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Did Nazi that coming

Über 20 Jahre demokratischer Antifaschismus

Frühling 2021

Editorial

Liebe Leser*innen, »I‘m still alive«, das ist wohl das Beste, was man am Ende von 2020 erwarten kann. Also Pearl Jam ausmotten und sich ein wenig auf die Schulter klopfen. Durchgekommen! So geht es auch der Phase 2. Immerhin durchgekommen. Die ohnehin angezählte Kommunikationsstruktur zwischen den Redaktionen hat die Pandemie nicht überstanden. Die Redaktionen aus Hamburg und Berlin haben entschieden, nicht weiterzumachen. Vielleicht war es an der Zeit, vielleicht war es die Zeit. Jedenfalls wird die Phase ab dem kommenden Heft zum ersten Mal überhaupt nur von einem Redaktionsteam herausgegeben. Leipzig is still standing! Glücklicherweise hat unsere Redaktion in den letzten Monaten Zuwachs bekommen – auch deshalb blicken wir zuversichtlich in die Phase-Zukunft.  Evakuiert alle Lager!  Phase 2 Leipzig  Weiter

Inhalt

Top Story

Phase 2 Leipzig

Did Nazi that coming – Über 20 Jahre demokratische Antifaschismus

Einleitung zum Schwerpunkt

Im Sommer 2019 beobachteten deutsche Linke und Antifaschist*innen ein befremdliches Schauspiel im Internet. Auf Donald Trumps Forderung hin, »Antifa« als terroristische Organisation einzustufen, trendete #ichbinantifa auf Twitter und ein breites Bündnis von linken, grünen und sozialdemokratischen Politiker*innen bekannte sich öffentlich zum Antifaschismus. Als selbst die CDU Eimsbüttel einen solchen Tweet einer ihrer Koalitionspartner*innen, der Grünenpolitikerin und Bezirksleiterin in spe Katja Husen, stillschweigend hinnahm, war das Maß öffentlicher Parteinahmen für den Antifaschismus voll. Die Hamburger AfD empörte sich, die CDU habe die »rote Linie überschritten« und die schwarz-grüne Regierung müsse aufgelöst werden. Die Bild titelte »Radikale Tweets einer künftigen Amtsleiterin« und war besorgt, da die Bewegung »in Teilen linksextrem« sei: »Über Antifa-Gruppen gibt es einen eigenen Abschnitt im Hamburger Verfassungsschutzbericht (Kapitel Linksextremismus)«. Was war passiert? War die deutsche Öffentlichkeit plötzlich linksradikal geworden?  Weiter…

Helge Petersen / Alex Struwe

Das Rätsel der Regression

Zum Begriff des Rechtspopulismus als analytische Verfehlung und politische Verharmlosung

In der gegenwärtigen Debatte über Charakter und Erfolg des Rechtspopulismus herrscht Konfusion. Obwohl der Zyklus politischer Regression bereits seit mindestens einer Dekade anhält, beginnt so gut wie jede einschlägige Publikation mit der Problemstellung, dass dem zu analysierenden Phänomen etwas Diffuses, Schwammiges, schwer Greifbares anhaftet. Zur Aufklärung des Sachverhalts kommt es meistens aber nicht. Weiter…

Philip Manow / Silke van Dyk

Gibt es wirklich einen Rechtsruck?

Silke van Dyk und Philip Manow im Gespräch

Auf Einladung des Roten Salons diskutierten am 16. Mai 2019 die Soziologin Silke van Dyk und der Politikwissenschaftler Philip Manow im Leipziger Conne Island unter dem Titel »Notwehr oder Rassismus? Warum der Rechtspopulismus heute so stark ist«. Aktueller Anlass waren die damals kurz bevorstehenden Landtagswahlen in Sachsen. Deren Ausgang konnten die beiden Podiumsgäste und die Veranstalter natürlich nicht kennen. Ebenso liegen der Mord an Walter Lübcke, die Ereignisse im Zuge der Landtagswahl in Thüringen oder die Anschläge in Halle und Hanau in der Zeit nach der Podiumsdiskussion. Das Gespräch jenes Abends zielte jedoch auch weniger auf die Einordnung tagesaktueller Entwicklungen. Vielmehr werden darin zwei bisweilen gegenläufige Lesarten dessen, was gemeinhin unter dem Phänomen Rechtspopulismus gefasst wird, miteinander ins Verhältnis gesetzt. Der hierbei aufgezeigte Dualismus zwischen einem ökonomischen Erklärungsversuch des Populismus und dessen vermeintlicher Kulturalisierung bestimmt die Debatte bis heute. Der Mitschnitt der Diskussion wurde verschriftlicht und an einigen Stellen gekürzt, Silke van Dyk und Philip Manow haben diesen Text von uns erhalten und an mehreren Stellen ergänzt und verändert, so dass ein aktualisiertes Gespräch für die Phase 2 entstanden ist. Weiter…

Rüdiger Mats

Staat, Du Loser!

