Zeitdiagnose statt Erkenntnis

Die Form des Essays hat im deutschsprachigen Raum einen schweren Stand. Vielleicht versperrt sich deutsche Ideologie grundlegend gegen ein Medium offener Assoziationen und gedanklicher Annäherung statt autoritärer Bestimmung. Fest steht aber, dass es auf Deutsch kaum gute Essays gibt: Hierzulande stellen Intellektuelle und publizistisch ambitionierte Akademiker:innen ihren Texten ein Tocotronic-Zitat voran und glauben, sie hätten den Wissenschaftsbetrieb transzendiert; oder »essayistisch« ist gleichbedeutend mit einem Schimpfwort für zusammenhangsloses Schreiben. Vor diesem Hintergrund ist Anton Jägers Hyperpolitik ein bemerkenswertes Büchlein, denn Jäger ist ein hervorragender Essayist. Aus der Werkbiografie eines Michel Houellebecq oder des Fotografen Wolfgang Tillmans, aus Lewis Carroll, Annie Ernaux, Peter Sloterdijk und Techno zieht Jäger Hinweise auf eine Tendenz der Gegenwart: Alles sei mittlerweile politisch geworden, aber ohne jede Konsequenz. Bereits bei Erscheinen seines Aufsatzes Von der Post-Politik zur Hyper-Politik im Januar 2022 war ihm dafür linke Aufmerksamkeit sicher. Das Jacobin-Magazin benannte die hauseigene Podcast-Reihe danach und »Hyperpolitik« entwickelte sich schnell zum Schlagwort der Stunde. Der Hype um die Hyperpolitik-Diagnose ist wiederum bemerkenswert, weil sie sich sehr schnell als heiße Luft entpuppt. Denn Jäger stellt eine sehr simple These auf und durchmisst unser Zeitalter mit den Parametern Politisierung und Organisationsgrad. Während es im 20. Jahrhundert noch Parteien und Organisationen der Massenpolitik gab, die bestimmte politische Interessen bündelten und artikulierten, habe der Siegeszug des Neoliberalismus eine fast vollständige Deinstitutionalisierung von Politik vorangetrieben. Im Zuge dessen trat die Gesellschaft mit dem Beginn der neunziger Jahre in ein postpolitisches Zeitalter ein – dem berühmten Ende der Geschichte –, um in den frühen zehner Jahren aus der Apathie zu erwachen, in einer aufkommenden Antipolitik. Dieser populistische Zeitgeist und die zahlreichen Graswurzelinitiativen von Occupy, Indignados bis zur Tea Party zeigten eine Repolitisierung unter den Bedingungen des kompletten Abbaus aller politischen Institutionen. Das Aufbegehren jener Politik »gegen den Status quo, gegen die Eliten, gegen das Establishment« (80) verlaufe sich folglich in der bloßen Geste einer moralisierenden und identitären Empörung, einen »Modus der viralen Panik, wie sie typisch ist für das beschleunigte Internetzeitalter mit seinen kurzen Hype- und Empörungszyklen« (100). Es sind triviale Beobachtungen nach dem Motto: die Politik ist so, wie es typisch ist für unser Zeitalter, oder: der Neoliberalismus hat den gesellschaftlichen Zusammenhalt zerstört. Im besten Fall kann man Jäger zugutehalten, dass ihm diese nur als eine Art Gerüst dienen, als Geländer für eine schlüssige Rekonstruktion der politischen Entwicklungen der jüngsten Vergangenheit. Per Stippvisite interveniert Jäger in Diskurse darum, ob Trump ein Faschist sei, warum die Rechten angesichts der Erosion sozialer Zusammenhänge und Verbindlichkeiten »sowohl an der Basis als auch auf der Ebene der Eliten besser und schlagkräftiger aufgestellt« (100) sind und ob sich Linke die kommunitaristische Hypothese eines Robert Putnam mehr zu Herzen nehmen müssten, »im Westen schwinde der Gemeinschaftssinn« (35). Jäger verbleibt in Andeutungen, was diese Fragen betrifft, im Grunde hat er aber eine deutlich traditionssozialistische Haltung: Der guten Massenpolitik der starken sozialistischen Parteien nachtrauernd, sieht er heute die Internetzombies, die zur Parteidisziplin gar nicht mehr taugten, und deshalb von der Rechten überholt würden. »Die ideologische Verwirrung [ist] ein Hauptmerkmal der hyperpolitischen Periode« (47), heißt es in Nostalgie für die von Wolfgang Abendroth beschworene Fähigkeit, die Welt vom richtigen Klassenstandpunkt aus zu deuten. Das »gelingt im meinungsfreudigen Twitter-Universum heute wohl praktisch niemandem mehr« (47). Und so endet Jägers Diagnose genau da, wo der sozialistische Wunschtraum ohnehin schon stand: Bei der Vorstellung, »atomisierte Individuen zur Überwindung der hyperpolitischen Zwickmühle zurück in intermediäre Assoziationen wie Parteien, Gewerkschaften und partienahe Kaninchenzüchtervereine zu holen« (109). Das »mag nostalgisch, autoritär und realitätsfremd klingen«, gibt Jäger zu, lässt es aber unwidersprochen stehen. Im Grunde erklärt er damit, warum dem Millenial Socialism die Hyperpolitik-Diagnose so zusagt. Nicht, weil Jäger einen umwerfenden Essay vorgelegt hätte, der Reflexion und Erkenntnis ermöglichen würde, sondern weil sein Schreiben genau auf die Bedürfnisse jener passt, die von einer starken Massenbewegung träumen, aber von der Gesellschaft, aus der jene zu ihrer Überwindung hervorgehen soll, nur erfahren wollen, was sie schon wissen: dass sie Kapitalismus ist und dieser eben schlecht sei. Weil dem selbstbewussten neuen Sozialismus klar ist, dass eine Gesellschaftstheorie im starken Sinne immer eine ach so gefürchtete Selbstkritik der Bewegung bedeuten würde, nehmen sie Jägers »Versuch« einer Zeitdiagnose dankbar als Ersatz für die gesellschaftstheoretische Erkenntnis. Alex Struwe Anton Jäger, Hyperpolitik. Extreme Politisierung ohne politische Folgen, aus dem Englischen von Daniela Janser, Thomas Zimmermann und Heinrich Geiselberger, edition suhrkamp, Berlin 2023, 136 S., € 16,00.