Sublimierte Aggression, reflektierte Enttäuschung 

Über Polemik als Kunst und Strategie der Ideologiekritik 

»Jede anfängliche Beschäftigung« mit der Polemik, heißt es im Historischen Wörterbuch der Rhetorik, »ist zunächst ernüchternd: Weder existiert sie als rhetorischer Fachbegriff, noch gibt es eine ausgebildete Lehre von ihr als Redegattung.« Von einer »historisch gewachsenen Vielschichtigkeit, ja Schwammigkeit« ist im Folgenden die Rede, von einem »undifferenzierten Sammelbegriff« und einer »fehlenden Lemmatisierung in rhetorischen Quellenwerken«, allenfalls eine »nur annähernde Definition« stellt der Autor in Aussicht, die wiederum aber nur für einzelne Aspekte. Am Ende lassen sich trotzdem zwölf eng beschriebene Seiten zusammentragen, in denen von der Antike bis zum 20. Jahrhundert keine Epoche ausgelassen wird und allerlei Namen genannt werden, bevor der nächste Artikel beginnt, der ironischerweise dem Begriff Political Correctness gewidmet ist.  

Was im Historischen Wörterbuch der Rhetorik Zufall ist – der unmittelbare Zusammenhang von Polemik und Political Correctness –, erweist sich als Anhaltspunkt für die folgenden Überlegungen. Denn ohne den Bruch mit einem politischen Konsens, sei er auch noch so implizit, ohne den kalkulierten Verstoß gegen das Gebot der Sachlichkeit, wäre Polemik nicht möglich, wenngleich sie darin nicht aufgeht. Polemik, darauf weist schon die Etymologie des aus dem griechischen polemos gebildeten Wortes hin, begreift die öffentliche Auseinandersetzung im starken Sinne als Krieg oder Streit – als Konstellation also, in der es nicht bloß Meinungen und Positionen gibt, die nüchtern abzuwägen wären, sondern Gegnerinnen und Gegner, Feindinnen und Feinde. Weil die Polemik, was sie kritisiert, persönlich nimmt, agiert sie persönlich und unversöhnlich; sie möchte entlarven und bloßstellen, sie »ist unfreundlich und unerfreulich, wie es die Wirklichkeit ist«Kat Lux, Scharfzüngige Schwester, in: outside the box 5 (2015), https://t1p.de/14kqy. .  

 

Treffend und triftig: das Medium Polemik 

Das bringt Polemik in eine prekäre Lage, weil sie sich stets der Abqualifizierung als »bloße Polemik« und dem Ausschluss aus dem bewachten Raum der legitimen Diskussion aussetzt, den zu stören und seine Selbstzufriedenheit, sein unausgesprochen Vorausgesetztes und klammheimlich Mitgeschleiftes zu untergraben, doch zu ihren wichtigsten Zielen zählt. Weil sich Polemik durch politische oder sprachliche Dummheit beleidigt sieht, agiert sie häufig am Rande der Beleidigung. Zuweilen sieht sie ihr zum Verwechseln ähnlich. Dennoch steht sie nicht jenseits der Sachlichkeit. Gerade der begründende Bezug zur Sache unterscheidet überzeugende Polemik von der bloßen Beleidigung, auch wo sie vorgibt, niemanden überzeugen zu wollen. Ihr Wahrheitsanspruch impliziert, etwas treffen zu wollen, und um zu treffen, muss sich der zielende Blick verengen und die Aussage verdichten. »Triftig« ist sie also dort, wo sie die Kontaktzone von Person und Sache in den Blick nimmt – auch, wenn sie gar nicht von konkreten Personen spricht, sondern beispielsweise von Sozialtypen –, weil für oder gegen eine Sache, für die Bereitschaft, etwas anders zu sehen als zuvor, immer nur Subjekte ansprechbar sind, niemals Ideen oder Systeme. Tatsächlich gibt es für die Polemik, wie Walter Benjamin formulierte, »zwischen Persönlichem und Sachlichem gar keine Grenze«. Sie soll, so ein vielzitierter Satz von Karl Kraus, »den Gegner um seine Seelenruhe bringen, nicht ihn belästigen«. Wo allerdings die Grenze zur Belästigung überschritten wird, ist unmöglich vorweg abstrakt zu bestimmen; nicht nur, weil sich das Gelingen der Polemik nur am besonderen Gegenstand erweist und immer als konkretes rhetorisch-politisches Phänomen begriffen und beurteilt werden muss, sondern auch, weil sich diese Erkenntnis häufig erst mit einiger Nachträglichkeit einstellt. 

