Das Naturschöne im Klimawandel

Perspektiven einer ästhetischen Kritik des Mensch-Natur-Verhältnisses 

Die Menschheit befindet sich derzeit in einem Umbruch, wie sie ihn wohl seit 12.000 Jahren nicht erlebt hat. Klimawandel, Globalisierung und Digitalisierung verändern die Lebensbedingungen, die in der neolithischen Revolution geschaffen wurden. Der in dieser Zeit errungene relative Ausgleich zwischen Mensch und Natur schwindet. Gesellschaftliche Veränderung bleibt versperrt, solange sich ihre potenziellen TrägerInnen in gegensätzliche Denkweisen verstricken: Natur und Gesellschaft stünden zueinander im Widerspruch; ohne Herrschaft erfolge die Auflösung der Gesellschaft ins Chaos; ohne fortwährenden Fortschritt verfalle die Menschheit in Stagnation, müsse »auf die Bäume zurück«, wie es gern heißt; Gesellschaft sei veränderlich, Natur hingegen statisch; die Technik sei der Feind der Natur. 

Weder die Klimajugend noch ihre linken KritikerInnen (von den rechten ganz zu schweigen) haben eine Alternative zu derartigen Sichtweisen zu bieten. Nötig ist eine Umkehr, ohne auf einen vermeintlichen Ursprung oder ein heiles Davor zu rekurrieren: Die Menschheit hätte einst im Einklang mit der Natur gelebt, dieser Zustand sei aus dem Lot geraten und könne bzw. müsse wiederhergestellt werden. Derartiges Denken beschwört als Lösung der Probleme, was in Wahrheit ihre Ursache ist. Keineswegs reicht es aus, den Wachstums- bzw. Verwertungszwang abschaffen zu wollen, denn dieser ist nicht nur dieser Gesellschaft immanent und verschwindet deshalb auch keineswegs mit den ihr entsprechenden Eigentumsverhältnissen aus den Köpfen. Dazu braucht es ein Konzept von Emanzipation. 

In der aktuellen Klimabewegung spielt das Thema Schönheit der Natur, etwa von Landschaften, allenfalls bedingt eine Rolle. Der Fokus der Klimajugend liegt auf Naturwissenschaft einerseits und Ethik andererseits. Ihr Bild von der Welt zerfällt in harte Fakten und sich daraus ergebende Handlungsanweisungen, was dazwischen liegt, kommt nicht vor. Gerade mittels der Kategorie des Naturschönen lässt sich eine Einheit denken, ohne die Gegensätze ineinander aufzulösen. Als schön erscheinende Natur zeigt sie, wie die Verhältnisse eingerichtet sein müssten, ohne dieses utopische Bild auszupinseln. Daran hängt heute alles. 

 

Naturgeschichte der Menschheit 

Dem Ursprungsdenken der Ökologie zufolge soll der Mensch »naturgemäß« leben, d.h. in angeblich natürliche Kreisläufe eingebettet sein. Allerdings wurden schon die ersten Menschen durch eine Naturkatastrophe, die Austrocknung ihrer Wiege in Ostafrika, aus der Umwelt, an die sie biologisch angepasst waren, herausgerissen und mussten sich eine eigene schaffen. Üblicherweise sterben Arten nach derartigen Veränderungen schlichtweg aus. Es vollzog sich jedoch etwas in der Evolutionsgeschichte Einmaliges: An die Stelle der vergleichsweise langsamen biologischen trat eine viel rascher erfolgende soziokulturelle Entwicklung.Vgl. Friedemann Schrenk, Die Frühzeit des Menschen. Der Weg zum Homo sapiens, München 2019. Diese vollzog sich jedoch nicht so reibungslos, wie es das Wort suggeriert. 