Über Identifikationsprobleme im gegenwärtigen Deutschland

Gefühlt jede Woche kippt in Deutschland ein antirassistisches Tabu, geschieht ein antisemitischer Anschlag, droht irgendwo ein AfDler mit dem großen Reinemachen, wenn die Macht erst einmal ergriffen sei. Da verschärft sich etwas, aber ist die deutsche Bevölkerung eigentlich rechter als vor etwa 30 Jahren? Sind Rechte heute gewaltbereiter? Was genau macht den »Rechtsruck« aus? Und wenn Autoritarismus und Nationalismus etwas mit kapitalistischer Ökonomie und bürgerlicher Gesellschaft zu tun haben – wie ist diese Veränderung zu erklären, wenn die gesellschaftlichen Grundlagen doch halbwegs gleich geblieben sind?Es geht mir hier natürlich nicht darum, eine eigene Theorie der rechten Einstellungen zu erarbeiten. Es geht im Folgenden darum, ein Moment im politischen Prozess herauszuarbeiten, das den Rechtsruck in Deutschland gefördert hat und in vielen Erklärungsansätzen nur wenig Beachtung findet. In welchem Verhältnis dieses zu anderen Bedingungen steht, kann höchstens angerissen werden. Weiter…

Holger Pauler

Kollektive Amnesie

Aufstände der Anständigen sind Teil des Problems und nicht der Lösung

Wenn Deutsche den Begriff »Anstand« verwenden, sollte man besser in Deckung gehen. Spätestens seit Heinrich Himmlers »Posener Rede« Himmler sprach am 4. Oktober 1943 in Posen vor SS-Führern. In seiner Rede kam auch der viel zitierte Satz vor: »Von euch werden die Meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1000 daliegen. Dies durchgehalten zu haben, und dabei – abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwächen – anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht […].« Zit. n. https://bit.ly/3kidyXY. aus dem Jahre 1943, in welcher der »Reichsführer SS« die soldatische Pflichterfüllung, den automatisierten Ablauf von Befehl und Gehorsam, entsprechend würdigte, weiß man, dass auch Kriegsverbrecher »anständige« Menschen sein können. In diesem besonderen Fall belobigte der »Reichsführer SS« die Erschießung von Juden, Rotarmisten, Partisanen sowie Bürgern im »Generalgouvernement«. Und auch wenn die Repräsentanten eines »anderen«, besseren Deutschlands nichts dergleichen im Sinn haben, wenn sie in unregelmäßigen Abständen zum zivilgesellschaftlichen »Aufstand der Anständigen« gegen die Enkel und Urenkel Hitlers und Himmlers aufrufen, lohnt es sich, genauer hinzuschauen. Angesichts des Mordes an Walter Lübcke in Kassel und der Anschläge von Halle und Hanau forderte Bundespräsident Frank- Walter Steinmeier im Frühjahr in einer Rede die Nation und besonders die »Zivilgesellschaft« auf, den »Anstand zurückzugewinnen«. Dabei stellt sich nicht nur die Frage, was dieser »Anstand« genau sein soll, sondern auch wo und warum er angeblich verloren ging?  Weiter…

Paul Buchmann

20 Jahre staatlicher Antirassismus in Deutschland

Zur Staatskritik der Programme gegen Rechtsextremismus und Rassismus

Für viele antifaschistische Linke bedeutete die Ausrufung des »Aufstands der Anständigen« im Jahr 2000 die Möglichkeit, ihre politische Arbeit in Lohnarbeitsverhältnisse zu überführen. Auch heute noch stellt eine Anstellung in den zahlreichen staatlich geförderten Projekten gegen Rechtsextremismus und Rassismus eine der wenigen Aussichten auf eine halbwegs sinnerfüllte Lohnarbeit für einen nicht unbeträchtlichen Teil der Linken dar, wenn sie sich nicht auf den prekären Wissenschaftsbetrieb einlassen wollen. So kommt es, dass es vielfach Linksradikale sind, die die staatliche Erwiderung auf Rechtsextremismus und Rassismus ausführen. Nach den mörderischen Anschlägen in Halle und Hanau verkündete Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) im März 2020, das Förderprogramm Demokratie leben! von derzeit 115 Millionen Euro bis 2023 auf 200 Millionen Euro jährlich aufzustocken. Noch mehr potenzielle Lohnarbeitsverhältnisse für Linke also. Weiter…

Alex Struwe

Demokratischer Antifaschismus

Überlegungen zu Wahrheit, Freiheit und der Frage, warum die Ohnmacht des Liberalismus immer noch seine Feinde anzieht

