Im Februar 2012 erklärte Angela Merkel in ihrer Funktion als Spitze der deutschen Exekutive auf der Gedenkveranstaltung für die Opfer der rechten Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU): »Als Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland verspreche ich Ihnen: Wir tun alles, um die Morde aufzuklären und die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen.« Merkels Gedenkrede für Neonazi-Opfer findet sich im Wortlaut unter https://bit.ly/3EsNG3L. Diese Gedenkveranstaltung war eine Reaktion darauf, dass nach der Selbstenttarnung des NSU im November 2011 der jahrelange rassistische Umgang der Polizeibehörden mit den Angehörigen der Mordopfer zum Gegenstand einer öffentlichen Debatte wurde. Im Frühjahr 2020 musste nach acht Jahren konstatiert werden: Weder wurde der NSU-Komplex aufgeklärt, noch hat sich am Umgang staatlicher Institutionen mit den Angehörigen der Ermordeten grundlegend etwas gewandelt. Wesentlich schneller blamierten sich vermeintlich antirassistische Bekundungen Ende Mai/Anfang Juni 2020, als Politiker*innen und gar Polizeivertreter*innen großzügig den Hashtag #BlackLivesMatter teilten, doch wenige Tage später in Berlin und Hamburg die Polizei gewaltsam gegen schwarze Demonstrant*innen vorging und Innenminister*innen aus Bund und Ländern erklärten, sie seien nicht geneigt zu akzeptieren, dass im Rahmen eines demokratischen Gesetzgebungsverfahrens in Berlin ein Gesetz erlassen worden war, das von staatlichen Behörden rassistisch diskriminierten Personen die Wahrnehmung ihrer Rechte erleichtern soll. Nun ließe sich die Diskrepanz zwischen den artikulierten Versprechungen und der tatsächlichen Praxis mit der Feststellung abtun, Polizei und Politiker*innen würden halt lügen. Damit würde aber die Auseinandersetzung mit einer Fragestellung umgangen werden, die geeignet ist, zum Verständnis der Gesellschaft und aktueller Kämpfe um das Thema Rassismus beizutragen.
Noch vor fast 30 Jahren, nach dem Brandanschlag von Solingen, bei dem im Mai 1993 fünf Menschen starben und der zum Symbol der rassistischen Gewaltwelle nach der deutschen Wiedervereinigung wurde, weigerte sich Bundeskanzler Helmut Kohl nach Solingen zu fahren. Es gebe wichtigere Termine und er wolle keinem »Beileidstourismus« frönen, so die damalige Begründung. Das würden so heute keine hochrangigen Politiker *innen mehr erklären. Nach den terroristischen Angriffen von Wolfhagen, Halle und Hanau haben Politiker*innen Erklärungen abgegeben, Kerzen angezündet, Tatorte besucht und Angehörigen die Hände geschüttelt. Das Versprechen, das dabei explizit und implizit formuliert wurde, war: Die Taten werden aufgeklärt, das Problem ernstgenommen, die Demokratie verteidigt. Was – unter anderem – nicht geschah, war die Auflösung oder wenigstens Entwaffnung rechtsterroristischer Strukturen in Geheimdiensten, Polizei und Armee. Die propagandistische Polizeikampagne gegen Shishabars wurde kurze Zeit nach dem Angriff von Hanau wieder aufgenommen und nahm wohl nur wegen der COVID19-Pandemie nicht mehr die alte Fahrt auf. Dieser Widersprüchlichkeit soll im Folgenden nachgegangen werden.