Um die Natur zu beherrschen, mussten sich die Menschen zunächst an sie anschmiegen. Sie wiederholten den äußerlich erfahrenen Schrecken, um ihn zu bewältigen. Dies war bereits eine frühe Form menschlicher Herrschaft über die Natur. Mittels Menschenopfer stellten die Menschen unter sich, zu sich selbst und den Dingen einen Zusammenhang her, sie begannen zu handeln.Vgl. Walter Burkert, Homo necans. Interpretation altgriechischer Opferriten und Mythen, Berlin 1997, 9f. So blutig und damit doch den Schrecken mildernd begann die Zivilisation. Der Schrecken der Natur wurde dabei von den Beteiligten aufgeführt, d.h. von ihnen selbst noch einmal veranstaltet – heute würde man vielleicht sagen: performt. Auf dieser triebdynamischen Basis der Zivilisation wird bis zum heutigen Tage in stets aufeinanderfolgenden Zyklen der erfahrene Schrecken erinnert, wiederholt, durchgearbeitet.Vgl. Christoph Türcke, Erregte Gesellschaft. Philosophie der Sensation, München 2022. Die Perspektive ist, sich davon zu befreien. Das ist unter Emanzipation zu verstehen. 

In der neolithischen Revolution, in der die Menschen sesshaft wurden und zu Ackerbau und Viehzucht übergingen, bildete sich eine gewisse Balance mit der Natur.Vgl. Manfred Bauschulte, Über das Ende der neolithischen Revolution. Gespräche und Versuche mit Klaus Heinrich, Wien 2012. Dabei entstand eine fragile, wenngleich über mindestens zwölf Jahrtausende hinweg relativ beständige Gesellschaft. Die uns bis heute vertraute, jedoch sukzessive schwindende Art zu denken und wahrzunehmen, entstand in dieser Zeit. Das Menschenopfer wurde durch das von Tieren ersetzt, zugleich wurde die Herrschaft auf große Teile der Gesellschaft ausgeweitet, auf Frauen, Kinder und Sklaven. Das war ein zweiter Zyklus des Erinnerns, Wiederholens und Durcharbeitens, der patriarchale. 

An den Rändern der frühen Gemeinschaften, dort wo diese sich begegneten, trafen die Menschengruppen zunächst in Feindschaft aufeinander, es kam zum Kampf auf Leben und Tod. Dieser wurde zunächst mittels Austausch von Individuen befriedet, später durch den von edlen Metallen ersetzt.Vgl. Bernhard Laum, Heiliges Geld. Eine historische Untersuchung über den sakralen Ursprung des Geldes, Berlin 2022. Der daraus entstehende, durch Geld vermittelte Warentausch breitete sich im gesamten Mittelmeerraum aus. Der Opferzwang wurde auf diese Weise sukzessive als gesellschaftliches Prinzip, als Tauschlogik und Identitätsprinzip, verinnerlicht und säkularisiert. Die tradierte gesellschaftliche Ordnung wurde fortschreitend unterhöhlt, indem zwischenmenschliche Bindungen aufgelöst und versachlicht wurden. 

Auf dieser Grundlage entstand später die kapitalistische Gesellschaft mit ihrem Zwang zum Profit als weiterer Zyklus der Durcharbeitung des Schreckens der Urzeit. Die Produktion wurde dem Tauschwert unterworfen, der sich als Kapital zu einem »automatischen und prozessierenden Subjekt« (Karl Marx) aufspreizte. In der ersten industriellen Revolution trat das Kapital den ArbeiterInnen als Maschinerie entgegen, usurpierte und vernutzte ihre Lebenszeit, wobei die vorherige direkte Ausbeutung durch eine versachlichte ersetzt wurde. Die Grundlagen der Gesellschaft, die sich in der neolithischen Revolution herausgebildet hatten, lösten sich schrittweise auf: Die Sesshaftigkeit, die Familie, die Religion, die Bindung an den Boden, unsere gewohnten Denk- und Wahrnehmungskategorien: Kausalität, Qualität, Quantität, das Geschlecht, schließlich das Individuum selbst, die Schrift, Wissenschaft, Kunst, Religion als vom Leben getrennter sakraler Bereich, Recht und Staat. »Alles Stehende und Ständische verdampft«Karl Marx/Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, in: Marx-Engels-Werke 4, Berlin 1977, 459–546, hier 465.. Zugleich eröffnete diese neue Form von Gesellschaft die Möglichkeit, den Schrecken endgültig aus der Welt zu schaffen und die Menschheit vom Opferzwang zu befreien.  

