Im Januar 2002 initiierten die Grünen eine E-Mail-Postkartenkampagne mit dem Titel »Rache für Angie«. Unmittelbarer Anlass war die Entscheidung der damaligen Oppositionspartei CDU/CSU, nicht Angela Merkel, sondern Edmund Stoiber zum Spitzen- und damit zum Kanzlerkandidaten zu küren. Ein West-Mann statt einer Ost-Frau. Die Kampagne stieß auf Kritik aus dem eigenen Lager, da die Grünen ebenfalls mit dem aus dem Westen stammenden männlichen Spitzenkandidaten Joschka Fischer in den Wahlkampf zogen. Das letzte Jahr der ersten rot-grünen Koalition hatte gerade begonnen und so langsam wurde das Feuilleton müde, die Schröder-Regierung als ein »Generationenprojekt der 68er« zu analysieren. Die 68er-Partei sui generis, die so gönnerhaft die Solidarität im Namen der Fairness für die politische Konkurrentin forderte, ahnte noch nicht, dass diese 16 Jahre an der Macht bleiben, alle Witze über ihr Aussehen, ihr Lieblingsadjektiv »alternativlos« und ihr angeblich fehlendes Charisma überleben würde.
Angela Merkel sollte am Ende ein Land hinterlassen, in dem Witze über das Aussehen weiblicher Personen des öffentlichen Lebens nicht mehr selbstverständlich sind und die Lieblingsvokabeln der rebellischen Generation wie »Alternative«, »Rebellion«, »Systemkritik« einen ganz neuen Klang besitzen. Ein Land, in dem beachtliche Teile der sich »fortschrittlich«, »links« und »linksradikal« nennenden Menschen die konservative Regierungschefin nur noch als kleineres Übel betrachten. Schließlich ein Land, in dem die noch so gespaltene Linke ihre kritische Distanz zum eigenen Staat in einem bis dahin nicht gesehenen Ausmaß überwindet. Der schleichende Prozess der Versöhnung der deutschen Linken mit den Großmachtansprüchen der Bundesrepublik Deutschland wurde in der Amtszeit Merkels massiv vorangetrieben. Wie es dazu kam, versucht dieser Text anhand einiger Weichen zu skizzieren.
Regierendes Identifikationsmodell
Die erste These über die Folgen der Regierungszeit Merkels für die Linke ist auf den ersten Blick so banal, dass sie dazu einlädt, wie vieles allzu Offensichtliche, übersehen zu werden. Angela Merkel war die erste Frau im Bundeskanzleramt. Das hat eine große Rolle in der Rezeption ihrer Politik seitens derjenigen politischen Kräfte gespielt, die stets den Spruch »Eine CDU-Kanzlerin ändert doch nichts!« vor sich hergetragen haben. Und ja: Margaret Thatcher war auch die erste in ihrem Amt, aber sie ist nie eine Identifikationsfigur für ihre politischen Gegner:innen geworden. Merkel wurde es direkt am Wahlabend, als sie sich in der »Elefantenrunde« gegen den narkotisiert wirkenden Noch-Kanzler Gerhard Schröder durchsetzen musste. Der für seinen »Gedöns«-Spruch zur Frauenfrage berüchtigte Schröder hatte das Nichternstnehmen der als »Kohls Mädchen« verspotteten Merkel durch ihre konservativen männlichen Kollegen an jenem Abend noch weiter auf die Spitze getrieben. Dafür, dass die Kanzlerin zur Sympathieträgerin der Linken wurde, sorgten weniger die Eigenschaften ihrer Person, als vielmehr das Auftreten ihrer Gegner.