Symbolpolitik und reale Gewalt
Erklärungen wie die Merkels, Solidaritätsbekundungen auf Twitter, Besuche von Minister*innen bei Angehörigen von Opfern rassistischer Gewalt etc. werden gemeinhin als Symbolpolitik bezeichnet. Im allgemeinen linken Sprachgebrauch wird der Begriff Symbolpolitik häufig abwertend als Kennzeichen für inhaltsleere und folgenlose Gesten benutzt. Auch wenn Symbolpolitik – vor allem wenn sie von den Kreisen produziert wird, die in Deutschland als radikale Linke firmieren – häufig aus genau solchen Gesten besteht, führt eine derartige Begriffsbestimmung jedoch in die Irre. Denn Symbolpolitik ist zuerst einmal »eine Politik der Zeichen: der Worte, Gesten und Bilder; sie entfaltet sich im semantischen Raum« Jens Jessen, Symbolische Politik – Essay, https://bit.ly/2Xr9lIz.. Ihr gegenüber steht eine Politik, die sich als »faktische Politik« beschreiben lässt. Aktionen im materiellen Raum, die effektiv Konflikte austragen und Macht exekutieren. Symbolpolitik ist deswegen eben nicht leer und nicht bloße Lüge, sondern steht in einem vermittelten Verhältnis zu realer Macht. An drei zentralen symbolpolitischen Akten aus der Geschichte des postfaschistischen Deutschlands lässt sich das beispielhaft zeigen. Der berühmte Kniefall Willi Brandts in Warschau begleitete den ökonomischen und politischen Wiederaufstieg Deutschlands. Als Helmut Kohl den US-Präsidenten Ronald Reagan 1985 nach Bergen-Belsen und an die Gräber gefallener SS-Leute in Bitburg führte, markierte der so artikulierte deutsche Anspruch, gleichberechtigt das Erinnern an den Zweiten Weltkrieg zu bestimmen, die Emanzipation von den einstigen Siegermächten. Das penetrante Umarmen der Überlebenden deutscher Massaker durch Bundespräsident Joachim Gauck während seiner Amtszeit von 2012 bis 2017 schließlich unterstrich den deutschen Anspruch zu gestalten, wie und in welcher Form Gedenken und »Wiedergutmachung« stattzufinden hätten. Dabei illustriert Symbolpolitik jedoch nicht nur bestehende Machtverhältnisse, sondern ist ein eigenes Mittel, um politische Auseinandersetzungen auszutragen. Sonst hätten etwa der Kniefall in Warschau und das Gedenken über den Gräbern in Bitburg nicht zum Gegenstand umfassender politischer Debatten werden können und schon gar nicht zu Momenten, die politische Dynamiken weiter vorantrieben.
Aufgrund dieser eigenständigen Wirkungsmacht symbolpolitischer Akte eignen sich diese sowohl dazu, reale politische Veränderungen zu unterstreichen und zu bekräftigen, als auch zu substituieren. Und dieser Punkt scheint für die Auseinandersetzung mit symbolpolitischen Akten in Reaktion auf rechten Terror besonders relevant zu sein. Denn zwischen 1993 und 2020 liegt eine realpolitische Zäsur. Im Jahr 2000 wurde das Reichs und Staatsangehörigkeitsgesetz von 1913, das immer noch den Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft regelte, in Staatsangehörigkeitsgesetz umbenannt. Damit einher ging eine inhaltliche Änderung. Beruhte das Gesetz vorher auf dem Blutsprinzip (ius sanguinis), das die Staatsbürgerschaft ethnisch, durch Abstammung definiert, wurden nun Elemente des Territorialprinzips (ius soli) eingefügt, das Staatsbürgerschaft vom Geburts- oder Aufenthaltsort ableitet. Einbürgerungen wurden erleichtert und in bestimmten Rahmen Mehrstaatlichkeit akzeptiert. Diese Gesetzesänderung markiert einen Einschnitt in der Geschichte des bundesdeutschen Umgangs mit Migration. Faktisch wurde so anerkannt, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Vor allem wurde damit endlich auch juristisch zur Kenntnis genommen, dass die seit den 1950er Jahren in die BRD eingewanderten »Gastarbeiter*innen« und ihre Nachkommen eben keine sich vorübergehend in Deutschland aufhaltenden »Gäste« sind (eine Annahme, die noch in den 1990er Jahren von der Regierung Kohl versucht wurde aufrechtzuhalten). Das Gesetz eröffnete für diese Arbeitsmigrant*innen einen Weg in die deutsche Staatsbürgerschaft eröffnet. Trotz weiterbestehender Hürden, die auf die erfolgreiche rassistische Kampagne Ja zur Integration, Nein zur doppelten Staatsangehörigkeit vor allem der hessischen CDU zurückzuführen sind, war damit der Weg frei für eine große Zahl in Deutschland lebender Migrant*innen und ihrer Kinder und Enkel, nun auch deutsche Staatsbürger*innen zu werden. Im symbolischen Umgang mit den Angehörigen der Opfer rechten Terrors spiegelt sich diese Veränderung wider. Die Opfer von Solingen erkannte der deutsche Staat nicht als seine Bürger *innen an, brutal versinnbildlicht in Kohls Weigerung nach Solingen zu fahren. Die Opfer von Halle und Hanau sind nun aber (zumindest zum großen Teil) deutsche Staatsbürger*innen. Ihnen muss staatlicherseits eine gewisse Anerkennung gezollt werden, wie auch den Opfern von anderen Terroranschlägen, Flutkatastrophen und Flugzeugabstürzen, vor allem auch um das Versprechen des Staates zu erneuern, die Sicherheit aller seiner Bürger*innen zu garantieren. Würde das nicht geschehen, bestünde die Gefahr, das Konzept der Staatsbürgerschaft an sich zu entwerten. Dass diese symbolische Anerkennung sich aber nicht in materiellen Akten der Exekutive niederschlägt und das symbolisch gegebene Schutzversprechen nicht eingelöst wird, hat Gründe.
