Gefühlt jede Woche kippt in Deutschland ein antirassistisches Tabu, geschieht ein antisemitischer Anschlag, droht irgendwo ein AfDler mit dem großen Reinemachen, wenn die Macht erst einmal ergriffen sei. Da verschärft sich etwas, aber ist die deutsche Bevölkerung eigentlich rechter als vor etwa 30 Jahren? Sind Rechte heute gewaltbereiter? Was genau macht den »Rechtsruck« aus? Und wenn Autoritarismus und Nationalismus etwas mit kapitalistischer Ökonomie und bürgerlicher Gesellschaft zu tun haben – wie ist diese Veränderung zu erklären, wenn die gesellschaftlichen Grundlagen doch halbwegs gleich geblieben sind?Es geht mir hier natürlich nicht darum, eine eigene Theorie der rechten Einstellungen zu erarbeiten. Es geht im Folgenden darum, ein Moment im politischen Prozess herauszuarbeiten, das den Rechtsruck in Deutschland gefördert hat und in vielen Erklärungsansätzen nur wenig Beachtung findet. In welchem Verhältnis dieses zu anderen Bedingungen steht, kann höchstens angerissen werden.
Immer derselbe braune Sumpf
Inhaltlich hat sich an den rechten Einstellungen wenig geändert. Ihr Kern ist der völkische Nationalismus. Dieser muss nicht zwingend biologistisch argumentieren, ist aber der Intention nach identitär und schließt damit als fremd konstruierte Bevölkerungsgruppen gewaltsam aus, genauso wie jene, die als Schwächung der »Volksgemeinschaft « betrachtet werden. Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit ist deshalb eine der wesentlichen Zutaten: Rassismus, Antisemitismus, Homophobie, Antifeminismus, Sozialdarwinismus, Behindertenfeindlichkeit – um die wesentlichen Ausprägungen zu nennen. Der völkische Nationalismus lässt Interessengegensätze innerhalb des »Volkes« nur vorkommen als angeblichen Gegensatz zwischen dem »Volk« und »korrupten Eliten«. Er lehnt politische Institutionen zur Vermittlung von Interessen deshalb tendenziell ab. Die Stellung der eigenen Nation zu anderen ist im rechten Diskurs so gefasst, dass »nun endlich« die legitimen nationalen Interessen aggressiv nach außen vertreten werden müssten, nachdem das von wem auch immer lange verhindert worden sei.
Diese Elemente des völkischen Nationalismus müssen in einer konkreten rechten Position nicht alle gleichermaßen vorkommen. In ihrer jeweiligen Kombination unterscheiden sich die verschiedenen Fraktionen der Rechten. Politisch sind diese Unterschiede zwar sehr wichtig – Neonazis und Leute, die bei Corona-Demos mit Grundgesetz herumlaufen, stellen die Linke vor ganz unterschiedliche Herausforderungen. Für die Fragestellung hier reicht es aber aus, vereinfachend von »der Rechten« zu sprechen.