Auch ihren weiteren Karriereverlauf als Bundeskanzlerin kommentierten die Medien immer wieder als einen Kampf gegen Männer, die ihr die Augenhöhe abzusprechen versuchten. Erst waren es die parteiinternen Rivalen, die für Linke allesamt als bei weitem schlimmere Hardliner erschienen: Edmund Stoiber, Roland Koch und Friedrich Merz, um nur einige zu nennen. Doch auf die Widersacher im Inneren folgten die Superschurken auf dem internationalen Parkett. Da wurde es immer düsterer. Waldimir Putins Wahrnehmung in der deutschen Öffentlichkeit mutierte vom »Preußen im Kreml« in Richtung »toxische Männlichkeit hoch zu Ross«. Auch Recep Tayyip Erdoğan, am Anfang noch Träger gewisser Hoffnungen mancher Linker auf Demokratisierung und Anwärter auf den Titel des kleineren Übels in der kurdischen Frage, entwickelte sich EU-weit zur kollektiven Hassfigur. Zeitgleich gelangten in der EU selbst immer mehr polternde Populist:innen in die Regierungen der Mitgliedstaaten. Die Berichterstattung zeichnete stets das Bild einer geduldigen, besonnenen und sich nicht irritieren lassenden deutschen Regierungschefin, die sich nicht auf das Gehabe und den Geltungsdrang ihrer Verhandlungspartner einlässt. Als dann mit Donald Trump ein für die europäische Linke perfektes Feindbild die Spitze der Weltmacht erklommen hatte, war der Damm endgültig gebrochen. Angela Merkel trotzte weltweit, so das Bild, der antidemokratischen Bedrohung des ehemaligen Bündnispartners und war das globale kleinere Übel. Und damit wurde auch das von ihr regierte Deutschland, immerhin eine Führungsmacht der EU und nicht gerade unwichtigster Mitgliedstaat der NATO, ebenfalls zum Träger von linker Sympathie. Aber das wollten die meisten sich zu diesem Zeitpunkt vermutlich noch nicht eingestehen.
Vor den Fernsehkameras »struggelte« die Bundeskanzlerin im Kampf darum, gehört und ernst genommen zu werden. Dass ihr bestes Argument die wirtschaftliche Stärke des deutschen Kapitalismus war, wurde von vielen übersehen, die sich bei Merkel vor allem an eigene Probleme auf Plena und Bündnistreffen erinnert fühlten. Ob Linke es sich eingestehen oder nicht: Merkel bot eine willkommene Identifikationsfläche für die Situation »weiblich und politisch aktiv« in einer männerdominierten Welt.
Die Krisen: Alternativlos für Deutschland
In drei der vier Krisen mit weltweiter Folge hat die Kanzlerin sich für Optionen entschieden, die von ihrem politischen Lager eher weniger erwartet wurden. Merkel wurde für die Linke in Deutschland, die unter ihr zunehmend eine deutsche Linke wurde, zu einer positiven Überraschung. Jahrzehnte, in denen von links gegen den »Neoliberalismus« gewettert wurde, neigten sich mit der Wirtschaftskrise ihrem Ende zu. Dass der Staat sich angeblich aus dem Wirtschaftsgeschehen verabschiedet hätte, war im Zeitalter der Bankenrettung keine so überzeugende Position mehr. Der Kampf um die »Rettung« Griechenlands für den Weltmarkt war ein Faktor für die Gründung der Partei Alternative für Deutschland, die am Anfang noch die Regeln der Marktwirtschaft so ernst nahm, dass sie dem politischen Kalkül, Griechenland um jeden Preis in der EU zu behalten, im Namen ebendieser Regeln eine Absage erteilte. Mit der Gründung der AfD war klar, dass die Kanzlerin das bürgerliche Lager nicht mehr würde zusammenhalten können.
2011 überraschte Merkels Reaktion auf die Reaktorkatastrophe in Fukushima die rot-grüne Opposition ebenso wie ihr eigenes Lager. Sie ergriff die Initiative und nutzte die Rhetorik von der Alternativlosigkeit des Sachzwangs dazu, Deutschland zum Pionier des Atomausstiegs zu machen. Ein halbes Jahr zuvor hatte sie noch eine großzügige Laufzeitverlängerung für AKWs mit der Atomwirtschaft abgesegnet, ohne sich von Protesten beeindrucken zu lassen. Bedenken, ob der Atomausstieg vor diesem Hintergrund glaubwürdig sein würde, liefen ins Leere, denn Merkel konnte die linken Kritiker:innen mit ihren Entscheidungen in einen neuen Konsens integrieren und die Rechten ausgrenzen.