Wie bereits die eingangs zitierte Quelle zeigt, unterhält die Polemik ein intimes Verhältnis zur Sprache. Jene ist das Medium, in dem sich Polemik als rhetorische Kunst und Strategie entfaltet. Schon in der Literaturkritik des 19. Jahrhunderts, ganz entschieden dann bei Karl Kraus, wird die Sprache aber zum bevorzugten Anlass, zum Symptomzusammenhang, dessen Nuancen und blinde Flecken sich die sprachkritische Polemik vornimmt, Ungesagtes und Impliziertes herausarbeitet und durch Übertreibung, Zuspitzung und ironische Verkehrung kenntlich macht. Gelingende Polemik setzt zudem einerseits eine intime Kenntnis ihres Gegenstands voraus, andererseits eine ansprechbare Öffentlichkeit. Ansprechbar ist diese Öffentlichkeit nicht nur insofern sie zuhört, sondern auch insofern sie etwas mit dem Gegenstand der Polemik teilt. Von dieser Verbindung, also von den geteilten Annahmen und einer geteilten Sprache hängt ab, ob Polemik etwas trifft oder ins Leere schießt. 

Immer wieder wurde Polemik als sprachlicher Habitus mit Selbstsicherheit, Überheblichkeit und übersteigerter, sich gegen Erfahrung abdichtender Souveränität in Verbindung gebracht und ihr eine Lust an der Zerstörung attestiert; zuweilen wurde sie auch als spezifische männliche Artikulationsform wahrgenommen oder als solche kritisiert.Dieser Gedanke findet sich auch bei Kat Lux angedeutet, allerdings insofern differenziert, als die mit der Polemik einhergehende »männliche Subjektposition« in die Polemikerin selbst hineinverlegt wird. Vgl. ebd.  Daran ist zunächst richtig, dass der Eintritt in die literarische und politische Öffentlichkeit lange Zeit Männern vorbehalten war, auch wenn sich dies seit dem späten 18. Jahrhundert zu ändern begann, wie zahlreiche Beispiele, gerade auch feministischer Polemik zeigen (Mary Wollstonecraft, später Hedwig Dohm, das Umfeld der Schwarzen Botin oder Katharina Rutschky wären hier zu nennen).Vgl. dazu auch Moira Ferguson, Feministische Polemik. Schriften englischer Frauen von der Spätrenaissance bis zur Französischen Revolution, in: Querelles. Jahrbuch für Frauenforschung 2 (1997), 292–315. Zudem verdankt sich dieser Eindruck dem Moment der Härte, Aggression und Unnachgiebigkeit, mit der die Polemik ihrem Gegenstand zu Leibe rückt, die als Eigenschaften kulturhistorisch jeweils männlich konnotiert waren und auch heute noch sind. Allerdings zeigen bereits die genannten Beispiele, dass die dem weiblichen Geschlechtscharakter metaphysisch untergeschobenen Neigungen und Fähigkeiten mit dem, was Frauen können und tun, kaum etwas zu tun haben. Im Gegenteil, das, wie es im eröffnenden Artikel der Schwarzen Botin heißt, »Insistieren auf Aggressionslosigkeit« und »Weichheit«Gabriele Goettle (ursprünglich ohne Namen), Schleim oder Nichtschleim, das ist hier die Frage, in: Vojin Saša Vukadinovic (Hrsg.), Die Schwarze Botin. Ästhetik, Kritik, Polemik, Satire 1976–1980, Göttingen 2020, 80–82, hier 81. – was sich sowohl unter Männern als auch unter Frauen findet – war Gegenstand feministischer Kritik. Gerade weil die polemischen, satirischen, beißenden und unnachgiebigen Sprachformen und Geisteshaltungen auch von Frauen angeeignet werden konnten, waren sie nie ausschließlich männlich, sondern wiesen nicht zuletzt durch ihre Gebundenheit an die Sprache, die prinzipiell allen zur Verfügung steht, über ihre beschränkte Genese hinaus. Zwar ist nicht auszuschließen, dass der Polemiker oder die Polemikerin tatsächlich eine Lust an der Zerstörung, Beleidigung und Bloßstellung empfindet – die beim Polemiker auch misogyn auftreten kann –, aber im Medium der Sprache der Polemik kommt Aggression eben nicht unmittelbar zum Ausdruck, sondern wird sublimiert und in etwas anderes als reinen Affekt überführt. 

