Das Spiel ist schon länger aus

Steuergelder fließen in öffentliche Kulturinstitutionen, Schauspieler*innen, Maskenbildner*innen, Regisseur*innen, Tontechniker*innen und Marketing- Experten*innen wollen bezahlt werden. Auch in freien Theaterprojekten und Off-Spaces wird wieder geprobt, sich um Fördergelder bemüht und ums Überleben gekämpft. 

Was dabei herauskommt, sei jedoch ziemlich mau – konstatiert jedenfalls der Publizist und Theaterkritiker Jakob Hayner in seinem Essay Warum Theater. Krise und Erneuerung, das im Frühjahr 2020 im Berliner Verlag Matthes und Seitz erschienen ist. Er bescheinigt darin dem zeitgenössischen Theater eine tiefgreifende Misere. Schuld daran seien einerseits konkret die ökonomischen Bedingungen, unter denen produziert werde und die kaum künstlerische Wagnisse zuließen. Andererseits aber auch dominierende Ausdrucksformen wie künstlerisch anspruchsloser Agit-Prop und selbstbezügliche Performance, die mit ebenjenen spätkapitalistischen Rahmenbedingungen ästhetisch korrelierten. 

Was also tun? Nach Hayners Überzeugung kann nur eine Rückbesinnung auf die genuinen Stärken des Theaters helfen, die in den letzten Jahrzehnten nicht unbedingt wohlgelitten waren: Rollenhaftigkeit, Mimesis und Schein – Mittel, um die Wirklichkeit im Spiel zu überschreiten. Im Als-Ob liege die Möglichkeit, die Welt als eine andere zu erfahren als die, die sie gegenwärtig sei: Darin bestehe das große und einzigartige Potential der Kunst. Sie sei gerade dann am besten, wenn sie sich nicht direkt in einen Gebrauchswert übersetzen ließe; wenn sie sich dem unbedingten Anspruch, besonders politisch und fortschrittlich zu sein, entsage. Nur so sei es möglich, sich der Kosten-Nutzen-Ökonomie des Spätkapitalismus, die heute selbst in die privatesten Bereiche des Individuums vorgedrungen ist, zu entziehen. Hayner bedient sich in diesem Zusammenhang einer schönen Metapher: Mit der Kunst sei es wie mit einem sich beschenkenden Liebespaar. Ein praktisches Geschenk könne zu berechtigtem Ärger führen – schließlich sei es der symbolische Überschuss einer unnützen Gabe, der die Gefühle einer liebenden Person am besten zum Ausdruck bringe. 

Spielarten des politischen Theaters, die Hayner als »politischen Aktivismus mit Kunstüberzug« fasst, sind demnach ein Irrweg: So werde das Theater zum Instrument alltäglicher politischer Konflikte degradiert und dabei einem Nützlichkeitsprinzip unterworfen. Die Frage, auf welche Weise wir die Welt wahrnehmen, sei wichtiger als Informationen zu vermitteln. Hayner insistiert immer wieder auf der Wichtigkeit der Form, die den Verhältnissen abgerungen werden müsse. 

Seiner Analyse zufolge verharrten viele dramatische Ansätze trotz gegenteiliger Intention letztlich im schlechten Bestehenden. So mögen lange Klagemonologe einzelner Subjekte oder gar »Alltagsexperten« auf der Bühne zunächst emanzipatorisch erscheinen, ungeachtet bleibt dabei jedoch, dass paradoxerweise noch die Klage des Einzelnen über die Verhältnisse in eine spätkapitalistische Logik integriert werden kann, in der selbst intime Emotionen verwertet werden und der Imperativ der Selbstverwirklichung über kollektiven Interessen steht. 

Angesichts der umfassenden Kritik an dominierenden Formen des zeitgenössischen Theaters und der Emphase auf mimetische Verfahren liegt die Vermutung nahe, Hayner plädiere in etwas reaktionärer Manier für eine Rückkehr zum Theater der Moderne. Als Kritiker dem dialektischen Materialismus verpflichtet, verweist er jedoch im Gegenteil auf den Zeitkern der Wahrheit von großen Theaterdichtern wie Bertolt Brecht oder Samuel Beckett: So enthalte ein Stück wie Becketts Endspiel, das mittlerweile zu den Evergreens an deutschen Theatern gehört, heute eine zwangsläufig andere Wirkung als zum Zeitpunkt seiner Erstaufführung (1957). Hatte die Absurdität des Spiels und das Unbezügliche der Sprache damals noch schockiert und das scheinbar vernünftige Zeitalter der Moderne als ein Irrationales und Grausames bloßgestellt, ist es heute kein Geheimnis mehr, dass die Sphäre des Marktes und der Kapitalakkumulation von niemandem mehr vollständig zu verstehen ist. Im Gegenteil: Hayner zufolge wird diesem Faktum sogar überall offen gehuldigt. Sei ein Stück wie das Endspiel und die daran gewonnene Unterhaltung heute nicht deshalb geradezu wohlfeil, fragt der Kritiker – und trifft damit einen empfindlichen Punkt.

Bemerkenswert an Hayners Essay sind seine wiederholten Verweise auf die Psychoanalyse, anhand derer es ihm gelingt, gesellschaftliche Zusammenhänge und auch den Zustand des Theaters analog zur individuellen Psyche begreifbar zu machen. So bestimmt er etwa das Theater als Projektionsfläche, die – wie ein Psychoanalytiker dem Analysanden – der Gesellschaft dabei helfen könne, ihre eigenen Widersprüche zu erkennen. 

Es ist bei der Lektüre von Warum Theater. Krise und Erneuerung unverkennbar, dass Hayner seinem Anliegen mit Leidenschaft begegnet, und wenn er gegen Ende seiner Streitschrift fordert, dass das Theater keine Angst vor Pathos und Kitsch haben sollte, um den »Vorschein der Utopie« (Ernst Bloch) zu evozieren, dann nimmt man es ihm ab, denn er selbst geizt ebenfalls nicht mit großen Worten. Das Essay überzeugt: Utopischer Radikalismus hat wenig mit dem Theater zu tun, das sich derzeit am radikalsten gibt.

 

Felix Biedermann

 

Jakob Hayner: Warum Theater. Krise und Erneuerung. Matthes und Seitz, Berlin 2020, 160 S., € 15,00.