Die sogenannte »Flüchtlingskrise« von 2015 sorgte nicht nur für emotionale Annäherungen der linken Opposition an die Bundeskanzlerin, sondern ließ auch Anzeichen für neue Allianzen erahnen. Die nicht zuletzt ostdeutsche Unzufriedenheit mit der »Wir schaffen das!«-Rhetorik der Staatsführung, die Frustration von unten, das antiimperialistische Misstrauen gegenüber dem westlichen Engagement im Syrien-Konflikt und der Rassismus in der Wählerbasis aller Bundestagsparteien reichten sich die Hand und es entstand die Art von Opposition, die die Linke als politisches Lager und Die Linke als Partei vor eine Zerreißprobe stellten. Das Unverständnis der Einen, warum der Staat, der bisher immerzu sparen musste, jetzt Geld für Flüchtlinge ausgab, und die Rührung der Anderen über die humanitären Gesten ließen schnell vergessen, dass die Gewährung von politischem Asyl auch eine feindliche Botschaft an den Herkunftsstaat bedeutet. Denn Flüchtlinge stellen für kapitalistische Staaten zwar eine ökonomische und politische Last dar, doch sind sie ebenso ein Beweis dafür, dass in ihren Herkunftsländern etwas grundsätzlich falsch läuft. Wenn ein Staat aus einem anderen Staat kommenden Menschen politisches Asyl gewährt, dann ist das immer auch ein praktisch gemachter Vorwurf an den Herkunftsstaat. Die Anerkennung von Fluchtgründen geht stets mit einer Kritik an den politischen Verhältnissen der Herkunftsländer einher.
Viele Linke beschränkten sich jedoch darauf, sich darüber zu freuen, dass die Staatsführung Entscheidungen traf, die ihren eigenen Vorstellungen mehr entsprach als das Parteiprogramm ebendieser Führung. Diese Linken haben es versäumt, sich mit der Frage zu beschäftigen, was diese Entscheidungen mit den Interessen des deutschen Staates zu tun haben.
Schließlich besiegelte die COVID-19-Pandemie, die mitten in manifeste Verstimmungen zwischen Trump-USA und Deutsch-EU fiel, die Etablierung von Merkel als Stimme der Vernunft im Weltbild vieler deutscher Linker. Dabei entfielen endgültig auch die Berührungsängste mit dem eigenen Staat, sowohl in der Innen-, als auch in der Außenpolitik. Nach 2015 wurden linke Stimmen, die Abschiebungen generell ablehnten, deutlich leiser. Die Kanzlerin wiederum präsentierte ihrer eigenen Partei neue Härten in der Abschiebepolitik als Besänftigung für die Empörung über ihre Entscheidungen aus dem Jahr 2015. Man traf sich in der Mitte. Danach wurde Merkel die Lieblingszielscheibe für Anhänger:innen diverser »alternativer Wahrheiten«. Je mehr sie zum Feindbild von rechts wurde, desto größer wurde die stille Sympathie von links. Der deutsche Staat setzte sich nach den Verlautbarungen seiner politischen Führung nicht länger für die eigenen Interessen ein, die sich nun mal mit denen der USA, Russlands oder anderer EU-Länder nicht immer gut vertragen, sondern für Klima, Flüchtlinge und Menschenrechte. Das Problem dabei war nicht, dass es von der Regierung geäußert, sondern dass es von immer mehr Linken geglaubt wurde.