Die Einbürgerung der Gastarbeiter*innen war letztlich vorrangig Resultat des kapitalgetriebenen Prozesses der europäischen Einigung. Die Schaffung eines einheitlichen europäischen Marktes beinhaltete auch den freien Verkehr der Ware Arbeitskraft. Um diesen tatsächlich zu ermöglichen, war es notwendig, die rechtliche Bindung der Träger*innen der Arbeitskraft an einen einzigen Souverän in gewissem Umfang zu transzendieren. Außerdem spielte, gerade hinsichtlich der Türkei, auch die Erwägung eine Rolle, nicht durch eine überkommene Gesetzgebung die dauerhafte Existenz einer einem fremden Souverän zugeordneten großen Minderheit im Land zu verstetigen. Entscheidend ist, was die Einbürgerung nicht war: Sie war, wie der Erfolg der rassistischen CDU-Kampagne gegen die Änderung des Staatsangehörigkeitsrechtes zeigt, obwohl heftig über das Für und Wider gestritten wurde und trotz einer langen Geschichte migrantischer Kämpfe in der Bundesrepublik Trotz diverser Veröffentlichungen zu diesen Kämpfen, vor allem aus dem Umfeld von Kanak Attak, dem (links-)gewerkschaftlichen und operaistischen Spektrum, gehören diese Kämpfe bis heute nicht selbstverständlich zum historischen Bewusstsein der deutschen Linken, obwohl es in diesen Kämpfen durchaus Kooperationen wie auch Konflikte mit der eingesessenen deutschen Linken gab. Zum Einstieg: Serhat Karakayali, Lotta Continua in Frankfurt, Türken-Terror in Köln – Migrantische Kämpfe in der Geschichte der Bundesrepublik, https://bit.ly/3hLfnuK; Dieter Braeg (Hrsg.), Wilder Streik – das ist Revolution – Der Streik der Arbeiterinnen bei Pierburg in Neuss 1973, Berlin 2013; Manuela Bojadzijev, Zwölf Quadratmeter Deutschland – Staatliche Maßnahmen und das Konzept der Autonomie, https://bit.ly/3Con5mt., eben nicht Resultat einer erfolgreichen Bürgerrechtsbewegung, eines Civil Rights Movements, mithin einer Bewegung, die um die staatsbürgerliche Gleichstellung der »Gastarbeiter*innen« kämpfte. Eine solche Bewegung, das zeigen Beispiele in anderen Ländern, würde zwangsläufig nicht nur politische, sondern gerade auch soziale/ökonomische Kämpfe umfassen. Auch wenn so eine Bewegung, wie am prägnantesten das Beispiel USA zeigt, den Rassismus nicht beseitigt hätte, so liegt die Vermutung nahe, dass ihr Fehlen dem zuträglich war, dass in Deutschland rassistische Strukturen unangetastet fortexistieren konnten. Ein erfolgreiches Civil Rights Movement der »Gastarbeiter*innen« hätte zumindest auch den Mythos zerstören können, die »Gastarbeiter*innen« seien von der Industrie »in Folge des deutschen Wirtschaftswunders« benötigt worden. Die ab 1955 in die BRD gekommenen Arbeiter*innen füllten häufig eine Lücke, die vor 1945 von ausländischen Zwangsarbeiter*innen besetzt war. Dass die deutsche Arbeitsgesellschaft der ersten Hälfte der 1940er Jahre von einem die ganze Gesellschaft durchziehenden, umfassenden und rassistisch extrem hierarchisierten System der Zwangsarbeit ausländischer Arbeiter*innen geprägt war, wäre vielleicht früher »entdeckt« und dessen Folgen für die konkrete Ausprägung des Rassismus in Deutschland diskutiert worden.