Zudem verdeckt die Konzentration auf den zuweilen tatsächlich unangenehmen sprachlichen Habitus der Polemik ihre Fragilität. Zum einen darf sich Polemik – darin ist sie der Übertreibung verwandt – weder als rhetorische Strategie erklären noch als bloßer Stil auftreten, sonst verliert sie ihre Kraft und wird als Masche oder Geschäftsmodell erkennbar; sie muss es, mit anderen Worten, immer ernst meinen, auch wo sie wünscht, widerlegt zu werden. Zum anderen macht sich Polemik in hohem Maße angreifbar, weil sie den Konnex zwischen Person und Sache auch für sich selbst voraussetzen muss und weil der Gestus der Grundsätzlichkeit nur um den Preis der Entdifferenzierung zu erlangen ist, was wiederum den differenzierenden, die Polemik korrigierenden Kommentar geradezu herbeiruft. Und schließlich ist Polemik immer auf konkrete, situative Konstellationen angewiesen, die morgen schon vergangen sein können. Mehr als andere Formen der Kritik ist sie auf die Aktualität bezogen, ja geradezu von ihr abhängig. 

 

Polemik und Ideologiekritik: Wolfgang Pohrt 

Dass und inwiefern Polemik einen Zeitkern hat, zeigt sich in besonderer Deutlichkeit im Bereich des Politischen. Zwar gibt es auch eine rechte, konservative und liberale Tradition der Polemik. Gerade an der politischen Linken, die durchaus auf eine lange Geschichte der freizügigen Überspitzungen und Beleidigungen zurückblicken kann (man denke an die journalistischen Texte von Karl Marx), wird jedoch deutlich, dass Polemik vor allem dort zum Mittel der Wahl wird, wo der Gegenstand der Kritik nicht nur der politische Gegner, sondern vor allem das eigene Milieu ist, wo also jemand zugleich von außen und von innen spricht.  