Die von der Chemie und der Elektronik ausgehende zweite industrielle Revolution war durch »Imperialismus«, Monopole, Fließbandproduktion, intervenierenden Staat, autoritären Charakter, Rassismus und Antisemitismus sowie zwei Weltkriege gekennzeichnet. Das Kapitalverhältnis konstituierte sich in dieser Zeit als gesellschaftlicher Naturzwang. Es verhielt sich selbst als Natur und begann sukzessive damit, seine eigene Existenzbasis zu untergraben. Tiefgreifende gesellschaftliche und psychologische Umbrüche wurden zudem von der Kulturindustrie erzeugt. Ihre Basis war die »technische Reproduzierbarkeit des Kunstwerks« (Walter Benjamin), ausgehend von der Fotografie, die im Film beweglich wurde. 

Nur vor diesem Hintergrund ist die ab Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts einsetzende dritte industrielle, die mikroelektronische Revolution zu verstehen: Diese bildet insofern eine historische Zäsur, als nun tendenziell die menschliche Arbeitskraft grundsätzlich mittels Automatisierung ersetzt werden konnte. Die Ablösung der Zivilisation von der Natur, worauf erstere von Anbeginn zielte, rückt dadurch in greifbare Nähe. Die Produktion wird durch die neuartige Technik umfassend dezentralisiert, was einen Zwang zur politischen Deregulierung nach sich zieht, der schließlich ganze Staaten an den Rand des Kollabierens treibt. Die gesellschaftliche Balance der neolithischen Revolution gerät damit vollends aus dem Ruder. Die sinnliche Wirklichkeit, nicht nur, jedoch stets auch ein Konstrukt, wird sukzessive aufgelöst. Von der sinnlichen Wirklichkeit abgelöst konstituiert sich eine eigenständige, künstlich erzeugte. Die psychischen Energien, bisher auf andere Menschen und gesellschaftliche Institutionen wie den Staat gerichtet, werden auf kybernetische Maschinen wie Smartphones und Laptops umgelenkt. Die Staatsbürger verwandeln sich in Follower. 

Der sich in dieser Zeit zeigende Klimawandel resultiert in seiner Zuspitzung aus der immens gesteigerten Energieumwandlung im Kontext der mikroelektronischen Revolution und der globalen Ausweitung kapitalistischer Produktionsverhältnisse verbunden mit exorbitant steigender Naturvernutzung und Schadstoffausstoß.Vgl. Patrick Tarkowski: Der Einfluss der Digitalisierung auf die Umwelt und das Klima, https://t1p.de/5ebrp. Er erweist sich damit als Moment einer umfassenderen gesellschaftlichen Krise. Den zunehmend auseinanderstrebenden gesellschaftlichen Tendenzen muss entgegengetreten werden. 

 

Das Naturschöne als tertium datur 

Die zwanghaft zyklisch verlaufende und doch selbstgemachte Naturgeschichte vermag aufgebrochen zu werden, indem das Subjekt darauf reflektiert, in doppeltem Sinne Natur, d.h. als sinnliches Wesen einem gesellschaftlichen Naturzwang unterworfen zu sein. Das Naturschöne kann dafür aufgrund seines zwischen Natur und Gesellschaft schwebenden Charakters einen sinnlichen Ansatzpunkt bieten. Es zielt auf die der kapitalistischen Produktionsweise entsprechende Form des Erinnerns, Wiederholens und Durcharbeitens, um den Schrecken der Natur in eine Gestalt zu transformieren, in der diese als schön erscheint, wodurch der Schrecken zu verklingen vermag. Das Naturschöne spricht sich damit sowohl gegen eine sich blind vollziehende Rationalität als auch gegen den Rückfall in irrationale Momente aus, steht also für wirkliche Rationalität, die den Dingen und Menschen nicht äußerlich angetan wird, sondern aus ihnen selbst entspringt. 