Infantilisierung des Protests
Werfen wir einen Blick auf die andere Seite des politischen Spektrums. Wer in Deutschland seit dem Frühjahr 2020 gegen die Pandemie-Maßnahmen protestierte, war sehr häufig zugleich Kritiker:in der Entscheidungen der Bundeskanzlerin hinsichtlich der Flüchtlinge von 2015 und gegenüber der These des menschenverursachten Klimawandels auch eher ablehnend eingestellt. Groß dürfte innerhalb der Anhängerschaft der Anti-Maßnahmen-Proteste ebenso die Anzahl derer gewesen sein, die äußert gereizt auf Themen wie Political Correctness, Wokeness, Diversity oder Identitätspolitik reagieren.Zwar wurde die Zusammensetzung der Regierungskabinette unter Merkel sichtbar »diverser«, aber der eigentliche Beitrag der Kanzlerin zum Thema bestand aus dem Verzicht auf die Mobilisierung der eigenen Partei mit »Anti-Wokeness«. Das ungenutzte Potential wird nun von der AfD, Wagenknecht-Anhänger:innen und, teilweise, von der FDP erschlossen. In dieser Allianz der Kritiker:innen fanden sich Menschen aus unterschiedlichen politischen Lagern zusammen, die zuvor mehr Differenzen als Gemeinsamkeiten gehabt hatten. Wenn Liberalkonservative wie Gunnar Kaiser, linke Antiimperialist:innen mit Ostblocknostalgie und Eso-Hippies, aber auch Veteranen der antideutschen Kritik und insurrektionalistische Anarchist:innen, gemeinsame Berührungspunkte finden, ist Überraschung vorprogrammiert. Und tatsächlich entstand innerhalb kürzester Zeit eine Fülle von Literatur, die den Schock zu verarbeiten suchte.Vgl. Andreas Speit, Verqueres Denken: Gefährliche Weltbilder in alternativen Milieus, Berlin 2021; Carolin Amlinger, Oliver Nachtwey, Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus, Berlin 2022. Die Empörung über die staatlichen Eingriffe in die heilige Freiheit, das Vorrechnen des Schadens für »die« bzw. »unsere« Wirtschaft und die Suche nach den persönlich Schuldigen gingen zwangsläufig mit der Vorstellung einher, der Staat verrate sein Volk. Man wähnte sich zugleich als wahre demokratische Mehrheit, als eigentlicher Souverän und als ein mutiger Haufen Unangepasster umgeben von einer konformistischen Herde.
Warum opponierten die liberalkonservativen Verteidiger der technischen Rationalität auf einmal gegen Forschungsergebnisse? Warum hielten öko-esoterische Zivilisationskritiker, die sonst in jedes apokalyptische Szenario schadenfroh mit einstimmen, Klimawandel und Pandemie auf einmal für eine bösartige Erfindung? Warum sind Freunde der antikolonialen Kämpfe plötzlich nicht mehr gut auf die Flüchtlinge aus dem Nahen Osten zu sprechen? Auf einmal fühlten sich alle diese Fraktionen als radikale Opposition gegen den Staat, den sie der Diktatur bezichtigten.
Der Gestus der Rebellion, den die Linke lange Zeit so geliebt hat, ist durch die Protestallianzen der Merkel-Zeit gründlich diskreditiert. Mit dazu beigetragen hat die Vereinnahmung des Vokabulars der linken Protestbewegungen der sechziger und siebziger Jahre: »Alternative« wird von nun an mit »alternativen Fakten« und der AfD assoziiert, das Wort »Systemkritik« gehört nun denjenigen, die gegen »Systemparteien« und »Systempresse« in den Kampf ziehen. Spontis wie Autonome haben immer gerne mit kindischer Naivität und Unbedarftheit kokettiert. Während der Pandemie erschienen die neuen Protestierenden mehr und mehr als renitente Kleinkinder, die sich der elterlichen Vernunft der »Mutti« genannten Kanzlerin gegenüber uneinsichtig zeigten. Linksliberale Medien von Wochenschau bis Volksverpetzer wurden nicht müde, das Kindische im Verhalten der Corona-Skeptiker:innen zu unterstreichen. Auch diese selbst schienen sich in die Rolle bestens einzuleben: »Ich möchte mir von Frau Merkel nicht sagen lassen, dass ich mir die Hände waschen muss«Theaterregisseur Castorf über Corona-Politik, in: Der Spiegel 4/2020., verlautbarte der Theaterregisseur Frank Castorf im April 2020 im Spiegel.