Frag nach und es wird dich gruseln
Die empirische Sozialforschung ist kein neutrales Geschäft, dennoch kann man ihren Ergebnissen Facetten der Wirklichkeit entnehmen. Schaut man sich Studien der letzten Jahrzehnte an, so fällt in Bezug auf rechte Einstellungen zweierlei auf: ihre Verbreitung und ihre Konstanz. Rechts gedacht wird dabei nicht nur von Menschen, die sich selbst als Rechte sehen. Mit nur leichten Abweichungen geben studienübergreifend an die 90 Prozent der befragten Deutschen an, Demokratie für das beste politische System zu halten. Meinungsfreiheit, regelmäßige Regierungswechsel und das Primat der Menschenwürde erreichen riesige Zustimmungswerte, wenn abstrakt nach ihnen gefragt wird.Oscar W. Gabriel/Katja Neller, Stabilität und Wandel politischer Unterstützung im vereinigten Deutschland, in: Hartmut Esser (Hrsg.): Der Wandel nach der Wende, Wiesbaden 2000, 67-90, 76f.; Andreas Zick u.a., Verlorene Mitte – Feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2018/19, Bonn 2019, 72ff., 82f., 183, 228f., 233. Fragt man genauer nach, wird es erschreckend: In einer jüngeren Studie geben über 50 Prozent der Befragten an, eine »Expertenregierung« auch nicht schlecht zu finden, Menschen, die zuvor noch mit großer Mehrheit Demokratie bejaht hatten.Frank Decker u.a., Vertrauen in Demokratie. Wie zufrieden sind die Menschen in Deutschland mit Regierung, Staat und Politik?, Bonn 2019, 11, 96. Mal stimmen 50 Prozent der Aussage zu »Um Recht und Ordnung zu bewahren, sollte man härter gegen Außenseiter und Unruhestifter vorgehen« Zick, Verlorene Mitte, 183., mal ist ein Viertel der Ansicht, dass es »einen starken Führer« geben sollte, »der sich nicht um Parlamente und Wahlen kümmern muss« Rainer Faus/Simone Storks: Im vereinten Deutschland geboren — in den Einstellungen gespalten?, bit.ly/3lurWJY.. Das größte Vertrauen sprechen die Befragten den Institutionen aus, die für »Recht und Ordnung« zuständig sind (Polizei, Gerichte), und am wenigsten den Institutionen, die für »Zank und Streit« stehen wie Parteien. Etwa 15 bis 20 Prozent der Befragten stimmen offen antisemitischen und rassistischen Aussagen zu.
So schrecklich solche Ergebnisse sind, einen Rechtsruck belegen sie nicht. Ähnliche Ergebnisse gab es auch vor 40 Jahren schon: Die Sinus-Studie von 1981 trug die Sehnsucht nach einem »Führer« schon im Titel, Mitte der 1980er stimmten über 40 Prozent der Jugendlichen der Forderung »Ausländer raus!« zu.Martin Greiffenhagen u.a., »Wir sollten wieder einen Führer haben...«. Die SINUS-Studie über rechtsextremistische Einstellungen bei den Deutschen, Reinbek 1981; Wilhelm Heitmeyer, Rechtsextremistische Orientierung bei Jugendlichen. Empirische Ergebnisse und Erklärungsmuster einer Untersuchung zur politischen Sozialisation, Weinheim/München 1987, 116ff. Wenn überhaupt, dann hat sich auf dieser Ebene minimal etwas dahingehend verändert, dass autoritäre Einstellungen seit Anfang der 2000er Jahre nicht zu-, sondern leicht abgenommen haben. Zick, Verlorene Mitte, 82f., 233.
Beschädigung mit System
Die Konstanz rechter Einstellungen ist einerseits erschreckend, kann andererseits aber auch nicht überraschen, weil bestimmte Grundbedingungen dieses Denkens konstant sind. Die meisten BürgerInnen verzichten nicht deshalb aufs Klauen, weil sie Angst vor der Polizei hätten, und leisten nicht deshalb Überstunden, weil sie direkt mit Rausschmiss bedroht würden. Verhalten gemäß der herrschenden Ordnung funktioniert stattdessen über ein »Zusammenspiel von sozialer Kontrolle und Internalisierung von sozialen Normen«. Peter Brückner, Zur Sozialpsychologie des Kapitalismus, Frankfurt a.M. 1972, 16. Die Sozialisationsprozesse, die in der bürgerlichen Gesellschaft zu einer solchen Internalisierung führen, bedingen eine tendenzielle Ich-Schwäche und schaffen damit auch die Grundlage für rechte Einstellungen. Verkürzt gesagt: Das Ich wird schwach, wenn ein Mensch sich permanent mit Übermacht arrangieren muss. Um ihre Angst und Aggression angesichts der »Gleichzeitigkeit von Abhängigkeit und Vereinzelung« Ebd., 25. im Kapitalismus handhabbar zu machen, beziehen sich BürgerInnen emotional positiv auf Autoritäten und hier vor allem auf die stärkste Autorität der bürgerlichen Gesellschaft, den Staat. Entweder, das wäre die Variante der Autoritären Persönlichkeit, durch – lustvolle – Unterordnung, oder, in der narzisstischen Variante, durch Identifikation, also ein »Sichin-eins-Imaginieren« Mario Erdheim, Irrationalität und Rechtsextremismus, in: Hans- Dieter König (Hrsg.), Sozialpsychologie des Rechtsextremismus, Frankfurt a.M. 1998, 20-40.. Dazu wird ein »Volk« vorgestellt, als dessen Teil man die entsprechende Haltung zur Staatsgewalt einnimmt.
