Entgegen den Empfehlungen der WHO haben fast sämtliche Staaten der westlichen Welt die Pandemie für beendet erklärt. Dementsprechend gestaltet sich auch der Umgang: COVID-19 wird von der Liste der meldepflichtigen Erkrankungen gestrichen; Variantenüberwachungsprogramme werden eingestellt; Infektions- und Hospitalisierungszahlen werden nicht mehr veröffentlicht; die Versorgungslage für an Long Covid Erkrankte ist sehr schlecht; sämtliche Schutzmaßnahmen, selbst in Einrichtungen des Gesundheitswesens, werden abgeschafft; es häufen sich Berichte über Maskenverbote für Bedienstete in gewissen Branchen; mit statistischen Tricks – die Pandemiejahre gelten nun als ›normale‹ Berechnungsgrundlage – wird die Übersterblichkeit, etwa in den USA oder der Schweiz, heruntergerechnet. Bei so schlechter Informationslage lässt sich auch der Behauptung, die Pandemie sei Geschichte, kaum mehr objektiv entgegentreten. Wo und wie soll hier erst linke Kritik ansetzen? Auch wenn der Pandemierevisionismus, der vor einem Jahr allgemein noch als rechtsextrem eingestuft worden wäre, hegemonial zu werden droht – ein Geheimwissen ist die andauernde Bedrohung durch COVID-19 nicht. Wie kommt es zur widerstandslosen Akzeptanz, zur absoluten Normalisierung des zu frühen Sterbens Vieler, zur Abschaffung der Barrierefreiheit für Gefährdete und Vulnerable, die sich, nach dem Ende aller Eindämmungsmaßnahmen, nun zwischen permanentem Risiko und ›selbstgewähltem‹ Ausschluss aus der Gesellschaft entscheiden dürfen?
Ob für diese Fragen gute Antworten zu finden sind, könnte offenbleiben. Doch für einen Versuch wird an einer Betrachtung der Geschichte dieser Pandemie kaum vorbeizukommen sein. Hier haben die beiden Autoren Thomas Ebermann mit Störung im Betriebsablauf. Systemirrelevante Betrachtungen zur Pandemie und Maximilian Hauer mit Seuchenjahre. Orientierungsversuche im Ausnahmezustand die beste Vorarbeit geleistet. Ebermanns Buch erschien im Mai 2021– zu einem Zeitpunkt, als die Linken des Landes sich jeweils schon entschieden hatten, ob sie dem besonnenen, kontrollierten Durchseuchungskurs der Regierung Merkel gegenüber loyal sein oder gleich mit den Corona-Verharmloser:innen gemeinsame Sache machen wollten. Wem eine solche Alternative wie die zwischen Pest und Cholera erschien, wusste nun dank dieser Verbindung von konkretem politischem Engagement und bodenlosen Reflexionen, dass eine dritte Position möglich war. Hauer unternimmt in seinem 2023 erschienenen Buch ebenso eine beeindruckend gut geordnete Analyse der Pandemie als einer »gesellschaftlich koproduzierten Naturkatastrophe«. In seinem Buch findet etwa die Kritik der militärischen Rhetorik zu Beginn der Pandemie genauso Platz wie jene des linken Etatismus, weiters eine Untersuchung des Verhältnisses von Natur und Gesellschaft während der Pandemie aus ökosozialistischer Sicht, oder auch eine prägnante Analyse des »Spektakels der Sicherheit«.