In der jüngeren Geschichte der deutschen Linken steht kaum jemand so sehr für eine spezifische Verbindung von Polemik als Medium der Ideologiekritik, die sich häufig zuerst an die eigenen (oder vormals eigenen) Reihen richtet, wie Wolfgang Pohrt. Seine Schriften der späten 1970er und 1980er Jahren erreichten eine breite Öffentlichkeit und sind für das, was später einmal die antideutsche Linke werden sollte, stilprägend sowie bis in die Theorie hinein einflussreich gewesen; in zahllosen Flugblättern, Redebeiträgen und Artikeln finden sich – mal besser, öfter schlechter – die Stichworte, Denkfiguren und Stilelemente seiner Texte. In Pohrts Beiträgen verbanden sich Kenntnis des Gegenstands mit unnachgiebiger Kritik, Sprachgefühl mit Witz, Prägnanz und Provokation. »Wenn die Atombomben gezündet werden, sind wir tot. Mit den Gegnern der Nachrüstung und der Neutronenbombe aber müssen wir leben.«Wolfgang Pohrt, Ein Volk, ein Reich, ein Frieden, in: Werke 2, Berlin 2019, 307–315, hier 307.  Das waren Sätze, mit denen Pohrt seinerzeit eine linke Öffentlichkeit irritieren und schockieren konnte, um ihr im Anschluss nachzuweisen, wohin sie zwar nicht wollte, aber doch unterwegs war. Pohrt hatte ein Publikum und eine Veröffentlichungslandschaft, die zumindest so viel Dissidenz zuließ, dass er in den 1980er Jahren zu einem der meistgelesenen Kritiker wurde. Seine Texte erschienen nicht nur in linken Zeitschriften wie konkret, taz oder Kursbuch, sondern auch in Die Zeit oder Der Spiegel. 

»Ich rechne mich«, so Pohrt bei einem Vortrag 1987 in Amsterdam, »jenen geschulten Beobachtern zu, die auf Grund langer Erfahrung unauffällige Nuancen und Zwischentöne in der Bundesrepublik registrieren und deuten können, die also in der Lage sind, zwischen den Zeilen zu lesen und das Gras wachsen zu hören«Wolfgang Pohrt, Ein Hauch von Nerz, in: Werke 5.2, Berlin 2018, 9–271, hier 71.. Geschult war Pohrt, weil er nah genug an der Linken war, um sie treffsicher kritisieren zu können. Wer Zwischentöne registrieren möchte, muss die Haupttöne gut genug kennen, um sie in den Hintergrund treten zu lassen. Die Grundlage, auf der Pohrt sein Geschäft der Polemik und der Ideologiekritik betrieb, war eine geteilte Vergangenheit, eine Vergangenheit der gemeinsamen Hoffnungen und Illusionen, deren Verleugnung er seinen Gegnern unermüdlich vorrechnete. Beharrlich erinnerte er daran, dass »man seinerzeit nicht an effizienteren Lebenstechniken, sondern an der Revolution interessiert war, obgleich dann am Ende aus der Revolution Therapie geworden ist«. Wenn er darauf »mit einer gewissen Hartnäckigkeit bestehe«, so deswegen, weil »heute auf einmal davon niemand mehr was wissen will«.Wolfgang Pohrt an Karl Markus Michel, 31. März 1977, in: Werke 11, Berlin 2023, 19. Aus dieser Nähe konnte Pohrt den zunächst impliziten und bald expliziten Nationalismus und Antiamerikanismus der Friedensbewegung denunzieren oder der Linken die Erledigung der nationalsozialistischen Vergangenheit unter dem Deckmantel der »Wiedergutwerdung« (Eike Geisel) aufzuzeigen, wenngleich er damit nicht allein war.  