Auf der Handlungsebene müssen BürgerInnen ohnehin Nationalisten sein. Sie sind von »ihrem« Staat abhängig und erhoffen von ihm, dass er Bedingungen schafft, unter denen sie z.B. ihre Arbeitskraft verkaufen können oder ihr Kapital verwerten. Sie müssen ihm deshalb Erfolg wünschen. Zugleich leisten sie ihm Dienste, zahlen z.B. Steuern oder dienen in der Armee. Im Prozess der bürgerlichen Sozialisation entsteht ein emotionales Grundgerüst, das diesem praktischen Nationalismus entspricht – ungeplant, aber funktional.
In der bürgerlichen Gesellschaft zu leben erfordert allerdings Verzicht: für die ArbeiterInnenklasse und die Randständigen vor allem materiell, aber auch z.B. bezogen auf das Ausleben von Trieben. Eine Identifikation mit dem Staat hebt diesen Verzicht nicht auf. Weder garantiert der Staat jedem ein würdiges Auskommen, noch bedeutet bürgerliche Demokratie eine reale Teilnahme an der Herrschaft. Sich mit dem Staat zu identifizieren ist deshalb zwar für die meisten besser auszuhalten als alle vorstellbaren Alternativen – doch die Gründe für Angst und Aggression sind damit nicht aus der Welt geschafft. Sie müssen unterdrückt oder umgelenkt werden, gegen »die Anderen«, »die Juden«, »die Schmarotzer« usw.
Diese Zurichtung funktioniert nicht nur in Familienstrukturen mit autoritärer Vaterfigur. Viele der späteren NSDAP-Anhänger wuchsen während und nach dem Ersten Weltkrieg ohne Vater auf. Es gibt vielmehr ganz unterschiedliche Wege zur Ich-Schwäche, weswegen mit der graduellen Abnahme traditionell-autoritärer Erziehungspraktiken das Phänomen autoritärer oder narzisstischer Persönlichkeitsstrukturen auch nicht verschwunden ist. Methodisch mangelhaft, aber mit aktuellen empirischen Befunden: Herbert Renz-Polster, Erziehung prägt Gesinnung. Wie der weltweite Rechtsruck entstehen konnte und wie wir ihn aufhalten können, München 2019; Karin Stögner, Hass, Identität und Differenz. Über die Aktualität des autoritären Charakters, in: jungle world 47/2019.