Das Fehlen einer solchen Bewegung macht sich aktuell vor allem an zwei Stellen bemerkbar. Einmal am praktischen Fortwirken der weiter das Bewusstsein in Bevölkerung, Behörden und staatlichen Institutionen prägenden Blut-und-Boden-Definition dessen, wer deutsche*r Staatsbürger*in ist. Die »Gastarbeiter*innen« stehen seit den 1950er Jahren im Mittelpunkt rassistischer Ideologiebildung in Deutschland und waren und sind immer wieder Betroffene rassistischer Praxis – Solingen, der NSU und Hanau zeigen dies aktuell exemplarisch. Unter anderen Bedingungen wurden die »Vertragsarbeiter*innen« in der DDR ebenfalls zentrales Feindbild rassistischer Mobilisierung, die in Morden und den Pogromen von Rostock und Hoyerswerda gipfelte. Zum anderen an der unverhohlen nationalsozialistischen Orientierung eines relevanten Teils des staatlichen Gewaltapparates, dessen Protagonist*innen mittlerweile kurz davorstehen, den Kampf um die Verteidigung ihrer Idee deutscher Staatlichkeit gegen die »Umvolkung« mit der Waffe in der Hand aufzunehmen.
Einem Großteil der in Deutschland lebenden Migrant*innen wurde der Weg zur deutschen Staatsbürgerschaft erst in einem historisch ungünstigen Zeitpunkt eröffnet. Die »Gastarbeiter *innen« waren Industriearbeiter*innen – das war der Sinn, der ihrer Existenz in Deutschland staatlicherseits zu Grunde gelegt wurde. Als solche waren sie ab 1990 in großem Umfang von den wirtschaftlichen Transformationsprozessen betroffen, die gemeinhin mit Schlagworten wie Neoliberalismus, Automatisierung, Digitalisierung etc. beschrieben werden. Es ist an der Stelle nicht der Raum, die Geeignetheit dieser Begriffsbildung für die beschriebenen Prozesse zu diskutieren. Es wird unterstellt, dass die Leser*innen wissen, was gemeint ist. Damit wurde die Möglichkeit, eine Machtstellung im Produktionsprozess zum Ausgangspunkt für Kämpfe um staatsbürgerliche Emanzipation zu machen, untergraben. Ich verweise auf meine Ausführungen: Überlegungen zu Lohnarbeit, Emanzipation und Revolution in Phase 2.57 (2020), die insofern den theoretischen Hintergrund dieser Überlegung darstellen. Während aus Arbeiter*innenvierteln »Problemviertel« wurden, wurden kurz nach der Reform des Staatsangehörigkeitsrechtes 2002/2003 die sogenannten Hartz-Reformen beschlossen. Es entstand so jene prekarisierte, urbane und migrantische Unterschicht, die als neue gefährliche Klasse Gegenstand medialer Erörterungen und polizeilicher Maßnahmen ist. Die Shishabar-Kampagne deutscher Politiker *innen, Medien und Polizeibehörden, die vermutlich auch als Stichwortgeber für den Attentäter von Hanau fungierte, ist letztlich ein Feldzug gegen diese gefährliche Klasse. In der Auseinandersetzung mit polizeilichem Rassismus wird seit den 1990ern immer mal wieder darauf verwiesen, welche Bedeutung die im Umgang mit dieser Unterschicht stattfindende Ethnisierung sozialer Verhältnisse und Kriminalisierung von Migrant*innen für dessen Herausbildung haben. Etwa Matthias Mletzko/Cornelia Wein, Polizei und Fremdenfeindlichkeit – Ergebnisse einer Befragung in einer westdeutschen Polizeidirektion, Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 2/1999, 77–93. Rassismus, verstanden als Ethnisierung gesellschaftlicher Verhältnisse, ist dabei nicht nur ein Problem der Polizei. Während also die formale rechtliche Gleichstellung zu symbolischer Anerkennung der staatsbürgerschaftlichen Existenz von Migrant*innen in Deutschland führt, untergräbt gleichzeitig die ökonomische Prekarisierung eines wichtigen Teils migrantischer Bevölkerung in Deutschland die reale staatsbürgerschaftliche Gleichstellung. Die daraus folgende Nichtanerkennung als gleichberechtigte Subjekte dieser Gesellschaft stabilisiert die rassistische Realität gegen alle schönen Floskeln. Dem Fehlen einer erfolgreichen Bürgerrechtsbewegung der »Gastarbeiter*innen«-Migration kommt dabei herausragende Bedeutung zu.