Seine intellektuelle Biographie – vor allem die Zeit der 1980er Jahre –, als seine Artikel noch handfeste Skandale und heftige Debatten auslösten, lässt sich in der Rückschau leicht idealisieren. Dazu gibt es wenig Anlass. Nicht nur, weil sich seinem gerade veröffentlichten Brief- und Mailwechsel entnehmen lässt, dass die Ernsthaftigkeit und Konsequenz, mit der er seine Praxis als Kritiker verfolgte, gerade im sogenannten »zwischenmenschlichen Bereich« zu Verhärtungen geführt haben, die nur aus der Ferne zum heldenhaften Außenseitertum stilisiert werden können. Vor allem verkennt die retrospektive Romantisierung jene Spezifik der historischen Umstände, die sich nicht einfach wiederholen oder wiederherstellen lassen. Das Koordinatensystem der von Pohrt adressierten politischen Bewegung war noch intakt genug, um es gegen sich selbst wenden zu können; noch existierte ein organisatorischer und publizistischer Zusammenhang. Die Tatsache, dass nicht wenige Achtundsechziger ihren Weg in den Kultur- und Literaturbetrieb fanden, sorgte zudem dafür, dass sich überhaupt ein auch über das linke Milieu hinausgehendes Interesse für die Beiträge von Autoren wie Pohrt oder Christian Schulze-Gerstein fand. Es gab Platz für Dissidenz und die ökonomischen und publizistischen Möglichkeiten für im besten Sinne spontane Gelegenheitsarbeiten. Und schließlich handelte es sich bei den jeweiligen Diskussionen nicht um linke Nischenthemen. Auch, weil der Marsch der Achtundsechziger in und durch die Institutionen kritisch von einem – im Vergleich zu heute – selbstbewussteren Konservatismus begleitet wurde, ging es immer um mehr als linke Szenedebatten. 

Dabei war Pohrt selbst keinesfalls der Meinung, etwas Neues, Innovatives oder besonders Einfallsreiches zu tun. Schon 1977 sah sich Pohrt weniger als »Einzelkämpfer« denn als »Kuriosität«Ebd., 23.. »Wirf mir mangelnde Originalität vor«, schrieb Pohrt fünf Jahre später in einem Brief an Christoph Wackernagel, »aber wie soll denn der Kritiker der Verhältnisse hier originell sein, wenn die Verhältnisse seit 200 Jahren immer dieselben sind«Klaus Bittermann, Der Intellektuelle als Unruhestifter. Wolfgang Pohrt, Berlin 2022, 271.. Darin lag natürlich ein gutes Stück Understatement. Wie sich Klaus Bittermanns umfassender Biographie über Wolfgang Pohrt entnehmen lässt, war Pohrt die Originalität seiner Texte und ihre Rezeption keinesfalls gleichgültig. Und dennoch ist Vergeblichkeit, wie sie bereits in den soeben zitierten Sätzen anklingt, ein immer wiederkehrendes Motiv in den Schriften Wolfgang Pohrts. Von der deutschen Linken, so Pohrt, »also auch von mir, kann man immer nur eines lernen: wie man es auf keinen Fall machen soll«Pohrt, Ein Hauch von Nerz, 73..  

Aus dieser Ahnung der Vergeblichkeit, sowie aus theoretischen Prämissen, die bereits auf seine Studie zum Gebrauchswert zurückgehen, zog Pohrt im Jahr des Systemumbruchs die Konsequenz. 1989 veröffentlichte er die Essaysammlung Ein Hauch von Nerz und eröffnete den Band mit einer Kapitulation. Die Gründe für die »Geschäftsaufgabe« des Ideologiekritikers waren vielfältig. Zunächst, so Pohrt, verschwinde langsam aber sicher die Marktlücke, die Autoren wie er oder Schulze-Gerstein temporär füllen konnten. Vor allem aber hatte sich gesellschaftlich etwas Entscheidendes verändert. Das Geschäft der Ideologiekritik, so erklärt Pohrt, braucht ein (Massen-)Bewusstsein, »welches bestimmte Ziele propagiert und sich dabei in Widersprüche verwickelt«Ebd., 10.. Wo es diese Widersprüche nicht mehr gibt, wo einfach ausgesprochen wird, was gedacht wird oder wo an die Stelle des ideologisch begründeten Irrtums das »Schummeln und Mogeln«Ebd. Hier deutet sich bereits Pohrts These vom Zerfall der Gesellschaft in konkurrierende Banden an, die er später in Brothers in Arms ausarbeiten wird. tritt, und wenn sich eine Generation von ihren vormaligen Impulsen schlicht verabschiedet hat, anstatt sie weiter mitzuschleifen, dort hatte für Pohrt die Ideologiekritik und damit auch die Polemik Grundlage verloren. »Vermeintliche Linke, die mit patriotischen Sprüchen und anderen Parolen aus dem Propagandaarsenal der Rechten den sozialen Fortschritt vorantreiben und den Frieden festigen wollen, sind ein Gegenstand der Ideologiekritik. Kein Gegenstand subtiler Ideologiekritik, sondern Zielscheibe härterer Attacken muß hingegen der Rassistenklüngel sein, der ins Berliner Abgeordnetenhaus gewählt wurde.«Ebd., 11.  