Die so Zugerichteten müssen nicht zwangsläufig Deutschlandfahnen neben Gartenzwergen drapieren. Identifikation mit dem Staat kann z.B. auch so funktionieren, dass die angeblich vorbildliche Auseinandersetzung Deutschlands mit der NS-Vergangenheit gefeiert und daraus abgeleitet wird, dass Deutschland aufgrund seiner moralischen Überlegenheit seine Interessen erst recht mit Macht verfolgen dürfe. Ob jemand rotgrüner oder brauner Nationalist wird, hängt vom ertragenen Erziehungsstil, aber oft auch schlicht vom Milieu und der ökonomischen Situation ab. Innerhalb der Wirtschafts- und Bildungseliten z.B. ist der Einfluss auf Politik am größten, ist man durch staatliche Ausgabenkürzungen weniger bedroht und kann Selbstbestätigung aus dem Selbstbild eines aufgeklärten Bürgertums gewinnen. Da der Staat eher unternimmt, was dem eigenen Milieu nützt, kann man sich den offenen affirmativen Bezug auf ihn sparen und lieber von »Allgemeinheit« reden. In diesen Milieus ist die in Umfragen geäußerte gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit dementsprechend am geringsten. Wie wenig das im Zweifelsfall politisch wert ist, zeigt der Protest in gutsituierten Vierteln gegen Flüchtlingsunterkünfte in der Nachbarschaft.
Für viele BürgerInnen aber ist qua gesellschaftlicher Stellung dieser »zivilisierte«, nicht unmittelbar rechte Nationalismus keine Option. Umso wichtiger ist für sie der unmaskierte, positive emotionale Bezug auf die übermächtige herrschende Gewalt – weswegen der Staat bei offen Autoritären immer Bezugspunkt des Empfindens und Denkens bleibt und trotz Schimpfens auf die »BRD-GmbH« nicht völlig von z.B. »weißer Rasse« oder »christlichem Abendland« abgelöst werden kann.
Und was ist jetzt mit dem Rechtsruck?
Diese sozialpsychologischen Überlegungen sind allerdings keine hinreichende Erklärung für rechte Tendenzen. Wenn man annimmt, dass die sozialspsychische Disposition der Mehrheit im genannten Sinne relativ stabil ist, dann erklärt das zum einen die ebenfalls recht stabilen rechten Umfrageergebnisse, zum anderen hat man hier ein Erklärungsmoment dafür, dass auch in Krisenzeiten die emanzipatorische Linke randständig bleibt. Nicht zu erklären aber sind auf diesem Weg Schwankungen in der Attraktivität rechter Positionen und damit auch, was den Rechtsruck der letzten Jahre ausmacht und bedingt hat.
Viel deutlicher als in den sozialwissenschaftlich abgefragten Einstellungen ist dieser Rechtsruck auf der Handlungsebene nachzuweisen. 2003 bis 2008 und dann wieder 2015 und 2016 nahmen Vergehen, die Rechten zuzuordnen sind, stark zu. Toralf Staud, Straf- und Gewalttaten von rechts: Was sagen die offiziellen Statistiken?, bit.ly/2JBxOUt. Allein in Berlin wurden 2018 über 1.000 antisemitische Vorfälle erfasst, 14 Prozent mehr als im Vorjahr. »Antisemitismus ist auch ein deutsches Problem«, in: Die Welt vom 27. August 2019. Es gab nicht mehr rechte Morde – trotz Hanau, trotz Halle waren diese früher genauso häufig. Vgl. Wikipedia: Todesopfer rechtsextremer Gewalt in der Bundesrepublik, bit.ly/3lvVIhw. Doch es gab eine eklatante Zunahme »alltäglicher« rechter Gewalt, von Bedrohung, Beschimpfung, Körperverletzung im öffentlichen Raum. Es gibt also nicht vermehrt mordende Nazis, sondern es werden vor allem mehr Angriffe von Normalbürgern im Alltag verübt.
Ähnlich groß ist die Zunahme bei Hate Speech, also der gruppenbezogenen Hass-Beschimpfung im Internet. Immer mehr Menschen geben in Umfragen an, in sozialen Medien Hate Speech zu begegnen. Landesanstalt für Medien NRW, Forsa-Befragung zu: Hate Speech 2020, bit.ly/2JA4EFi. Auch in den Kommentarspalten von »Qualitätsmedien« wie der FAZ, der Süddeutschen usw. verdoppelte sich zwischen 2007 und 2017 die Zahl formulierter Gewaltphantasien und dehumanisierender Bezeichnungen für Menschen (Pest, Krebs, Unrat). Monika Schwarz-Friesel, Antisemitismus 2.0 und die Netzkultur des Hasses, Berlin 2018. Mit der AfD hat diese sprachliche Gewalt es auch in die Parlamente und die bürgerlichen Medien geschafft.