Erfolgreiche Symbolpolitik – Mediale Kämpfe um Anerkennung
Der Ort symbolischer Politik sind die Medien. Hier werden Symbole getauscht, verglichen, auf- und abgewertet. Dieser mediale Resonanzraum für symbolische politische Akte hat sich in den letzten Jahren deutlich verändert. Die in der Gegenüberstellung der staatlichen Reaktion auf den Brandanschlag von Solingen und der Reaktionen auf die Selbstenttarnung des NSU, die terroristischen Angriffe in Halle und Hanau erkennbar werdende Entwicklung wird noch deutlich sichtbarer, wenn man den medialen Umgang mit Rassismus vergleicht. Der Spiegel zum Beispiel setzte im September 1991 auf der infamen Titelseite »Ansturm der Armen« die »Das Boot ist voll«-Metapher zeichnerisch um und gab sich auch sonst alle Mühe, die schließlich im Dezember 1992 von CDU und SPD vereinbarte Abschaffung des Asylrechtes medial zu unterstützen. Derselbe Spiegel unterhielt von 2015 bis zum Herbst 2020 das Onlineangebot Bento, in dem ein intersektionaler, identitätspolitisch grundierter Antirassismus aktiv vertreten wurde (ähnliche Angebote unterhalten/ unterhielten Die Zeit (ze.tt) und Die Süddeutsche Zeitung (jetzt). Oder, um es an Personen festzumachen: Harald Schmidt, der in den 1990er Jahren das Konzept der Late Night Show in Deutschland maßgeblich etablierte, witzelte noch, wenn auch schon mit dem Gestus des Verstoßes gegen eine political correctness, über Polen und Kraftfahrzeugdiebstähle. Jan Böhmermann, aktuell wahrscheinlich profiliertester deutscher Vertreter dieses Formats, thematisiert in seiner Sendung unter anderem den Genozid an den Herero und Nama und den skandalösen Umgang der Bundesrepublik damit. Gleichzeitig agiert er auf Twitter als antirassistischer Aktivist. Ja, in den Flaggschiffen des bürgerlichen Selbstgesprächs, bei AnneWillMaischbergerPlasberg … dominiert noch das weiße Mediendeutschland, sind Migrant*innen meist ein Problem, über das Expert*innen sprechen und die Sorgen der »Wutbürger« Gegenstand intensivster Zuwendung. Doch in der Generation, die sie ablösen wird, sieht das schon, auch abseits so exponierter Vertreter wie Böhmermann, anders aus. Vor allem auch, weil mittlerweile Migrant *innen und Menschen mit Migrationshintergrund unter dem Schlagwort der Repräsentation darum kämpfen, in Medien – wie auch im akademischen Sektor – präsent zu sein, Themen zu setzen und das Reden über Migration und Rassismus selbst entscheidend mitzubestimmen. Diese Auseinandersetzungen um Repräsentation im medialen und akademischen Rahmen, die mittlerweile bis weit in das bürgerliche Feuilleton z.B. über die Besetzung von Talkshows geführt werden, erwecken durchaus den Eindruck eines Kampfes »migrantischer Subjekte« um ihre Rechte und ihren Platz in der Gesellschaft, die diese grundsätzlich verändern wird. So wird manchmal in diesem Milieu auch schon verkündet, der Aufstieg der AfD, der aktuelle akut-gewalttätige Rassismus oder gar Donald Trump persönlich seien die letzten Zuckungen, der letzte Widerstand der Herrschaft der alten weißen Männer gegen eine sich verändernde Welt.
