Kritischer Marxismus zwischen Staat, Repression und Selbstverwaltung

Zur Geschichte der jugoslawischen Praxis-Gruppe

Wird in der deutschsprachigen Presse über das ehemalige Jugoslawien berichtet, ist meist von politischer Instabilität und ethnischen Konflikten die Rede. Leider nicht gänzlich zu Unrecht: Der sozialistische Vielvölkerstaat Jugoslawien zerfiel, während der neunziger Jahre begleitet von blutigen (Bürger-)Kriegen zwischen den ehemaligen Brüdervölkern, die sich an neu angefachten Nationalitätenkonflikten entzündeten. Diese haben ihren Teil dazu beigetragen, dass für die Balkanregion bis zum heutigen Tage der pejorative Beiname »Pulverfass Europas« in Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln auftaucht.Vgl. Marie-Janine Calic, Südosteuropa. Weltgeschichte einer Region, München 2016, 685. Vielfach übersehen wird dabei die in politischer Hinsicht ambivalente wie vielschichtige Geschichte Jugoslawiens, was insbesondere für eine heutige Linke tragisch ist: Der Vielvölkerstaat verkörperte einen dezidiert anderen sozialistischen Weg als die Sowjetunion, setzte ganz zentral auf Arbeiterselbstverwaltung und garantierte seinen Einwohner:innen – im Gegensatz zu anderen realsozialistischen Staaten – weitestgehend bürgerliche Freiheiten. Damit stellt der dritte Weg, wie das jugoslawische Modell auch bezeichnet wurde, einen alternativen Anknüpfungspunkt im Gegensatz zu dem durch Stalinismus und seine Gräuel desavouierten Sowjet-Sozialismus dar. In Jugoslawien entstand ein Klima gesellschaftlicher Diversität, was die Entwicklung einer undogmatischen Marx-Interpretation durch Intellektuelle, Professor:innen und Studierende begünstigte. Diese sammelten sich als Gruppe um die Zeitschrift Praxis. Die sogenannte Praxis-Gruppe war international vernetzt. So orientierte sie sich am westlichen Marxismus und ihre Texte wurden im Ausland zur Kenntnis genommen. Dieser Beitrag soll dazu beitragen, an den theoretischen Ansatz der Praxis-Gruppe zu erinnern, indem in ihre Geschichte eingeführt wird. 

 

Jugoslawien – vom Stalinismus zur Selbstverwaltung 

Die theoretische Entwicklung der Praxis-Gruppe lässt sich nur vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen und politischen Entwicklung Jugoslawiens unter Josip Broz Tito, der diesem bis zu seinem Lebensende vorstand, sowie dessen Auseinandersetzungen mit der Sowjetunion unter Josef Stalin, verstehen. Zwar sind die Thesen der Gruppe einerseits verallgemeinerbar, insofern sie nicht auf Jugoslawien begrenzt sind, sondern allgemeinen Fragen nach dem Menschen im Kapitalismus, seiner Entfremdung, dem Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft und der Gefahr ihrer Bürokratisierung nachgehen. Andererseits sind die gefundenen Lösungen Antworten auf konkrete Fragen, die sich aus der spezifischen Situation Jugoslawiens ergaben und eine wohlwollende (Selbst-)Kritik an der eigenen historischen Entwicklung darstellen. 