 

Schrumpfform der Polemik: Der Normie muss weinen 

An den erklärten Abschied von der Publizistik hat Pohrt sich zwar nicht gehalten, aber seine Rolle als Kommentator politischer Verhältnisse war trotzdem nicht mehr dieselbe. Fraglich ist auch, ob das gesellschaftliche Massenbewusstsein der 1990er Jahre tatsächlich so widerspruchsfrei war, wie Pohrt annahm. Tatsächlich begann sich allerdings etwas zu ändern, sowohl in der Linken als auch in der breiteren Öffentlichkeit, weshalb Pohrts Urteil mit Blick auf die 1990er und frühen 2000er Jahre zwar verfrüht, im Hinblick auf die Gegenwart aber möglicherweise hellsichtig war. Die antideutsche Bewegung, die sich in den 1990er Jahren aus dem Selbstverständigungs- und Zerfallsprozess der bundesdeutschen Linken herausentwickelte, deren innere Widersprüche unnachgiebig zuspitzte und in der die bei Pohrt abgeschaute Verbindung von Polemik und Ideologiekritik für einige Zeit Fuß fassen konnte, gibt es heute nicht mehr, auch wenn sie in der Öffentlichkeit immer wieder als Feindbild beschworen wird. Ihr Niedergang, so Jan Gerber, hatte mindestens drei Gründe: die unmittelbaren Anlässe zum Gang auf die Straße schwanden; theorieimmanente, ideengeschichtliche Widersprüche – maßgeblich der zwischen Freiheit und Gleichheit – machten sich geltend; und zahlreiche Ideen verallgemeinerten sich in den Mainstream des Medien- und Universitätsbetriebs sowie in die Kultur- und Parteiorganisationen, wenn auch in teilweise verzerrter Form.Vgl. Jan Gerber, Das letzte Gefecht. Die Linke im Kalten Krieg, Berlin 2022, 205 ff.   

Ähnlich wie Wolfgang Pohrt waren die Antideutschen der 1990er und frühen 2000er Jahre biographisch und lebensweltlich, ob sie es wollten oder nicht, Teil dessen, was sie kritisierten. Viele waren durch autonome und antifaschistische Bewegung sozialisiert und kannten also ihren Gegenstand, von dem sie, wie verdeckt auch immer, enttäuscht waren. Diese Enttäuschung war häufig nicht der schlechteste Kompass der Kritik, auch wenn sie gelegentlich ungerecht, missgünstig und verbissen wurde. Entsprechend richtete sich die Kritik ans naheliegendste Milieu und wählte nicht zufällig jene Foren, die man als Szenemedien bezeichnen kann. »Ohne es zu wollen«, so Gerber, lassen sich die Antideutschen retrospektiv dennoch als »der exzentrische Ausläufer eines längerfristigen Prozesses, der auf die Modernisierung Deutschlands zielte«Ebd., 211. , verstehen. 