Nur unter der Bedingung des technischen Fortschritts und einer industrialisierten Welt konnte sich das Naturschöne überhaupt erst entfalten. Menschen, die blind der Natur unterworfen sind, ihr das Überleben abtrotzen müssen, werden kaum in der Lage sein, sie als schön zu empfinden. Der Schrecken, den die äußere Natur aufgrund ihrer Übermacht über die Menschen über Jahrtausende hinweg innehatte, musste erst zivilisiert werden, um ästhetisch genossen zu werden. So veränderte sich mit dem Einbruch der Industrialisierung auch das Empfinden für das, was als schön galt. Mit dem Aufkommen des Bürgertums rückte die menschlich veränderte Landschaft ins Zentrum des Interesses. Als zunächst scheinbar geschichtslos und unveränderlich wird sie nun als historisch geworden und damit veränderlich kenntlich. Zugleich wird an der Kulturlandschaft deutlich, dass Technik keineswegs per se der Feind der Natur sein muss, sondern ihr als eine veränderte durchaus auch zur Seite stehen könnte.Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Gesammelte Werke 7, Frankfurt a.M. 1970, 101. In diesem Sinne vermittelt das Naturschöne zwischen unberührter Natur und sie angeblich verschandelnder Technik, vermag dergestalt den auf der Menschheit lastenden Schrecken der Urzeit zu mildern. Von der Seite des Subjekts der Wahrnehmung aus betrachtet bricht im Naturschönen die enge (bürgerliche) Bindung zwischen Arbeit und Konzentration einerseits sowie Freizeit und Entspannung andererseits auf.Ebd., 108f. Für einen kurzen Moment zeichnet sich ein mögliches Drittes ab, entspannte Arbeit und konzentrierte Freizeit. Das Naturschöne insistiert auf den nunc stans, den ewigen Augenblick, als Inbegriff menschlicher Erfüllung, befreit von äußerer und innerer Drangsal.Vgl. Türcke, Erregte Gesellschaft, 155. Es ist Einspruch gegen die moderne Welt, jedoch in ihrem Sinne. 

Kaleidoskopisch, zersplittert und gespiegelt artikulieren sich gesellschaftliche und naturhafte Momente im Naturschönen wechselseitig ineinander: das eine vertritt das andere, die kulturell geprägte Landschaft erscheint als Natur und damit Natur als kulturell. Der Schrecken scheint bewältigbar, ohne dass die Natur beherrscht oder zerstört werden müsse, auch ohne den Menschen in sie aufzulösen. Die zwanghaft verlaufende und zugleich selbstgeschaffene Naturgeschichte vermag dabei gleichsam von innen aufgeweicht und angeeignet, ihre Gegensätze ineinander verkehrt und so vermittelt zu werden. So wie Natur in dem Moment, in dem sie der BetrachterIn als schön erscheint, könnte die Welt aussehen, wenn sie nicht vom Kapitalverhältnis deformiert wäre. Sie erschiene dann als für sich selbst und doch zugleich als für den Menschen vorhanden. Dabei leuchtet »rationale Identität« (Theodor W. Adorno) auf, eine Qualität, die den Dingen von sich aus zukommt, ohne dass menschlicher Zwang sie erst dazu bringen muss.Adorno, Ästhetische Theorie, 111.

Gleichwohl ist das Naturschöne, dies macht sein Wesen aus, nicht begrifflich fassbar: es zergeht, sobald es auf den Punkt gebracht werden soll – und doch verlangt es danach, sich zu artikulieren.Ebd., 108.Ohne diese Brechung, die allerdings aus ihm selbst folgt, verkommt es zum pseudo-romantischen Kitsch. Als Chiffre kann es lediglich Zugang zu einem möglichen versöhnten Verhältnis sein. Es bedarf deshalb des Kunstwerks, um es auszuformulieren, da es durch seine beredte Sprache die Stimme der Natur imitiert. Kunst intendiert, das Naturschöne nachzuahmen, ohne es dabei etwa klanglich nachzugestalten oder abzupinseln. Es geht ums Prinzip: die Welt als befreit vom Schrecken, als vollkommen darzustellen, und dabei zugleich zu zeigen, dass es nicht verwirklicht ist. 

 

Aufhebung des Naturschönen in der Kunst 

Anhand der frühen Sinfonik von Gustav Mahler lässt sich prototypisch zeigen, wie das Naturschöne in der Kunst aufgehoben wird. Das klagende Lied, ein umgearbeiteter und transformierter Märchenstoff, beschreibt die Geschichte zweier Brüder, die sich im Wald auf die Suche nach einer geheimnisvollen roten Blume begeben. Eine Prinzessin hatte verkündet, denjenigen zu ihrem Ehemann zu küren, der ihr dieses geheimnisvolle Gewächs bringe. Der jüngere Bruder findet es, steckt es sich hinters Ohr und schlummert auf einer Waldlichtung ein, inmitten einer romantischen Idylle, die alsbald zum Schauplatz äußersten Grauens wird. Die versammelten Vögel, Rotkehlchen und Nachtigallen, versuchen vergebens, ihn aufzuwecken, als sein Bruder herannaht, der ihn hinterhältig erschlägt und sich die Blume aneignet. Ein umherziehender Spielmann findet später die Gebeine des Erschlagenen und schnitzt daraus eine Knochenflöte. Im Unterschied zu den tradierten Märchenstoffen, auf die sich Mahler bezieht, ist bei ihm ein eingreifendes Subjekt nötig: die Flöte fängt nicht von selbst an zu singen, sondern muss geblasen werden. Erst dann beklagt das Instrument mit der Stimme des ermordeten Knaben das ihm angetane Leid. 