Die Kommunistische Partei Jugoslawiens (KPJ) befreite als Teil einer Allianz einzelner Partisanengruppen noch vor der deutschen Kapitulation am 8. Mai 1945 weite Teile des Landes und errichtete ab 1941 lokale Befreiungskomitees. Diese hatten die Aufgabe alle sozialen Angelegenheiten des noch jungen staatlichen Gebildes zu regeln und somit eine reale Gegenmacht zur deutschen Besatzung bzw. den faschistischen Verbündeten des Deutschen Reichs zu errichten.Vgl. Jean-Arnault Dérens/Catherine Samary, Partisanen: Vom antifaschistischen Befreiungskampf zur sozialistischen Republik, in: Paul Michel (Hrsg.): Die jugoslawische Arbeiterselbstverwaltung – Licht und Schatten, Köln 2020, 21–27, hier 23. Bereits 1943 wurde eine neue Regierung gebildet, in die anfangs noch die monarchistischen Tschetniks – die sowohl mit den Deutschen kollaborierten, als auch Widerstand leisteten, gegen die Kommunist:innen kämpften und eine Exil-Regierung in Großbritannien bildeten – miteinbezogen wurden. Nach der vollständigen Befreiung vom Faschismus und Nationalsozialismus durch die Allianz – die Alliierten spielten lediglich eine unterstützende Rolle – wurden 1945 erste Wahlen abgehalten, die das Volksfront-Bündnis, das maßgeblich von Tito und der KPJ angeführt wurde, mit 90 Prozent gewann.Über die Seriosität der Wahl liegen keine historisch fundierten Quellen vor. Die Popularität der Volksfront Titos war in der jugoslawischen Bevölkerung zu diesem Zeitpunkt jedoch hoch. Damit war der weitere Weg vorgezeichnet. Es sollte unter Führung der KPJ ein sozialistischer Staat aufgebaut werden. Verbunden mit diesem waren massenhafte Hinrichtungen von politischen Gegner:innen und Konkurrent:innen. Obwohl es schon während des Zweiten Weltkrieges zu Unstimmigkeiten zwischen Tito und Stalin gekommen war, orientierte sich der Aufbau des jugoslawischen Staates ideologisch wie praktisch zunächst am sowjetischen Modell des Sozialismus. Es wurde eine Verfassung nach sowjetischem Vorbild verabschiedet, Unternehmen, Wohngebäude und Bauland verstaatlicht und 1947 der erste Fünfjahresplan verabschiedet.Vgl. Milojko Drulović, Arbeiterselbstverwaltung auf dem Prüfstand – Erfahrungen in Jugoslawien. Bonn 1976, 36 ff. 

Bereits ein Jahr später kam es zum Bruch zwischen den beiden Staatsführern. Die Sowjetunion verhängte ein Embargo gegen Jugoslawien und verleumdete Tito als Faschisten und Nationalisten. Ab diesem Zeitpunkt setzte in Jugoslawien eine Neuorientierung ein. Unter dem Druck wachsender wirtschaftlicher Not wurden neue Wege gesucht, um den Sozialismus aufzubauen. Zur Orientierung dienten dabei Ideen der Arbeiter:innenselbstverwaltung und das Vorbild der Pariser Kommune. Ab 1949 wurden in ersten Betrieben Selbstverwaltungsstrukturen erprobt und bereits ein Jahr später ein Gesetz erlassen, wonach alle Betriebe in dieser Form kollektiviert wurden.Vgl. Ebd. 43f. Bei Drulović findet sich eine ausführliche Darstellung, wie Betriebe verschiedener Größe organisiert wurden. Eine Kurzdarstellung findet sich in: Frederik Fuß, Selbstverwaltung und Gesellschaft, in: Tsveyfl – dissensorientierte Zeitschrift 3 (2022), 37–49. Die Selbstverwaltung blieb aber nicht auf die Betriebe beschränkt, sondern wurde im Zuge mehrerer Reformen auf immer weitere Teile des gesellschaftlichen Lebens und der Verwaltung ausgedehnt: So wurden der Kulturbetrieb, das Gesundheitswesen und der Bildungssektor in Selbstverwaltung betrieben. Dem Zentralstaat wurde zudem eine starke lokale und regionale Autonomie entgegengestellt, also unterstützend auf föderative Elemente gesetzt. 