Diese Entwicklung hat inzwischen deutlich an Dynamik gewonnen und ist durch weitere Faktoren verstärkt worden, was sich anhand einiger Schlaglichter verdeutlichen lässt. Zunächst hat sich das Verhältnis zwischen Szenemilieu und größerer Öffentlichkeit umgekehrt. In dem Maße, in dem der eine oder die andere mit einer durchaus antideutsch inspirierten Kritik – beispielsweise am Antisemitismus – auch in einer größeren Öffentlichkeit Gehör fand, nahm die szeneinterne Debattenintensität ab. Man sprach schlichtweg nicht mehr miteinander und beließ es beim vereinzelten Flugblatt oder der reflexhaften Abwehr jeder Kritik, während man sich jeweils am eigenen Stammtisch eher übereinander mokierte als empörte. Auch generationelle Differenzen machten sich geltend. So ist es nicht zu vernachlässigen, ob man durch die Linke, die man kritisiert, gewissermaßen hindurchgegangen ist und sich ihr, wie auch immer distanziert, noch zugehörig fühlt, oder ob die Kritik eines Teils der Linken die erste Politisierungsinstanz ist und man tendenziell immer schon eine Karikatur ins Visier nimmt; die fehlende Tradierung innerlinker Debatten tut zu dieser Form der Geschichtslosigkeit ihr Übriges. Und schließlich ist auch das Koordinatensystem der Linken, das sie zusammenhielt und als Ganzes ansprechbar machte, weiter zerfallen – vor allem hinsichtlich der sozialen Frage, die zu stellen einst zu den Kernmerkmalen der Linken gehörte und mit dem Aufstieg und der Verbreitung identitätspolitischer Positionen tendenziell an den Rand gedrängt oder vollständig vergessen wurde. An geteilte Hoffnungen und Illusionen zu erinnern, zielt in diesen Verhältnissen tendenziell ins Leere. 

In einem solchen Kontext hat es Polemik schwer, nicht zuletzt deswegen, weil sie wie jede Spracherscheinung zu Phrase und Jargon werden kann, wie sich an den kulturkämpferischen Feuilletonbeiträgen der großen Zeitungen beobachten lässt. Zudem verändert sich seit einiger Zeit die innere Zusammensetzung der Öffentlichkeit, was auch das linke Milieu affiziert. Neben die traditionellen Schriftmedien sind die digitalen sozialen Medien getreten. Sie sind nach und nach zu einem Forum eigenen Rechts geworden, weshalb inzwischen Twitter/X- und Instagram-Posts ebenso zitierbar sind wie Bücher, Aufsätze und Artikel. Es gibt kaum eine politische Gruppe, die heute nicht eher einen Instagram-Post verfasst, bevor sie einen Text veröffentlicht. Dadurch wandelt sich auch die Diskussions- und Streitkultur. Die sozialen Medien sind aufgrund ihrer Unmittelbarkeit, dem kurzen Weg von Impuls zur Mitteilung und den häufig beschränkten Zeichenzahlen näher an der Mündlichkeit als an der Schriftlichkeit. Nicht als Automatismus, aber doch als wahrnehmbare Tendenz, tritt die Begründung hinter das effekthascherische Statement zurück, die spontane Meinung ersetzt das begründete Urteil. Hinzu kommt die Kehrseite der Möglichkeit, sich durch die sozialen Medien im virtuellen wie im realen Raum zu begegnen, nämlich die Dynamik des Voyeurismus und des Stalkertums, mit denen man sich regelmäßig im Internet auf die Nerven geht.  

Man könnte freilich einwenden, gerade die Notwendigkeit der Verkürzung und Verdichtung prädestiniere Medien wie beispielsweise Twitter/X besonders für die polemische Zuspitzung. Das aber reduziert die Polemik auf die Pointe und die Triftigkeit auf das bloße Treffen. Gerade in jenen eher an Mündlichkeit als an Schriftsprachlichkeit orientierten Medien und ihren politischen Blasen – also neben den sozialen Netzwerken auch der sprunghaft angestiegene Bereich der Podcasts, in denen zuweilen das begrifflose Drauflos-Labern das Geschäftsmodell zu sein scheint – gedeiht eine Schwundstufe der ideologiekritischen Polemik, die man als Normiekritik bezeichnen könnte.Vgl. Angela Nagle, Kill all Normies. Online Culture Wars from 4Chan and Tumblr to Trump and the Alt-Right, Winchester/Washington 2017. Historisch, so Andrea Nagle, gibt es durchaus eine Parallelentwicklung zwischen einer sich immer mehr in Foren wie Tumblr, Facebook und Twitter verlagernden, häufig identitätspolitisch geprägten linken und einer rechten Internetkultur, die in ihrer Praxis, ob sie es wollen oder nicht, aufeinander verwiesen sind.In ihr wird der Konnex, den der Zufall der Lemmatisierung des Historischen Wörterbuchs der Rhetorik zwischen Polemik und Political Correctness herstellt, zur automatisierten, denkfaulen Strategie: Verstoß um des Verstoßes willen.  