Bevor das Instrument erklingt, wird von Mahler musikalisch ein bizarrer Moment hergestellt, in dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verschränkt auftreten. Die Gegenwart verkörpert sich in den Schellen am Fuße des Spielmanns. Das Gezwitscher der Vögel, die an den Mord erinnern, artikuliert die Vergangenheit. Als Fernorchester erklingende Fanfaren greifen schließlich auf die in der Zukunft stattfindende Hochzeit des Brudermörders mit der Prinzessin vor. Die Vergangenheit beherrscht die Gegenwart und bestimmt damit auch die zu erwartende Zukunft. Anschließend tritt äußerste Stille ein, aus der sich hell und kristallklar die klagende Knabenstimme der Knochenflöte erhebt. Sie greift in die Gegenwart ein, indem sie den Schrecken der Vergangenheit artikuliert und damit auch die Zukunft verändert. Denn die Gäste der bald darauf stattfindenden Hochzeit geraten in panischen Schrecken, als der Spielmann auftaucht und die schaurige Weise erklingen lässt. Der Brudermörder und angehende König versucht, seine Unschuld zu beteuern und das Instrument der Lüge zu überführen, indem er selbst darauf musiziert: auf dem Knochen des von ihm erschlagenen Bruders! Doch das Unterfangen scheitert kläglich, als die Flöte ihm die Melodie seiner begangenen Untat vorspielt (»Du lieber Bruder mein, Du hast mich ja erschlagen«), woraufhin das Königspaar erstarrt, die Hochzeitsgesellschaft flieht und die Schlossmauern im Erdboden versinken. 

Kompositorisch vollzieht sich das Stück als Abfolge sich wandelnder Leitmotive, die die Stimme des sich von Natur und Tradition emanzipierenden Subjekts artikulieren. In dieses sinfonische Geflecht sind die drei sich steigernden Klagestrophen der Knochenflöte eingehängt. Derartige musikalische Lyrik stand herkömmlich für den Einklang des Individuums mit der Natur bzw. dem Kosmos. Doch das Stück ist so angelegt, dass auf der einen Seite das sinfonische Geflecht keine Befreiung, sondern ein katastrophales Verhängnis, eine objektivierte Schicksalsmacht artikuliert. Auf der anderen Seite gewinnen die Klagestrophen der Knochenflöte immer stärker an Intensität und Umfang und treiben so das sinfonische Gerüst von innen zum Zerbersten. Die Klage der Knochenflöte weicht das objektive Verhängnis auf: Mit dem Tausch der Rollen von Lyrik und Dramatik, Sprache und Musik, erscheint das Subjekt als Objekt, Geschichte als Natur, Fortschritt als Stillstand, das Individuum als Gesellschaft, und je umgekehrt. In der Art, wie das Stück komponiert ist, verkehren sich zentrale Gegensätze ineinander. Die Flöte ist aus Totenbein geschnitzt, worin sich zeigt, dass Subjektivität auf blutiger Gewalt basiert und seine Intention darin bestehen muss, sich selbst und damit auch das Grauen, auf dem es gründet, aufzuheben. 

In der Knochenflöte treten die Gegensätze künstlerisch gestalteter menschlicher Lautäußerung, Gesang und instrumentale Musik zusammen, womit das Naturschöne als Prinzip imitiert wird. Als Musik und Sprache fügen sich die Gegensätze nicht schlicht ineinander, sondern vertreten sich wechselseitig: Als Instrument erklingt es als menschliche Stimme, währenddessen es als Stimme das Instrument artikuliert. Beide bekunden wechselseitig, dass das je entgegenstehende Moment noch aussteht. Die Utopie (die Vision der gebrochenen Einheit des sowohl sprechend-singenden als auch singend-sprechenden Menschen) wird dargestellt und zugleich zurückgenommen, somit kein heiles Ganzes anvisiert. Die Vision wird zudem am Ende des Stückes, nach dem Versinken des Schlosses, durch einen abrupten a-Moll-Schlag des gesamten Orchesters abgebrochen und damit als praktisch nicht-realisiert ausgewiesen. Genau an dem Punkt, an dem die Gegensätze zusammentreffen, wo Versöhnung verwirklicht scheint, lässt der Komponist den gesamten Prozess kollabieren. Kunst kann den Weg nur weisen, ihn jedoch nicht gehen. Dies bleibt der menschlichen Praxis vorbehalten. 

