Ein juristischer Prozess reicht nicht aus

Die Gerichtsverhandlung zum rechtsterroristischen Anschlag in Halle vom 9. Oktober 2019 fand von Juli bis Dezember 2020 in Naumburg statt und endete mit einer lebenslangen Freiheitsstrafe für den Angeklagten. Um das politisch aufgeladene Verfahren kritisch zu begleiten, hat die NGO democ. Zentrum Demokratischer Widerspruch e.V. wichtige Stationen des Prozesses umfangreich dokumentiert und in der rund 900-seitigen Sammlung Der Halle-Prozess: Mitschriften (2021) veröffentlicht. Ein Folgeband, herausgegeben von Christina Brinkmann, Nils Krüger und Jakob Schneider, liefert nun mit einigem zeitlichen Abstand ergänzende Essays und Reflexionen, sowohl zur Tat als auch zu ihrer juristischen Aufarbeitung. Die Anthologie mit dem Titel Der Halle-Prozess: Hintergründe und Perspektiven verfolgt den Anspruch, diverse Blickwinkel sichtbar zu machen, die im Gerichtssaal entweder keinen Platz hatten oder nur als Kritik an Justiz und Behörden auftauchen konnten. Wie es im Vorwort heißt, zeigt der Prozess im Ganzen, dass »Anstöße für eine gesellschaftliche Transformation […] von staatlichen Stellen nicht zu erwarten« (14) sind. Stattdessen müssen sie, so die Herausgeber:innen, von politischen Akteur:innen erarbeitet und solidarisch erstritten werden.  

Der Band versammelt sowohl wissenschaftliche als auch persönliche Texte, Stellungnahmen, Interviews, Collagen und eine Bildstrecke. Ein Schwerpunkt liegt auf dem Institut der Nebenklage, dem im Halle-Prozess eine wichtige Rolle zukam: In Naumburg konnten Betroffene zu Wort kommen, ohne auf eine bloße Zeugenfunktion eingeschränkt zu sein. Wie Kristin Pietrzyk ausführt, ist die heutige Nebenklage dabei selbst als Resultat feministischer Kämpfe zu verstehen, um die Täterzentrierung von Strafverfahren aufzubrechen. Rebecca Blady, die sich während des Anschlags in der angegriffenen Hallenser Synagoge aufhielt, verbindet in diesem Sinne ihre eigene Geschichte mit der ihrer Großmutter, die als junge Frau den Holocaust überlebte. In ihrem Beitrag macht sie nicht nur auf das intergenerationelle Trauma aufmerksam, durch das ihr Erleben des antisemitischen Attentats geprägt ist, sondern auch auf die Wichtigkeit, vor einem deutschen Gericht darüber zu sprechen. Sabrina Slipchenko fasst die ermächtigende Kraft und politische Relevanz von Zeugenaussagen als Nebenklägerin prägnant zusammen: »Das Wort ergreifen bedeutet, sich an Orten Raum zu nehmen, die dein Sprechen nicht vorsehen.« (154) 

Als besonders relevant erweisen sich im Band migrantische Perspektiven, die auch den Alltagsrassismus abseits des unmittelbaren Tathergangs sichtbar machen. Wie aus einer Reihe von Berichten hervorgeht, verbannte die Hallenser Ausländerbehörde in der akuten Gefahrenlage des Attentats anwesende Migrant:innen aus ihrem Gebäude und setzte sie damit potentiell dem Täter aus, statt ihnen Schutz zu gewähren. Ähnlich beschreibt Linus Pook die Auftritte der Polizei am Tatort, die den traumatisierten Überlebenden schroff und mit Vorurteilen begegnete, was das Gericht nicht davon abhielt, den Einsatz der Behörde in hohen Tönen zu loben. Bewegend ist auch die Geschichte von Aftax Ibrahim. Dieser wurde vom Täter zwar angefahren und verletzt, das Gericht bewertete die Attacke dennoch nur als einen »Unfall, ein Versehen« (52). In der Weigerung der Justiz, den rassistischen Angriff auf Ibrahims Leben als solchen anzuerkennen, liegt eine Wahrheit über den deutschen Normalzustand, der eine Revision des Urteils unwahrscheinlich erscheinen lässt. Im Interview sagt Ibrahim: »Ich schätze, die Chancen, dass mir Recht gegeben wird, auf ungefähr 5 Prozent, mehr nicht. Wenn ich mir die Situation in Deutschland anschaue, mache ich mir da keine großen Hoffnungen.« (205) Tatsächlich wurde das Revisionsverfahren vom Bundesgerichtshof inzwischen abgelehnt. 

Die gesellschaftspolitischen Hintergründe der Tat vertieft eine Reihe von theoretischen Texten. Neben Interviews mit Klaus Theweleit und Rolf Pohl, die in erwartbarer Weise den Aspekt destruktiver Männlichkeit unter die Lupe nehmen, ist vor allem der Beitrag von Karolin Schwarz hervorzuheben. Dieser analysiert das Internet als primäre Radikalisierungsinstanz rechtsextremer Gewalttäter und lenkt den Blick auf ideologische Vernetzungen, ohne die der Anschlag von Halle nicht hätte stattfinden können. Ähnlich wie die Herausgeber:innen im Vorwort wendet Schwarz sich damit gegen den »Mythos vom ›Einzeltäter‹« (12), der im Prozess wie in der Öffentlichkeit immer wieder ventiliert wurde. Etwas ermüdend liest sich dagegen ein Beitrag von Matthias Peter Lorenz über die im Buch konsequent durchgehaltene Praxis, den Namen des Täters nicht auszusprechen. 81 Fußnoten von Laclau bis Adorno hätten nicht sein müssen, um die im Grunde simple These stark zu machen, dass die sogenannte Entnennung ein »wichtiges Repertoire im Kampf gegen rechtsterroristische Gewalt und ihre Wirkungen« (187) sein kann. 

Das Buch bietet einen ausgewählten Überblick zu politischen Aspekten des Naumburger Prozesses und zeigt dabei deutlich, dass eine Tat wie die von Halle Veränderungen notwendig macht, die mit bloßen juristischen Mitteln nicht zu erreichen sind. Erwähnt sei nicht zuletzt die ansprechende Gestaltung des Bandes durch Maja Redlin und Hannah Englisch, die 2023 von der Stiftung Buchkunst unter die 25 schönsten deutschen Bücher des Jahres gewählt wurde. 

 

Nicholas Coomann  

 

Christina Brinkmann, Nils Krüger, Jakob Schreiter (Hrsg.), Der Halle-Prozess: Hintergründe und Perspektiven, Spektor Books, Leipzig 2022, 216 S., € 22,00.