Ende des Jahres 2019 war ich das erste Mal mit offensichtlich regressiven Positionen auf einem wissenschaftlichen Podium konfrontiert: Eine Bochumer Philosophieprofessorin sprach auf einer Tagung zur Emotionalisierung des Politischen über ein Schuldgefängnis und die hemmenden Auswirkungen politischer Korrektheit. Es ginge ihr um kritische Anregungen, verteidigte sie sich, und das Auditorium nahm diese Selbstverharmlosung dankend auf. Aber bereits zwei Tage später war aus dem Beitrag der Professorin auf einer weiteren Veranstaltung zum »kritischen« Dialog über Wissenschaftsfreiheit das Wettern gegen die Tyrannei der Werte geworden. Ihren Vortrag betitelte sie mit diesem einschlägigen Carl-Schmitt-Zitat, das auch ihrem Kollegen Dieter Schönecker gefallen haben müsste. Dieser ging auf der gleichen Tagung »gegen die linke Logophobie« an, womit er wahrscheinlich meinte, dass die Universität Siegen ihm seine Diskussionen mit dem AfD-Intellektuellen Marc Jongen und dem Sozialdarwinisten Thilo Sarrazin nicht finanzieren wollte.  Weiter…

Gruppen gegen Kapital und Nation

Die AfD will »Volk« und »Staat« retten

Zur umfassenden Krisendiagnose des Gemeinwesens als Kern rechter Positionen

»Es findet eine dramatische politische Verschiebung statt: Rassismus und Menschenverachtung werden gesellschaftsfähig. Was gestern noch undenkbar war und als unsagbar galt, ist kurz darauf Realität.« Zit. n. https://bit.ly/3ApjB2v. Das Bündnis #unteilbar hat Recht: Eine dramatische politische Verschiebung findet statt. Ob die im #unteilbar-Aufruf aber gut benannt ist, wäre noch die Frage. Rassismus war in der BRD immer schon gesellschaftsfähig. Er war nie undenkbar oder unsagbar. Eher kann man davon sprechen, dass seit einigen Jahren ein expliziter Rassismus für einen großen Teil der Politik nicht wünschenswert erschien, etwa weil dieser als Integrationshindernis ausgemacht wurde. In der Bevölkerung oder in der Bild-Zeitung hatte der Rassismus – sei er nun auf Abstammung oder Kultur bezogen begründet – dagegen immer seinen Platz, nur eben nicht als zentrales Dauerthema. Was aber zurzeit stattfindet, ist eine erneute oder besser gesagt eine erweiterte Politisierung des Rassismus, der Homophobie und des Antifeminismus. Jetzt tritt mit der Alternative für Deutschland (AfD) erstens eine Partei an, die mit diesen Standpunkten explizit Erfolg hat, und zweitens halten es viele in der Gesellschaft mittlerweile für angebracht oder sogar notwendig, solche Standpunkte im Alltag, am Arbeitsplatz und so weiter offen und lautstark zu vertreten. Wenn das vorher nicht explizit und massenhaft gemacht wurde, dann weniger, weil die Leute sich nicht getraut hätten, sondern weil sie das politisch nicht wichtig fanden. Das ist jetzt anders. Der politische Stellenwert (nicht nur) des Rassismus hat sich mit der AfD verändert. Wie diese Veränderung zu charakterisieren ist, darum soll es in diesem Text gehen.  Weiter…

Marek Winter

Symbolische Politiken in einer rassistischen Gesellschaft 

Zur Auseinandersetzung mit scheinbaren Diskrepanzen

Im Februar 2012 erklärte Angela Merkel in ihrer Funktion als Spitze der deutschen Exekutive auf der Gedenkveranstaltung für die Opfer der rechten Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU): »Als Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland verspreche ich Ihnen: Wir tun alles, um die Morde aufzuklären und die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen.« Merkels Gedenkrede für Neonazi-Opfer findet sich im Wortlaut unter https://bit.ly/3EsNG3L. Diese Gedenkveranstaltung war eine Reaktion darauf, dass nach der Selbstenttarnung des NSU im November 2011 der jahrelange rassistische Umgang der Polizeibehörden mit den Angehörigen der Mordopfer zum Gegenstand einer öffentlichen Debatte wurde. Im Frühjahr 2020 musste nach acht Jahren konstatiert werden: Weder wurde der NSU-Komplex aufgeklärt, noch hat sich am Umgang staatlicher Institutionen mit den Angehörigen der Ermordeten grundlegend etwas gewandelt. Wesentlich schneller blamierten sich vermeintlich antirassistische Bekundungen Ende Mai/Anfang Juni 2020, als Politiker*innen und gar Polizeivertreter*innen großzügig den Hashtag #BlackLivesMatter teilten, doch wenige Tage später in Berlin und Hamburg die Polizei gewaltsam gegen schwarze Demonstrant*innen vorging und Innenminister*innen aus Bund und Ländern erklärten, sie seien nicht geneigt zu akzeptieren, dass im Rahmen eines demokratischen Gesetzgebungsverfahrens in Berlin ein Gesetz erlassen worden war, das von staatlichen Behörden rassistisch diskriminierten Personen die Wahrnehmung ihrer Rechte erleichtern soll. Nun ließe sich die Diskrepanz zwischen den artikulierten Versprechungen und der tatsächlichen Praxis mit der Feststellung abtun, Polizei und Politiker*innen würden halt lügen. Damit würde aber die Auseinandersetzung mit einer Fragestellung umgangen werden, die geeignet ist, zum Verständnis der Gesellschaft und aktueller Kämpfe um das Thema Rassismus beizutragen.  Weiter…