Mahler intendiert, die Gegensätze zu verschmelzen, versöhnt sie immanent, zeigt, wie es sein sollte und weist dieses Bild zugleich als nicht-verwirklicht aus. Mit seiner Artikulation des Naturschönen greift er auf ein »Eingedenken der Natur im Subjekt« vor und reflektiert damit implizit auf den Grund, warum die von Marx erhoffte Befreiung unterblieb. Er liefert damit einen Ansatzpunkt für ein neues Verständnis von Emanzipation. Das klagende Lied beginnt mit dem Brudermord. Es kennt keinen heilen Ursprung, von dem sich das bisherige Geschehen abstößt, um wieder bei ihm anzugelangen. Die Geschichte vollzieht sich nicht als kontinuierlich verlaufender Fortschritt, sondern eher als sich wiederholendes Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten, mit dem Ziel der Aufhebung des Leids, das den Ausgangspunkt darstellt. Kunst zeigt so der Gesellschaft wie Erlösung aussähe, aber nur auf negative Weise, indem sie zeigt, was fehlt. 

 

Probleme der Emanzipation 

Wie sind Mensch und Natur wahrhaft zu versöhnen, der auf der Menschheit liegende Schrecken zu bannen und die divergierenden gesellschaftlichen Tendenzen zu einen? Das läuft auf die Frage hinaus, wie Emanzipation möglich ist, ohne dass diese dem verderblichen Rekurs auf einen Ursprung oder ein heiles Ganzes verfällt. Bisher wurde Emanzipation überwiegend als aufgehobene Entfremdung gedacht. Dabei werden Zwänge gebrochen, indem gleichzeitig neuartige entstehen: Das Subjekt dieser Art von Befreiung basiert auf jener Herrschaft, gegen die sie einspricht. Im Ursprung und im angeblich heilen, additiv zusammengefügten Ganzen lauert aber das archaische Opfer, die unmittelbare Herrschaft. Wird das nicht reflektiert und durchgearbeitet, droht der Rückfall. Das Naturschöne bietet ein Modell von Emanzipation, die ihr Versprechen tatsächlich einlöst. 

Vertreter des linken Flügels der Klimabewegung weisen unter Rekurs auf die marxsche Gesellschaftstheorie mit Recht darauf hin, dass der Profit- bzw. Verwertungszwang der kapitalistischen Gesellschaft beendet werden müsse, um die katastrophische Entwicklung umzukehren.Vgl. Christian Hofmann/Philip Broisted, Goodbye Kapital. Die Alternative zu Geld, sozialem Elend und ökologischer Katastrophe, Köln 2022, außerdem das Papier »Kapital kann kein Klima«, https://t1p.de/iq1cv.Die aus dem Verwertungszwang resultierende rücksichtslose Ausplünderung natürlicher Ressourcen treibe unweigerlich alle ökologischen Systeme in den Kollaps. Als ursächlich dafür gilt mit Marx die durch den Wert vermittelte kapitalistische Warenproduktion, die sich als menschlich geschaffener und damit gesellschaftlicher Naturzwang formiert. Eine derartige Gesellschaft muss endlos wachsen und könne deshalb nicht im Sinne einer Befriedigung menschlicher Bedürfnisse oder mit Rücksicht auf natürliche Grundlagen geplant werden.  