Diese Veränderung auf der Handlungsebene hat sich in den Ergebnissen der empirischen Sozialforschung sogar angekündigt, obwohl dort die abstrakte Demokratiebejahung und die gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit etwa konstant blieben. Der diesbezüglich auffällige Wert ist die sogenannte »Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie«. Sie stieg in den frühen 2000ern etwas an, sank dann bis 2013 leicht und nahm seitdem drastisch ab. Thomas Petersen u.a., Gespaltene Demokratie. Politische Partizipation und Demokratiezufriedenheit vor der Bundestagswahl 2013, Gütersloh 2013, 17. Anfang 2020 war nur rund die Hälfte der Befragten mit dem Funktionieren der Demokratie in Deutschland zumindest »ziemlich« zufrieden. Die so geäußerte Unzufriedenheit korreliert deutlich mit rechten Einstellungen. Es handelt sich dabei nicht um »Politikverdrossenheit«. Vor allem ist in bestimmten Milieus die Sicht auf den Staat negativer geworden. Es ist also nicht Politik-, sondern Systemverdrossenheit, die unter den herrschenden Bedingungen durchaus in politische, nämlich z.B. rassistische, Aktion umschlagen kann.
Enttäuschte Liebe
Dass BürgerInnen dem Zustand des Staates, in dem sie leben, trotz aller Identifikationssehnsucht auch kritisch gegenüberstehen, ist nicht verwunderlich. Dem Anschein nach bevorzugen »die da oben« dauernd irgendjemanden, der man nicht selber ist. Zugleich sind die Entscheidungsprozesse in der bürgerlichen Gesellschaft so kompliziert, dass man nur schwer Einzelne dafür verantwortlich machen kann. Die Identifikation mit dem Staat kippt deshalb immer mal wieder um in eine Art enttäuschte Liebe. Dementsprechend hat es in der »Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie« auch früher schon starke Schwankungen gegeben. Krisen wie die Ölkrise in den 1970er Jahren oder der Anstieg der Massenarbeitslosigkeit ab Mitte der 1980er hatten zu Einbrüchen der Demokratiezufriedenheit geführt, vor allem bei Befragten, die sich selbst als politisch rechts einordneten. Michael Terwey, Demokratiezufriedenheit und Vertrauen, in: Zentralarchiv für Empirische Sozialforschung 39 (1996), 94-129, 107. Hier wird aber auch der entscheidende Unterschied zu den Jahren nach 2015 deutlich: Die Unzufriedenheit damals legte sich immer relativ schnell wieder.
Das lag nicht daran, dass es keine politische Alternative gegeben hätte, mit der man »Protest« hätte ausdrücken können. 1983 wurden z.B. die Republikaner gegründet, programmatisch ungefähr so aufgestellt wie die AfD heute, professionell geführt, mit Wahlerfolgen bis 10 Prozent in Baden-Württemberg 1992. Doch sie verschwanden nach einigen Jahren von der politischen Bildfläche. Die rechten (West-)BürgerInnen müssen es vorgezogen haben, den etablierten politischen Parteien die Treue zu halten. Warum tun viele von ihnen das heute nicht mehr?