Der Kampf gegen echte und vermeintliche Sachzwänge ist heute nicht mehr Gestus der Antiglobalisierungsbewegung, sondern der »Wutbürger«. Sie kontern den Verweis auf Sachzwänge fußstampfend mit dem Pochen auf Volkssouveränität und stellen die Lieblingsfragen der Linken vorheriger Generationen: Wer entscheidet, was wahr ist? Wer profitiert von den Entscheidungen? Wer macht die Regeln?Wahrscheinlich spricht Wladimir Putin etlichen Rebellen aus dem Herzen, wenn er in Pippi-Langstrumpf-Manier fragt: »Wir hören von allen Seiten: Der Westen verteidigt die regelbasierte Ordnung. Was für Regeln? Wer hat sie je gesehen? Wer hat sie festgelegt? Hören Sie: Das ist alles Geschwätz, reinster Betrug, doppelte, ja sogar dreifache Standards! Für Idioten gemacht!« (Vladimir Putin: Rede zur Aufnahme der »Volksrepubliken Doneck und Lugansk« und der Gebiete Zaporož’e und Cherson in die Russländische Föderation, in: Zeitschrift Osteuropa Blog, 30.09.2022, https://t1p.de/io0bw.) Sie sind entschlossen ignorant und halten dies für antiautoritär. Was sie außerdem gemeinsam haben: Sie sehen den Staat nicht mehr als Garant der Freiheit, sondern als deren Bedrohung.
Merkellinke vs. Wutbürger
Der »heilige Krieg« zwischen Sozialkontrolle und Sozialdarwinismus während der Pandemie fegte die bisherigen politischen Fronten hinweg.Dass der Versuch, dagegen zu rudern, von einem Autorentrio bestehend aus einem Anarchisten, einem Antideutschen und einem Klassenkampf-Autonomen kam, zeigt, wie sehr die früheren Fraktionsgrenzen innerhalb der radikalen Linken an Bedeutung verloren haben: Gerald Grüneklee/Clemens Heni/Peter Nowak, Corona und die Demokratie. Eine linke Kritik, Berlin 2020. Die Wutrebellen gehen von Beschwerden über die Verfehlungen der Staatsführung nach und nach zur Kündigung der staatsbürgerlichen Loyalität über. Sie sehen die Demokratie suspendiert und sich damit von der Pflicht zur Gesetzestreue entbunden, nicht unähnlich den früheren 68ern. Ihr Misstrauen gegenüber allem, was »von oben« kommt, und sei es der Appell zum Hände-Desinfizieren, trifft auf ein sich zunehmend konsolidierendes Lager, das sich an den deutschen Staat als Fels in der Brandung klammert. Die offensichtliche mediale Unterstützung von PEGIDA und »Querdenkern« aus Ländern wie Ungarn oder Russland, vermischt mit der Darstellung von Führungsfiguren wie Trump, Putin, Erdoğan oder Johnson als »irre« und »unberechenbar« durch die hiesigen Medien, zementiert die Allianz zwischen erschrockenen Linken und »ihrem« Staat. Dass der Übergang zur Auffassung, Deutschland, die EU und die NATO seien das kleinere Übel, den sich ansonsten strikt verfeindeten linken Gruppen und Fraktionen im Ukraine-Krieg so leichtfiel und nicht wie noch zu Zeiten des Kosovo- oder Irak-Kriegs ein Drama auslöste, ist ein Resultat davon.