Wovon bei Ebermann in einer vernünftigen Rezension wohl die Rede sein sollte, ist, dass er offensichtlich an Adorno und Marcuse geschult ist. Die in ihrer Tiefe und Genauigkeit wohl bis heute kaum vergleichbaren Ausführungen Ebermanns zur Pandemie funktionieren in jedem Kapitel deshalb auch immer als barrierefreie Einführung in die kritische Theorie. Es könnte einem so vorkommen: Ebermann holt die Leser:innen ab, wo sie stehen. Aber nicht, indem er etwa abbremsen oder extra stehenbleiben würde. Viel eher scheint es so, dass er kurz die Grundgesetze der Physik außer Kraft setzt, sodass jeder jederzeit bequem auf seinen analytischen Hochgeschwindigkeitszug aufspringen kann. Dieser bringt einen von der Kritik der linken Staatsmythologisierung zur Beschreibung der wahrscheinlichsten Rolle des Staates in der Pandemie; von einer Kampfansage an die Sehnsucht nach der alten Normalität zu einer an die erneuerte Normalisierung des Sozialdarwinismus; vom Befund der »linken Kraftmeierei« in der Pandemie zu dem der Bereitschaft vieler Aufklärer:innen – Virolog:innen, Fachärztevertreter:innen usw. –, sich für die Abhärtung einspannen zu lassen; zum Aufspüren der Barbarei im Demokratischen, vom Irrationalen im Rationalen, ohne den Wahn des Querdenkermilieus zu verharmlosen. Obwohl keineswegs so gekennzeichnet, könnte man die Kurzkapitel »Die Ideologie des Todes – (K)eine Abschweifung« und »Corona und die Kritik der Bedürfnisse« als theoretischen Kern des Buches begreifen. Mit Marcuse und Adorno sieht er die Notwendigkeit einer »Negation der Ideologie des Todes als Kollateralschaden« (46).
Im März 2021, mitten in der dritten Welle, schreibt Ebermann: »Wahrscheinlich wird die Staatspolitik das Ausbalancieren fortführen, also die Zahl von schwer Erkrankten und Toten in Relation zu den ökonomischen Notwendigkeiten einer kapitalistischen Wirtschaftsweise und ›unserer Art zu leben‹ zu setzen. Sie wird – mutmaßlich – Momente von Skrupeln, Mitleid und erst recht der Solidarität mit den ›Risikogruppen‹ tilgen. Die Gesellschaft wird sich durch die akzeptierte Gleichzeitigkeit von Lockerungen und Übersterblichkeit brutalisieren.« (94) Tatsächlich fuhren die meisten Staaten weiter mit diesem tödlichen Balancieren fort. Aber im Sommer 2022 hatte es sich ausbalanciert – zu Ungunsten der sogenannten Risikogruppen. Die prophezeite Brutalisierung trat genauso ein, eben als schleichende, als eine mit menschlichem Antlitz: In den Altenheimen und Onkologie-Stationen kann man wieder überall in freundliche Gesichter blicken. Die Akzeptanz einer »praktischen Eugenik« hat sich als Hintergrundrauschen quasi widerstandslos eingebürgert. Die Frage, wie lange sich die Brutalität gegenüber Flüchtlingen oder die gegen Klimaaktivist:innen zumindest noch skandalisieren lässt, steht damit in Zusammenhang. Dass diese Verhärtung gegenüber dem Leid anderer in der unter den Bedingungen der Konkurrenz notwendigen Selbstverhärtung ihren Ausgangspunkt hat, arbeitet Ebermann auch unter Berücksichtigung der Erkenntnisse des Arbeitswissenschaftlers Wolfgang Hien heraus. Ebermann schreibt: »Ich weiß um die gesellschaftliche Resonanzlosigkeit der These, die ich hier vertrete. Aber jedes linke Zukunftsversprechen muss in den hochindustrialisierten Regionen die Minimierung, die Transformation, die Verlangsamung der Arbeit zum Gegenstand haben. Wer lebenslang arbeiten muss, bleibt Sklave. […] Die Entsagungen des Arbeitslebens sind die wichtigste Quelle der wahnhaften Projektion und des Postulats der Rücksichtslosigkeit gegen alle Unproduktiven.« (19)
Hauer beschreibt im Vorwort die beiden dominanten Auffassungen der Pandemie: Die etatistische sah ein »natürliches Übel« hereinbrechen, gegen das vorzugehen der Staat aber ein gutes Instrument sei; die libertäre erkannte das Übel nur in den »staatlichen Eingriffen in die Selbstherrlichkeit der vereinzelten Einzelnen« (22). Hauer formuliert in Seuchenjahre einen Widerspruch zu den beiden tatsächlich verwandten Sichtweisen: »beide Lager [sitzen] denselben falschen Vorstellungen über den bürgerlichen Staat auf. Beide Parteien überschätzen seine Autonomie, sei es zum Guten oder zum Schlechten; beide entkoppeln ihn virtuell von den ›gesellschaftlichen Naturgesetzen‹ (Karl Marx) der kapitalistischen Produktionsweise. Durch die Ablösung des Staates von seiner Grundlage zerreißen sie den inneren Zusammenhang dieser Momente der gesellschaftlichen Totalität.« (98) Auf fast hundert Buchseiten erörtert Hauer im großartigen Essay »Fliehkräfte, Ordnungsmächte«, auf welche Weise das »Schicksal von Staat und Kapital aneinander gekettet« (109) ist. Im Anschluss an eine genaue Analyse des Staates als ideeller Gesamtkapitalist erörtert Hauer, dass in den letzten Jahrzehnten ein Umbau der Staatsfunktionen stattgefunden habe: Der Staat trete in letzter Zeit immer mehr als »Staat der Kapitalisten« (128) auf. Diese Beobachtung ist nicht irrelevant für die Beurteilung der Frage, warum die meisten Staaten gegenüber der Eindämmung die Durchseuchung favorisierten, die sich auf lange Sicht als ungünstig für das Gelingen der Kapitalakkumulation erweisen könnte.