 

Die Praxis-Gruppe 

Die Abkehr vom Stalinismus schuf Möglichkeiten theoretische wie ideologische Bezüge vielfältiger zu gestalten und eröffnete damit einen gewissen Spielraum für politische Interpretationen. Auch von der Parteilinie abweichende Auslegungen wurden nicht zwingend verfolgt.Die Freiheit zum kritischen Denken blieb relativ und wurde immer wieder willkürlich unterbunden. Vgl. Nenad Stefanov, Praxis. Ideen, Debatten, Handlungsformen kritischer Intellektueller im sozialistischen Jugoslawien, in: Đorde Tomić/Roland Zschächner/Mara Puškarević u.a. (Hrsg.), Mythos Partizan. (Dis-)Kontinuitäten der jugoslawischen Linken. Geschichte, Erinnerungen und Perspektiven, Münster 2013, 286–301, hier 289. In dieser Situation hielten der Zagreber Philosoph Gajo Petrović und der Soziologe Rudi Supek mit weiteren Intellektuellen 1963 die erste internationale Sommerschule auf der Insel Korčula ab. Diese fand von da an bis 1974 regelmäßig statt und entwickelte sich zu einem Ort des Zusammentreffens kritischer Marxist:innen aus dem westlichen Ausland. Aus dem Kreis der Organisator:innen und Teilnehmer:innen wurde ein Jahr darauf die Zeitschrift Praxis gegründet. Saß das Redaktionskomitee der ersten Ausgabe noch komplett in Zagreb,Das gilt für Branko Bošnjak, Danko Grlić, Milan Kangrga, Ivan Kuvačić, Rudi Supek und Predrag Vranicki; vgl. Gajo Petrović, Die Revolution denken, in: Fritz J. Raddatz (Hrsg.), Warum ich Marxist bin. München 1978, 193–213, hier 202f.der Hauptstadt der kroatischen Teilrepublik, bildete sich bald auch in Belgrad, der Hauptstadt der serbischen Teilrepublik, ein Kreis Intellektueller, die an der Zeitschrift beteiligt waren. Die Zusammenarbeit über die Grenzen der verschiedenen Teilrepubliken hinweg verdeutlicht, dass es sich nicht um ein von einem ›nationalen‹ Zentrum aus geleitetes, sondern um ein gesamtjugoslawisches Projekt handelte. 1965 erfolgte die Umbenennung der Zeitschrift in Praxis International und im Folgejahr die Erweiterung um einen internationalen Redaktionsrat.Vgl. ebd. Im internationalen Redaktionsrat befanden sich u.a.: Zygmut Baumann, Ernst Bloch, Erich Fromm, Lucien Goldmann, Jürgen Habermas, Agnes Heller, Henri Lefèbvre und Georg Lukaćs; vgl. Ursula Rütten, Am Ende der Philosophie? Das gescheiterte »Modell Jugoslawien« – Fragen an Intellektuelle im Umkreis der PRAXIS-Gruppe, Klagenfurt 1993, 185f. 