Um diskutieren zu können, ob dieser mediale Antirassismus tatsächlich in der Lage ist, das oben beschriebene Fehlen eines Civil Rights Movement in Deutschland zu kompensieren oder ob sich darin gar Ansätze zu einem solchen finden lassen, wäre es sinnvoll, diesen analytisch zu betrachten. Erstaunlicherweise passiert das aber kaum, auch nicht in der antirassistischen Linken. Zwar wird sich intensiv über die in diesem Spektrum dominierenden identitätspolitischen und intersektionalen Ansätze gestritten, aber eine auf sozialen Prozessen beruhende Erklärung für diese Veränderung in den deutschen Medien und Universitäten wird kaum zu entwickeln versucht. Dabei bietet sich eine Deutung an, die an Überlegungen des französischen Soziologen Pierre Bourdieus anschließt. Überblicksartig nachzulesen zum Beispiel hier: Pierre Bourdieu, Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in: Reinhard Kreckel (Hrsg.), Soziale Ungleichheiten, Göttingen 1983, 183–198. Bourdieu versuchte Macht- und Hierarchieverhältnisse, die sich nicht direkt vom Besitz ökonomischen Kapitals oder staatlicher Macht ableiten, zu erklären. Zu diesem Zweck entwickelte er die Kategorien des kulturellen, sozialen und symbolischen Kapitals. Während die übergeordnete Kategorie des symbolischen Kapitals als Anerkennung und Prestige verstanden werden kann, umfasst kulturelles Kapital Wissen, Kenntnisse und erworbene Fähigkeiten, die den Zugang zu bestimmten gesellschaftlichen Positionen eröffnen. Soziales Kapital hingegen bezeichnet das Netz von Beziehungen, auf die gestützt solche Positionen erreichbar sind. Symbolisches, soziales, kulturelles und ökonomische Kapital können, wenn auch nicht immer problem- und verlustlos, grundsätzlich ineinander überführt werden. Vor dieser theoretischen Folie lässt sich ein guter Teil des akademischen und mainstream-medialen antirassistischen Engagements als Kampf um symbolisches Kapital verstehen. Seitens (post-)migrantischer Akteur*innen stützt sich das Bemühen, symbolisches Kapital zu erlangen auf den Versuch, soziales und kulturelles Kapital zu generieren. Eigene Netzwerkbildungen (wie zum Beispiel die Neuen Deutschen Medienmacher*innen) sind ein Versuch, selber Beziehungen zu knüpfen, die als Ressourcen für Karrieren im Mediengeschäft oder universitären Betrieb dienen können. Die Forderung, dass über Themen wie Migration und Rassismus zuvorderst Migrant*innen zu sprechen hätten, stellt unter anderem den Versuch dar, »migrantisches Wissen« zu einer notwendigen Voraussetzung für bestimmte Positionen in Medien und Akademie zu machen, mithin Erfahrungen und Kenntnisse, die nicht unbedingt dem traditionell gutbürgerlichen Bildungskanon zugehörig sind, in kulturelles Kapital umzuwandeln, also zu kommodifizieren.