Im Kapitel »Kapriolen der stofflichen Welt« kritisiert Hauer die Vorstellung, die streng evidenzbasierte Wissenschaft, deren Erkenntnisse bei Ausklammerung des sozialen Kontextes zum Ausgangspunkt für Ideologiebildung werden können, sei ein absolutes Antidot zum Verschwörungswahn; außerdem zeigt er, wie in der Pandemie Sozialdarwinismus und »Epidemiologischer Neoliberalismus« (Isabel Frey) zusammenhängen. Bei der Frage, ob es sich bei der COVID-19-Pandemie um eine Naturkatastrophe handele oder nicht, argumentiert Hauer mit dem schwedischen Humanökologen Andreas Malm sowohl gegen einen »naturalistischen Geophysikalismus«, als auch gegen die »soziozentristische Vulnerabilitätstheorie« (87). Die kapitalistischen Produktionsverhältnisse würden nicht nur die »Produktion gefährlicher Natur« (Andreas Malm) beschleunigen, sondern auch effektive Präventionsmaßnahmen hintertreiben, die Einrichtung bedürfnisorientierter Sorgesysteme verhindern und so die (gesellschaftliche) Verletzlichkeit erhöhen. Die durch die Expansionsbewegung des Kapitals bedingten Veränderungen in der Landnutzung führten schon in den vergangenen Jahrzehnten zu einer signifikanten Zunahme sogenannter Spillover-Events (des Wechsels eines Virus vom Wirtstier zum Menschen) und Neuer Infektionskrankheiten. Andreas Malm spricht hier bereits von einem Trend des »global sickening«. Hauer schreibt: »Das heißt: COVID-19 ist eine ereignishafte Manifestation einer allgemeineren geschichtlichen Tendenz im gesellschaftlichen Naturverhältnis, in etwa so, wie sich der anhaltende Trend zur globalen Erwärmung in einer Hitzewelle manifestiert.« (88) Mit den ersten drei Aufsätzen aus dem Jahr 2020 – »Die Kriegsmetapher in der Corona-Krise«, »Der Pflegekrieg«, »Die Stunde des Leviathans« – beweist Maximilian Hauer unter anderem, dass er schon in den ersten Pandemiemonaten erklärte, warum nicht etwa repressiver Gesundheitsschutz das Beängstigende war, sondern vielmehr die Gleichzeitigkeit von Repression und fehlendem Gesundheitsschutz.
Am Schluss dieser Rezension steht die dringende Empfehlung, beide Bücher zu lesen. Würde sich noch jemand für die Pandemie interessieren, müssten sie als Standardwerke gelten. Der Vorschlag, das eine Buch als die Ergänzung zum jeweils anderen zu lesen, bedeutet nicht, dass sich bei den einzelnen Büchern Lücken auftun würden. Der Fokus der beiden Autoren ist schlicht und ergreifend nicht haargenau derselbe. Die Leser:in kommt bei der Lektüre beider Bücher damit in die luxuriöse Position, zweimal sehr genau hinschauen zu können, und genau dadurch den Überblick nicht zu verlieren.
Paul Schuberth
Thomas Ebermann, Störung im Betriebsablauf. Systemirrelevante Betrachtungen zur Pandemie, Konkret Literatur Verlag, Hamburg 2021, 132 S., € 19,50.
Maximilian Hauer, Seuchenjahre. Orientierungsversuche im Ausnahmezustand, Mandelbaum Verlag, Wien 2023, 232 S., € 18,00.