Im Gegensatz zu allgemeineren Auffassungen, in denen der Begriff der »Praxis« als Gegenstück zu demjenigen der »Theorie« fungiert, verstanden die jugoslawischen Philosoph:innen unter Praxis jede Form des Denkens und Handelns. In den Worten der Gruppe: die »Tätigkeit, in der der Mensch seine Welt und sich selbst verwandelt und schafft«Gajo Petrović, Wider den autoritären Marxismus, Frankfurt a.M. 1967, 75.. Damit ist sie Schöpfung und Veränderung von Welt und Mensch durch den Menschen. Folglich handelt es sich um eine menschliche Tätigkeit, die sich materiell und ideell vollzieht und den Menschen als solchen definiert. Nach Petrović ist sie ein »bestimmter Modus des Seins, der einem bestimmten Seienden eigentümlich ist, der alle anderen Modi des Seins transzendiert und sich von ihnen grundsätzlich unterscheidet«Ebd. 114. . Karl Marx folgend sahen die Mitglieder der Praxis-Gruppe die Notwendigkeit, die Klassengesellschaft mit ihrem Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit zu überwinden und die Welt so einzurichten, »dass sich jedes Individuum nach seinen spezifischen Fähigkeiten und Notwendigkeiten autonom als Wesen der Praxis verwirklicht«Mihailo Marković, Gleichheit und Freiheit, in: Frederik Fuß (Hrsg.), Der vergessene Marxismus. Beiträge der jugoslawischen Praxis-Gruppe, Moers 2019, 229–252, hier 233.. Zu betonen ist hierbei, dass mit der so gesetzten ontologischen Bestimmung keine Essenz des Menschen fixiert werden sollte, sondern ein radikal offenes Bild vom Menschen angestrebt wurde. Diese Festlegung soll dem Verständnis der Gruppe nach als antiontologische Ontologie verstanden werden: »Das Wesen des Menschen liegt allein in der historischen Möglichkeit beschlossen, jener Mensch zu werden der er heute noch nicht ist.«Miladin Životić, Proletarischer Humanismus. Studien über Menschen, Wert und Freiheit, Moers 2020, 19. 

 

Der ›ganze‹ Marx 

Ihren Begriff der Praxis leitete die Gruppe vor allem aus den Frühschriften von Karl Marx ab. Er wurde als Denker verstanden, »der alle Impulse, die von den philosophischen Disziplinen und von Einzelwissenschaften wie der Ökonomie kommen, vereinigt und sie damit zugleich überstiegen oder überbrückt hat.« So sei »Marx ein ›Philosoph‹, das heißt ein Denker, der die Philosophie transzendiert, ohne sie zu verwerfen«.Milan Kangrga/Gajo Petrovic, »Die Pariser Kommune ist unser Weg«, in: Georg Wolff (Hrsg.), Wir leben in der Weltrevolution. Gespräche mit Sozialisten, München 1971, 71–82, hier 76. Seine späteren ökonomischen Schriften wurden als konsequente Fortführung mit zum Teil anderen Begriffen interpretiert.Vgl. Mihailo Marković, Entfremdung und Selbstverwaltung, in: Ernst Mohl (Hrsg.), Folgen einer Theorie. Essays über ›Das Kapital‹ von Karl Marx, Frankfurt a.M. 1969, 178–204, hier 182f. Diese Sichtweise findet sich ebenso bei anderen Marxist:innen, wie Roman Rosdolsky; vgl. Roman Rosdolsky, Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen »Kapital«, Frankfurt a.M./Wien 1969, 15. Mit diesem Verständnis wandten die Mitglieder sich dezidiert gegen eine Trennung des Marxschen Werks in ein Frühes, philosophisch-idealistisches, und ein Reifes, ökonomisches. 

Dieses Beharren auf einer Kontinuität im Marxschen Denken führte die Praxis-Gruppe zu fruchtbaren Auseinandersetzungen mit den Theoretiker:innen der Frankfurter Schule und deren Marx-Interpretation. Eine zentrale Stellung für die Auseinandersetzung nahm die Dissertation Alfred Schmidts, als Vertreter der zweiten Generation Kritischer Theoretiker:innen, ein.Vgl. Alfred Schmidt, Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx, Frankfurt a.M. 1962. Die von Schmidt vertretene Position führte aus Sicht der Praxis-Gruppe erstaunlich nahe an dogmatische Marx-Interpretationen heran und weckte deswegen Widerspruch. Die Aufspaltung des Marxschen Werks nach sowjetischer Lesart betrachteten die jugoslawischen Philosoph:innen als eine theoretische Verengung, die den Theoretikern der Frankfurter Schule jedoch nicht vorgeworfen werden kann. Marx hatte, so die Position der Praxis-Gruppe, eben kein System konstruiert. Dieses habe erst der Stalinismus nachträglich geschaffen. Konsequenterweise kritisierten die Gruppenmitglieder den Stalinismus als Negation des Marxismus und eine »pseudophilosophische Rechtfertigung der Sklaverei«.Petrović, Revolution denken, 200. Hier soll nicht suggeriert werden, Petrović hätte die Frankfurter Theoretiker mit Stalinisten gleichgesetzt, was er allerdings den ›neuen Philosophen‹ in Frankreich attestierte, ohne jedoch konkrete Namen zu nennen. Höchstwahrscheinlich bezog Petrović sich damit auf den französischen Strukturalismus und dabei insbesondere auf Althusser; vgl. ebd., 208. 