Die Konturen dessen, was in der Bundesrepublik von nun an als »links« gilt, zeichnen sich derzeit ab: Es geht nicht mehr gegen den Staat als Hindernis für die wie auch immer vorgestellte »Freiheit«. Stattdessen wird der Staat immer mehr als eine Instanz angesehen, die zur Aufgabe hat, die Rücksichtslosen in die Schranken zu weisen. Der Staat soll den Verweigerern der Pandemiemaßnahmen, den Gegnern des Tempolimits, den Putinverstehern, der ganzen Allianz der »Boomer«, die an ihrer privilegierten Freiheit zum gewohnten Konsum und Sprachgebrauch festhalten, den Riegel vorschieben. Auch international erscheint die deutsche Führungsrolle in der EU immer mehr als Garantie gegen populistische Attacken auf Minderheitenrechte, ebenso wie mit Russland eine Staatsmacht bekämpft wird, die für fossile Energie und Anti-LGBT-Hetze steht. Die Redaktionen von Katapult und Missy, Titanic und Sai können ohne schlechtes Gewissen für den Krieg sein, schließlich steht der Feind für alles, was man nicht leiden kann, und hat zudem auch noch als erster angefangen.
Die postcolonial studies boomen an den Universitäten der ehemaligen Kolonialmächte. Es erscheint der Linken nicht als Widerspruch, diesen Mächten viel Erfolg im Kräftemessen mit der Türkei oder China zu wünschen. Schließlich geht es um »Verantwortung« und davon kann Deutschland nicht genug haben. Der neue Hauptwiderspruch ist einer zwischen Demokratien und Diktaturen. Selbst diejenigen, die bei Diktaturen immer noch standhaft zwischen rechts und links unterscheiden und letztere verteidigen, also die altmodischen Antiimperialisten, müssen notgedrungen akzeptieren, dass »linke« Staaten wie Nicaragua, Venezuela und Syrien nicht ohne Russland oder den Iran überleben können, die linker Umtriebe gänzlich unverdächtig sind.Besonderes bei der Bewertung der Proteste in Belarus 2020 fiel es auf, dass die Frage nach links und rechts kaum eine Rolle spielte.
Das apokalyptische Szenario des Klimawandels ist das Thema, von dem heute die stärkste Mobilisierungswirkung ausgeht. Es soll um die Rettung der Menschheit gehen. Wie schon in den Kampagnen der Grünen aus den achtziger Jahren liegt darin ein Potenzial, Interessenkonflikte zwischen Klassen und anderen Gruppen zugunsten des Überlebensinteresses der Menschheit als Ganzer zu übergehen. Linke Politik steht dabei nicht mehr für die Auflehnung gegen Sachzwänge, sondern versucht die Karte »ökonomischer Sachzwang« mit dem Trumpf »Sachzwang Klimarettung« auszustechen. Dass der Klimawandel zum Thema Nummer eins auch für die radikale Linke werden konnte, ist schon ein trauriges Eingeständnis. Die Geduld der Lohnabhängigen im Kapitalismus hat offenbar sogar die natürlichen Voraussetzungen dieses Systems überlebt. Linke geben die Vorstellung vom Kommunismus als Luxus für alle kampflos auf. Für einen niedrigeren Lebensstandard sein Leben zu riskieren, erscheint recht unattraktiv.
Der Versöhnungsprozess der bundesdeutschen Linken mit der liberalen Demokratie, der Staatsräson und den entsprechenden Institutionen ist im vollen Gange. Dabei versöhnen sich die Linken auch unter sich. Wer hätte je gedacht, dass Jungle World und analyse & kritik sich so nahekommen, wie es gerade in der Frage des Ukraine-Kriegs der Fall ist? Dass die Bahamas-Redaktion ohne Rücksicht darauf, wer wie zu Israel steht und wie die übrige Linke Trotzkist:innen über das revolutionäre Potential von ukrainischen »Territorialverteidigungskräften« diskutieren werden? Der andere Teil der Linken versöhnt sich ebenfalls weiter – mit allen, die sich im Mainstream nicht wiederfinden und in der Forderung nach Frieden mit Putin den ultimativen »Antisystem«-Move sehen. Dabei sind sie sich nicht zu schade, zu betonen, dass der Konflikt mit Russland nicht im deutschen Interesse sei. Die deutsche Linke ist endgültig bereit Deutschland zu verteidigen. Danke Merkel!
Ewgeniy Kasakow
Der Autor ist promovierter Historiker und schrieb zuletzt in Phase 2.60 über Identitätspolitik in der Geschichte der Bolschewiki und der UdSSR.