Als Normies gelten dieser »Kritik« sowohl ein gesellschaftlicher wie ein spezifisch linker Mainstream, von dem man sich als vermeintliche Avantgarde absetzt, während man ostentativ die Nähe und die Solidarität für die »einfachen Leute« deklariert. Die Transgression wird zur vermeintlich alternativlosen Notwehr in einem Feindesland, das von Denk- und Sprachverboten verhängenden »Snowflakes« regiert wird. Dabei ist die Normiekritik ihren erklärten Gegnern oft ähnlicher, als sie wahrhaben will: Die Erleuchtung verschaffende red pill der einen, ist das ostentative Bekenntnis zur sozialen Gerechtigkeit der anderen, das unter dem zunehmend inhaltsleeren Stichwort der »Wokeness« zu treffen versucht wird. Beide reklamieren einen privilegierten Einblick hinter die Kulissen des gesellschaftlichen Treibens und verbunden sind sie nicht selten auch im mit enormer Empfindlichkeit gepaarten aggressiven Gestus. Die häufig polemisch aufs Korn genommene Postmoderne verkörpert die Normiekritik mindestens ebenso sehr wie ihr Spiegelbild.  

War Ironie – also Verkehrung des Gemeinten in sein Gegenteil – bei Wolfgang Pohrt und anderen eine ausnehmend ernste Angelegenheit, ist die Normiekritik ein allseits taktisches Augenzwinkern, der nichts verbindlich ist und die weder weiß, was sie verteidigt noch wohin sie möchte. Der »Westen« oder der »Liberalismus«, den sie zuweilen ins Feld führt, sind kaum mehr als frei flottierende Abziehbilder. Die Einordnung politischer Gegenstände geschieht nach dem Prinzip der Strichliste, nach dem Positionen abgeklopft und säuberlich nach hüben und drüben sortiert werden. Im Gestus des »Man kennt’s« kommt bündig zum Ausdruck, dass sie weder etwas verstehen noch etwas erklären möchte. Das Kriterium dieses Polterns ist nicht mehr Argument und Wahrheit (die auch für die Denunziation der Unwahrheit maßgeblich sind), sondern einzig und allein der Effekt: Der Normie muss weinen. 

Wo Polemik die gegenwärtigen Verhältnisse zum Gegenstand nehmen möchte – was so lange möglich ist, wie die Verhältnisse es verdienen –, tut sie gut daran, solche das Denken bloß simulierende Bahnen zu vermeiden. Anders als der instrumentellen Abgeklärtheit der Normiekritik, war der sprachlich sublimierten Wut der Polemik in den besten Momenten immer ein Moment der Trauer und Enttäuschung beigemischt, das sich aber weder erzwingen noch künstlich wiederherstellen lässt. Ohne eine Reflexion auf die veränderten gesellschaftlichen Bedingungen, deren Produkt Polemik ebenso wie ihr Ziel ist, wird sie jedenfalls schwerlich triftig sein. Sie als Königsweg zu empfehlen oder reflexhaft abzuwehren wäre daher gleichermaßen abstrakt. 

 

Robert Zwarg  

Der Autor ist Philosoph und Übersetzer und lebt in Leipzig.