Damit der Mensch sich als Wesen der Praxis entfalten könne, müsse er die Verhältnisse, die ihn entfremden und unterjochen, die jedoch von ihm selbst erzeugt wurden und durch sein Handeln reproduziert werden, überwinden. Aus den gesellschaftlichen Erfahrungen der Geschichte Jugoslawiens leiteten die Mitglieder der Praxis-Gruppe die Forderung nach einer Arbeiterselbstverwaltung ab, was mit einem radikalen Antietatismus verknüpft war.Vgl. Gajo Petrović, »Bürokratischer Sozialismus«?, in: Fuß, Der vergessene Marxismus, 112–121, hier 120f. Darin stimmte die Praxis-Gruppe mit Edvard Kardelj überein, einem der führenden Theoretiker des Titoismus, der eine ähnliche Forderung mit den Marxschen Schrift zur Pariser Kommune begründete. In den Augen der Gruppe sollte diese Selbstverwaltung allerdings nicht auf den ökonomischen Bereich, also vor allem Betriebe, beschränkt bleiben, sondern das gesamte gesellschaftliche Leben umfassen. Es reiche zum Beispiel nicht, den Arbeiter:innen Kulturgüter zugänglich zu machen. Kultur müsse von diesen ebenfalls in Eigenregie als gesellschaftliches Gut hervorgebracht werden. Ähnliche Vorstellungen bestanden für die politische Sphäre und die öffentliche Verwaltung, die anfangs staatlicherseits gebildet worden waren. Dafür müssten Selbstverwaltungsstrukturen auf jeder kommunalen Ebene geschaffen werden – konkret auf der Ebene von Land, Kreis, Stadt, Viertel, Straße und Haus.Vgl. Predrag Vranicki, Marxismus und Sozialismus, Frankfurt a.M. 1985, 209. Das Verhältnis der Praxis-Gruppe zum realexistierenden jugoslawischen Staat war jedoch nicht ganz so eindeutig, wie es an dieser Stelle erscheinen mag: Zwar wurde der Staat an sich als Ausdruck der Klassenherrschaft und der menschlichen Entfremdung abgelehnt, seine Überwindung wurde aber als langwieriger Prozess gesehen, der nicht mit einem Male vonstatten gehen könne. Sobald im sozialistischen Staat Selbstverwaltungsstrukturen aufgebaut worden seien, wäre der Staat kein Staat im eigentlichen Sinne mehr, sondern befände sich im Um- oder Abbau.Vgl. ebd. 92; Mihailo, Marković, Dialektik der Praxis, Frankfurt a.M. 1969, 114. Damit orientierten sie sich am leninschen Begriff des »Halb-Staat[es]«Wladimir Iljitsch Lenin, Staat und Revolution. Die Lehre des Marxismus vom Staat und die Aufgabe des Proletariats in der Revolution, in: Ausgewählte Werke, Bd. 3, Berlin 1970, 480.   und nahmen explizit daraus resultierende Widersprüche in Kauf, auf die in der Gruppe unterschiedlich reagiert wurde. Mihailo Marković versuchte die Gegensätzlichkeit, die sich aus den Ansprüchen einer zentralen Kontroll- und Lenkungsinstanz und einer autonomen dezentral organisierten Basis ergab, dialektisch in eine Art dezentralisiertem Zentralismus aufzulösen. Diesen betrachtete er als generelle Fahrtrichtung der Selbstverwaltung.Vgl. Marković, Entfremdung, 202 ff.