Autoren wie Christian Hofmann, Philip Broistedt und Co. schleppen zentrale Irrtümer der klassischen Ökonomie, einschließlich von Marx, mit sich fort: Das Geld erscheint ihnen als Resultat des Warentauschs.Vgl. beispielhaft für viele andere: »Dass die Emissionen dennoch nicht gesunken sind, sondern immer weiter steigen, liegt nicht daran, dass die Dringlichkeit nicht klar wäre – sondern dass dem systemische Ursachen entgegenstehen, allen voran der Wachstumszwang des kapitalistischen Systems. Das ist allerdings ein Aspekt, den die Wissenschaftler*innen […] konsequent ignorieren« (Juliane Schumacher, Wenn alles kippt, in: Analyse & Kritik vom 20.06.2023).  Als zunächst neutrales Austauschmittel hätte es sich in der Zirkulation verselbständigt, im Tausch erscheinen gesellschaftliche Verhältnisse als natürliche und umgekehrt. Niemals in der Geschichte der Menschheit existierte jedoch ein derartiger Austausch, aus dem das Geld hervorgegangen sein könnte.Vgl. David Graeber, Schulden. Die ersten 5000 Jahre, Stuttgart 2022, 34f.  Die magische Selbstverwertung des Werts als Kapital entspringt nicht dem quid pro quo von Ware gegen Ware. Das Geld gründet vielmehr im sakralen Bereich, ist Ausdruck der Schreckensbewältigung, die das Grauen in sich konzentriert und mit sich fortschleppt. 

Die Vorstellung von der Herkunft des Geldes aus dem Tausch knüpft an die Entfremdungstheorie an, die Marx 1844 in den Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten darlegte: Infolge des Privateigentums an den Produktionsmitteln werden die ArbeiterInnen ihrer Produkte enteignet. Deshalb produzieren sie in ihrer Arbeit keineswegs sich selbst, sondern vielmehr eine ihnen gegenüberstehende, fremde und sie beherrschende Macht. Diese Entfremdung des Produkts von der ArbeiterIn bewirke nicht nur die von der eigenen Tätigkeit, sondern auch die von der Natur, der menschlichen Gattung, den Mitmenschen und sich selbst. Hinter diesem Konzept steht jedoch uneingestanden die Vorstellung eines heilen Ursprungs, in dem die Menschen noch mit sich, ihrer Arbeit, der Natur und der Gattung identisch gewesen wären. Die Geschichte der Menschheit erscheint als kontinuierlicher Fortschritt, nicht als zyklisch sich wiederholendes Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten des Urschreckens. 

An der Fetischkritik als dem theoretischen Kern der Lehre von Marx ist indes unbedingt festzuhalten: Die kapitalistische Gesellschaft vollzieht sich tatsächlich als ein von ihren AkteurInnen konstituierter gesellschaftlicher Naturzwang, und die Menschen sind in der kapitalistischen Gesellschaft wirklich zu Warensklaven degradiert. Aber der Zwang gründet nicht im Wert, dessen Substanz die abstrakte Arbeit wäre. Das Identitätsprinzip ist wesentlich älter als die kapitalistische Produktionsweise. Es besteht nicht in der Konstitution eines »Wertgesetzes« (Friedrich Engels), das den Austausch der Produkte hinter dem Rücken der Akteure reguliert. Es ist nicht aus der einfachen Formel des Warentausches (x Ware A = y Ware B) abzuleiten, der in der Tat profan ist und aus dem keinerlei (pseudo-)religiöse Verschleierung folgt. Um den Tausch zu verstehen, müssen wir in keine »Nebelregion der religiösen Welt« flüchten. Das Kapital ist nicht Gott. Wenn Marx es so benennt, ist das zwar nicht gänzlich falsch, insofern es sich über die Köpfe der Menschen hinweg vollzieht. Aber es verspricht keine Erlösung und seine Gewalt entspringt keineswegs aus ihm selbst. 

Das Mystische an den Waren resultiert vielmehr aus der sakralen Wurzel des Tausches, der aber zunächst keiner von Waren war, sondern sich erst viel später auf diese übertrug. Das Grauen des Menschenopfers lebt verdeckt, rationalisiert im Warentausch, fort, daraus resultiert sein mystischer Charakter. Der gesellschaftliche Naturzwang, der sich als Akkumulation des Kapitals vollzieht, ist ein weiterer Zyklus des Erinnerns des Schreckens mit dem Ziel, ihn zu lösen. Marx verkennt diesen triebdynamischen Charakter des Kapitals. 