Es ist kein Zufall, dass Twitter in diesem Bereich ein Leitmedium ist. Lässt sich Twitter doch als Maschine zur Erzeugung und zum Erwerb kulturellen, sozialen, symbolischen und im Erfolgsfall sogar ökonomischen Kapitals verstehen. Mit einem auf spezifischen Fähigkeiten (Schlagfertigkeit, prägnanter Ausdruck, Humor etc.) und Kenntnissen (die entweder schon kulturelles Kapital sind oder es spätestens in diesem Prozess werden) gestützten Auftreten lässt sich eine Vielzahl von Follower*innen aquirieren (soziales Kapital), die akkumuliert als »Reichweite« die Grundlage für Prestige und mediale Macht (symbolisches Kapital) darstellt. Dieses symbolische Kapital versuchen sich traditionell existierende Medien zu Nutze zu machen. Das Gewinnen von auf Twitter mit großer Reichweite aktiven Personen als Mitarbeiter*innen lässt darauf hoffen, deren »Followeria« für das eigene Medium zu begeistern und sich selbst den Anstrich von Frische, Unkonventionalität, Jugend und Zukunftszugewandtheit zu geben. Den eingestellten Twitter-Aktivist*innen erlaubt das die Umwandlung von symbolischem in ökonomisches Kapital. Diese Veränderungen des Wissens und der Attitüden, die als kulturelles Kapital im medialen und universitären Sektor gelten, wirkt auch auf nicht-migrantische Akteur*innen zurück. Zu einem modernen, weltoffenen (früher hätte man gesagt »weltmännischen«) Auftreten gehört heute das Wissen um – aus einem intersektionalen Antirassismus und Feminismus – abgeleitete Regeln und Codes sowie eine gewisse kritische Beschäftigung mit dem eigenen »Weißsein«. Um Missverständnissen vorzubeugen, bei aller inhaltlicher Kritik, die an diesem liberalen, oft moralisch aufgeladenen und individuelle Selbstoptimierung verlangenden Antirassismus möglich ist und von der der Autor dieses Textes einiges teilt, soll diese Analyse das Agieren entsprechend aktiver migrantischer Medienschaffender nicht delegitimieren. Das Hineinkämpfen in gesellschaftliche Machtpositionen, auch und gerade gestützt auf den Erwerb sozialen, kulturellen und ökonomischen Kapitals, bildet unter kapitalistischen Bedingungen ein Kernelement sozialer Bewegungen. Allerdings zeigt diese Analyse auch die Grenzen dieses Kampfs auf. Die notwendige Basis für die Existenz sozialen, kulturellen und symbolischen Kapitals ist die kapitalistische Konkurrenzgesellschaft. Das heißt, erstens müssen sich auch diese Kapitalformen in der Konkurrenz bewähren. Konkurrent*innen können also immer versucht sein, diese Kapitalformen abzuwerten, was auf diesem Weg erreichte gesellschaftliche Anerkennung immer prekär bleiben lässt. So dass man sich als Medium zum Beispiel von der antirassistischen Kolumnistin genau dann distanziert, wenn deren polizeikritische Kolumne Prestige und Anerkennung im traditionell- bürgerlichen Spektrum gefährdet. Zum anderen erstreckt sich die so erworbene gesellschaftliche Anerkennung natürlich nur auf die Inhaber*innen dieser Kapitalien. Wenn also migrantische Medienschaffende und Akademiker*innen sich als Expert*innen und im bildungsbürgerlichen Kosmos gleichberechtigte Akteur*innen durchsetzen können, wirkt dies allein nicht auf zum Beispiel Inhaber*innen von Shishabars zurück. Der soziale Mechanismus, der den einen die Qualifikation und Anerkennung verschafft, in Talkshows oder an Lehrstühlen über rassistische Polizeigewalt zu reden, beendet nicht diese Gewalt gegen die anderen. Symbolpolitische Kämpfe und die Akkumulation symbolischen Kapitals können wie gezeigt durchaus die soziale Position einzelner Individuen oder auch Gruppen von Menschen verändern, ihnen gesellschaftliche Anerkennung und Durchsetzungsmöglichkeiten verschaffen. Sie sprengen aber nicht die der Gesellschaft der Kapitalverwertung wohl inhärenten Mechanismen auf, die der Kategorisierung, Be- und Abwertung von Menschen sowie der Ethnisierung sozialer Verhältnisse und der daraus resultierenden Gewalt zugrunde liegen. Dazu bedürfte es nicht der Umverteilung von Macht, sondern der Überwindung der Kategorie Macht, also der grundlegenden Veränderung aller gesellschaftlicher Strukturen. Die vollständige Abschaffung rassistischer Polizeigewalt dürfte die Abschaffung der Polizei verlangen und damit die der bürgerlichen Gesellschaft. Ein derartiger Transformationsprozess aber würde die Grenzen symbolpolitischen Handelns weithin überschreiten.
Marek Winter
Der Autor lebt meist im Berliner Umland und beschäftigt sich mit Vergangenheit und Gegenwart sozialer Bewegungen.