiniert, ist aus dieser Perspektive sinnlos. Sie erscheinen gleichursprünglich zu sein. Sunder Rajan bezieht sich mit dieser Analyse sowohl auf das Konzept der »Überdeterminierung« von Louis Althusser als auch auf die Technowissenschaftskritik von Donna Haraway. Von Haraway übernimmt er dabei den zentralen Gedanken der »co-construction«, der die Gleichursprünglichkeit und Wechselwirkung betont, die überall da zu finden sei, wo Natur oder Bedürfnisse produziert werden.
Für eine zeitgemäße materialistische Analyse käme es aus dieser Perspektive darauf an, den Mechanismus der Koproduktion zu verstehen, der sich im Bereich der Biotechnologien und life sciences nur besonders deutlich zeigt, vermutlich aber auch in vielen anderen Feldern wie der Elektrifizierung oder Digitalisierung anzutreffen ist. Doch genau hier lohnt es sich, einen genauen Blick auf die implizierten Widerstandsmechanismen und die Reichweite ihrer Diagnose zu werfen. Denn wenn es so ist, dass sich Materialität und Abstraktion wirklich nicht analytisch trennen lassen, sondern immer in einer Koproduktion befangen sind – an welchem Punkt setzt dann die Begründung, Rechtfertigung und Wirkung von Widerstandsaktionen ein? An dieser wichtigen Stelle tritt wieder das bereits erwähnte Maßstabsproblem auf. Denn an der Formel der Koproduktion lässt sich nicht mehr festmachen, auf welche positiven Überzeugungen sich Kritik und Widerstand stützen. Wo geht der epistemologische Zweifel hin, wenn er nicht mehr vor einer cartesianischen Subjektivität halt machen will? Die Frage, wie Handlungsfähigkeit trotz oder durch Zweifel hergestellt wird, bleibt schlicht offen.
Ein geteiltes Problem?
Es scheinen im Diskurs der neuen Materialismen, ähnlich wie in den radikalen Demokratietheorien, normative Hintergrundannahmen anwesend zu sein, die nicht ohne weiteres explizit gemacht werden können. Damit ist keineswegs gesagt, dass diese Probleme auf alle Arten von neuen Materialismen gleichermaßen zutreffen. Vielmehr unterscheiden sie sich im Detail erheblich. Trotzdem ist die Pointierung des neuen Materialismus und der Radikaldemokratie zum Zwecke der Diskussion zulässig, weil sich die wesentlichen Charakteristika beider Seiten gut vor diesen Fragen konturieren lassen. Und zwar aus dem Grund – und darin besteht gewissermaßen der ganze Reiz der Diskussion zwischen den Materialismen –, weil die traditionellen Materialismen in vielerlei Hinsichten vor den exakt gleichen theoretischen Begründungs-, normativen Rechtfertigungs- und epistemologischen Kohärenzproblemen stehen. Das Problem der (Über-)Determination ist schließlich nicht gelöst, ebenso wie die normative Perspektive nicht geklärt ist und die Deutung des Zusammenhangs von ökonomischer und politischer Macht noch immer in den Kinderschuhen steckt. Bezeichnenderweise bemerkte der Werttheoretiker Michael Heinrich im Vorwort zu Søren Maus Buch über die Funktionsweise des stummen Zwangs ökonomischer Verhältnisse, ihm sei »noch nie in den Sinn gekommen, dass dieses Konzept eine eigenständige Untersuchung nötig haben könnte«.
Andreas Folkers hat bereits vor zehn Jahren die Perspektive des neuen Materialismus folgendermaßen im Sammelband Critical Matter zusammengefasst: »Materie wird vom neuen Materialismus von ihren immanenten, ontogenetischen, selbstorganisierenden Potenzialen her gedacht, anstatt als passiver Stoff, der auf menschliche Bearbeitung wartet.« Die neuen Materialismen sehen sich den alten insofern voraus, als dass sie diese immanenten Potenziale besser verstehen und aktivieren können. Bei all der Faszination für das Neue darf aber nicht vergessen werden, dass sich aus der traditionellen Perspektive heute weniger die Frage nach der Aktivierung verborgener immanenter Potenziale stellt, sondern vielmehr das Problem einer scheinbar unerschütterbaren Resilienz herrschender Institutionen und Verlaufsformen der Geschichte. Nicht die Natur und die Faktenlage der Ökologie sind es, die unser Handeln bestimmen, sondern unsere Lebensweise und die ihr zugrunde liegenden sozialen Verhältnisse. Welche erkenntnistheoretischen Werkzeuge sich in diesem Kampf als nützlich erweisen, wird Gegenstand einer langfristigen Diskussion sein müssen, die weder mit dem Verweis auf die vermeintliche Autorität der Tradition noch mit dem verlockenden Nimbus des vermeintlich Neuen abgeschnitten werden darf.
Florian Geisler
Der Autor lehrt Soziologie an der Universität Kiel und lebt in Frankfurt am Main.