 

Umkehr 

Die zwingend notwendige Umkehr darf nicht auf der Sehnsucht nach einer Rückkehr zu einem heilen Ursprung und einem vollkommenen Ganzen gründen. Der Klimawandel ist, wie gezeigt, Moment einer umfassenderen Krise, die ein anderes Verhältnis des Menschen zur Natur und seinesgleichen notwendig macht. Entweder zerfällt der gesellschaftliche Zusammenhang, verbunden mit einem Rückfall in barbarische Zustände vor der neolithischen Revolution, deren Bedingungen sich aktuell unhintergehbar auflösen – oder es gelingt, diesen Zerfallsprozess in Regie zu nehmen, um ihn vernünftig zu gestalten. Mit dem herkömmlichen Konzept von Emanzipation ist das jedoch aus genannten Gründen schwerlich zu bewerkstelligen. Das Naturschöne zeigt, dass und wie das Modell zu korrigieren ist: Eine gesellschaftliche Aneignung der Produktionsmittel könnte erneut bzw. überhaupt erstmalig auf die Tagesordnung rücken, wenn sie die mit der Digitalisierung untrennbar verbundene Dezentralisierung der Produktion und das dezentrale Vordringen »hochtechnologischer, erschwinglicher Personal Producer […] in alle Poren der Gesellschaft«Christoph Türcke, Digitale Gefolgschaft. Auf dem Weg in eine neue Stammesgesellschaft, München 2019, 233f. nutzbar macht. 

Namentlich das Tauschprinzip ist dabei aber weder durch eine Revolution abzuschaffen noch die auf ihm basierende kapitalistische Gesellschaft beizubehalten, sondern vielmehr gilt es das Tauschprinzip zu erfüllen, damit es überschritten und der damit verbundene Schrecken gelöst werden kann. »Würde keinem Menschen mehr ein Teil seiner lebendigen Arbeit vorenthalten, so wäre rationale Identität erreicht und die Gesellschaft wäre über das identifizierende Denken hinaus«Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, Gesammelte Werke 6, Frankfurt a.M. 2003, 150.. Das Versprechen der kapitalistischen Gesellschaft, die Menschen von jedwedem Opferzwang zu befreien, ist einzulösen und ihre Aufhebung ist so zu konzipieren, dass es möglich wird, die Tauschlogik in eine Form zu bringen, in der sie verklingen kann. 

Gegen den derzeit drohenden bzw. bereits fortgeschrittenen Zerfall der Weltgesellschaft in sich bekämpfende Clanwesen ist eine Revolution zu konzipieren, die dem Selbstzerstörungsprozess der Zivilisation in die Arme fällt. Das wäre ein der fortschreitenden Globalisierung, Digitalisierung und Erderwärmung angemessenes Konzept von Revolution, die nicht als »Lokomotive der Weltgeschichte«, sondern als die darin von den Menschen betätigte »Notbremse« (Walter Benjamin) fungiert. Vorstellungen von Emanzipation sollten nicht auf den »ganzen Menschen«, einen heilen Ursprung oder eine verwirklichte Totalität zielen. Emanzipation muss sich aufs Objekt wenden, das Verdrängte befrieden, zivilisatorische Errungenschaften und Fähigkeiten bewahren, ästhetische und sinnliche Kriterien bei der Produktion von Anbeginn in Anschlag bringen. In die revolutionäre Konzeption sind also durchaus konservative Momente hineinzunehmen, die als solche zunächst als fremd, gar reaktionär erscheinen mögen. 

Emanzipation muss die Gegensätze von innen zu versöhnen trachten, ihre Einheit nicht additiv bewerkstelligen. Nur wenn sie die Befreiung von der Natur mit jener der Natur vereint, vermag sie deren Zerstörung zu beenden. Emanzipation muss sich selbst in Frage stellen, wenn sie erfolgreich sein möchte. Das Naturschöne kann dabei sowohl Impulsgeber als auch Kompass sein. Dazu bedarf die Menschheit der Natur selbst als Bündnispartner, anstelle eines Verhältnisses der Feindschaft oder Verschmelzung. Nur so könnte der Bann des Schreckens gelöst werden, wäre ein vollendeter Humanismus gleich Naturalismus und ein vollendeter Naturalismus gleich Humanismus denkbar, wie Marx in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten unnachahmlich beschreibt: die Einheit des naturalisierten Menschen mit einer humanisierten Natur. 

 

Martin Dornis 

Der Autor schrieb über Gustav Mahlers Sinfonien, die dem Tod seine eigene Melodie vorspielen, und arbeitet aktuell an einer »Dialektik des Sprechgesangs«.