 

Repression und Auflösung 

Obwohl die Praxis-Gruppe nicht in Opposition zum jugoslawischen Staat stand, gab es von Anfang an Spannungen zwischen beiden. Nach der Niederschlagung der Proteste von Studierenden im Jahr 1968, die gegen bürokratische Strukturen und für einen konsequenten Sozialismus auf die Straße gingen und Universitäten besetzten, verschärfte sich der Ton gegenüber der Gruppe. Ihre Mitglieder wurden als Ideengeber:innen für die Proteste verantwortlich gemacht und sogar als Feinde des Sozialismus und als Stalinisten verunglimpft. Tito selbst wird die Aussage zugeschrieben, dass es für sie keinen Platz an der Universität geben dürfe.Vgl. Redaktionskomitee der Studentenzeitschrift Tribuna, Zur Geschichte des Konflikts, in: Rütten, Ende der Philosophie, 202 ff. Im Nachgang der Proteste begann der sukzessive Ausschluss der Gruppenmitglieder – erst aus der kommunistischen Partei und ihren Vorfeldorganisationen, danach aus den Universitäten. Die Gelder für die Zeitschrift wurden sukzessive gekürzt und damit schließlich ihr Erscheinen verunmöglicht. In der Folge zerfiel die Gruppe sukzessive bis 1975 schließlich ein formales Publikationsverbot erlassen wurde.  

Ihre Mitglieder gingen entweder ins Ausland oder hielten sich in den folgenden Jahren politisch bedeckt. Nach Titos Tod 1980 öffnete sich für einige der ehemaligen Gruppenmitglieder der Weg zurück an die Universitäten. An das gemeinsame theoretische Projekt knüpfte allerdings keiner von ihnen wieder an. Stattdessen wandten sich die ehemaligen Mitglieder unterschiedlichsten theoretischen Richtungen zu: Einige liebäugelten mit den damals in ihrer Blüte stehenden postmodernen Theorien, andere wandten sich dem bürgerlichen Liberalismus zu und wieder andere – wie Mihailo Marković – landeten Anfang der neunziger Jahre beim serbischen Nationalismus. 

Mit der Auflösung der Praxis-Gruppe geriet ihr Theoriekonzept insbesondere auch außerhalb Jugoslawiens in Vergessenheit. Dabei lohnt es sich, genau dieses wieder in Erinnerung zu rufen. Es ist ein Beispiel der ambivalenten wie vielschichtigen Theoriegeschichte(n) jenseits des realsozialistischen Staatskapitalismus ist. Das Theoriekonzept reflektierte die besondere historische Situation Jugoslawiens und bot so einen alternativen Ansatz zur Veränderung der Gesellschaft und unserer Selbst: Aufhebung der Entfremdung durch kollektive Selbstverwaltung. Im Zentrum stand dabei der Mensch als Wesen der Praxis. Anhand dieses Zugriffs lässt sich begründen, wieso es Strukturen der Selbstverwaltung bedarf und wie sie einzurichten sind – sie müssen die Möglichkeit bieten, schöpferisch tätig zu sein sowie Gegenständlichkeit zu erfahren. Vorstellungen staatlicher Gebilde in denen Macht zentralisiert ist, wie diejenigen des bürgerlichen oder sowjetischen Staates, perpetuieren hingegen die Entfremdung der Menschen von ihrem schöpferischen Wesen. 

 

Frederik Fuß  

Der Autor arbeitet u.a. zur Geschichte der jugoslawischen Selbstverwaltung und dem schöpferischen Marxismus der Praxis-Gruppe und ist Mitherausgeber der anarchistischen Theoriezeitschrift Tsveyfl.