ForscherInnen der Friedrich-Ebert-Stiftung haben für die Finanzkrise 2008 die These aufgestellt, dass europaweit Einbrüche in der Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie dort am geringsten ausfielen, wo ein stabiler Sozialstaat die Angst vor dem sozialen Abstieg abmilderte. Zugespitzt ausgedrückt: Sozialhilfe schütze gegen Rechts. Der Zusammenhang zwischen ökonomischem Interesse und politischer Haltung wird hier ganz unmittelbar und damit falsch gefasst. In den 1980ern und -90ern fällt der Zeitpunkt, an dem die Demokratiezufriedenheit in Deutschland abnahm, nicht signifikant mit Phasen eines beschleunigten Abbaus des Sozialstaates zusammen. Und vor allem nahm diese Zufriedenheit jeweils irgendwann wieder zu, obwohl sich an den Krisenparametern und der sozialstaatlichen Versorgung gar nichts zum Besseren gewendet hatte.
Philip Manow wiederum versucht Rechtspopulismus daraus zu erklären, dass im reichen europäischen Norden durch Migration die Konkurrenz um öffentliche Güter zunehme, weswegen MigrantInnen als Konkurrenten wahrgenommen würden, während im ärmeren Süden Populismus eher links und globalisierungskritisch auftrete. Philip Manow, Die Politische Ökonomie des Populismus, Frankfurt a.M. 2018. Auch hier ist der Zusammenhang zwischen Ökonomie und Ideologie etwas schlicht geraten. Der grenzenlose Hass auf alles angeblich Fremde, der sich auch auf gut integrierte, steuerzahlende Deutsche aus Einwandererfamilien bezieht, ist auf dieser Ebene ebenso wenig zu erklären wie die Verbindung mit anderen Formen der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit wie Antifeminismus und Antisemitismus oder das Ausmaß der Wut auf Merkel und ihr »Regime«.
Stattdessen zeigen Befragungen eine ganz andere, interessante Korrelation: Die Zufriedenheit mit dem Zustand der Demokratie hängt auffällig damit zusammen, wie die Befragten die ökonomische Lage der Gesamtgesellschaft einschätzen. Wer der Meinung ist, Deutschland gehe es wirtschaftlich schlecht, ist mit »der Demokratie« im Land besonders unzufrieden. Und zwar nahezu unabhängig davon, wie er/sie die eigene, individuelle wirtschaftliche Lage gegenwärtig einschätzt oder zukünftig erwartet. Decker, Vertrauen in Demokratie, 18; Gabriel/Neller, Stabilität und Wandel, 84ff.; Zick, Verlorene Mitte, 249. Das bedeutet, dass es zwar einen Zusammenhang zwischen ökonomischer Krise und rechten Einstellungen gibt, dieser Zusammenhang aber nationalistisch vermittelt ist. Die laut Umfragen unzufriedenen BürgerInnen sind, weitgehend unabhängig von eigenen Geldsorgen, zu dem Schluss gekommen, dass der Staat einer seiner zentralen Aufgaben nicht nachkomme, nämlich für ein prosperierendes Gemeinwesen zu sorgen. Das ist keine lebensweltlich-konkrete Kritik, sondern eine abstrakt-staatsbürgerliche: Sie folgt aus dem Gefühl, dass der Staat, mit dem man sich so gerne identifizieren würde, von seinen Aufgaben überfordert ist.
Die Süddeutsche Zeitung listete im Januar 2020 vor dem Hintergrund steigender politischer Unzufriedenheit ein knappes Dutzend Beispiele für Staatsversagen auf, vom Richtermangel und Schwimmbadschließungen bis zur Stilllegung von Bahnstrecken. »Staat: Komm zurück«, in: Süddeutsche Zeitung vom 4. Januar 2020. Missstände wie das weiträumige Fehlen von schnellem Internet zeigen, dass dieses »Versagen« nicht nur Nice-to-have-Leistungen umfasst, sondern sich auch auf Bereiche erstreckt, die wichtig für die Kapitalverwertung im Land sind. Doch warum sind den heute Enttäuschten ähnliche Zustände nicht 20 Jahre früher aufgefallen? Die Bahnreform begann in der ersten Hälfte der 1990er Jahre – und setzte Streckenstilllegungen auch nur fort. Zu vermuten ist, dass gar nicht solche Mängel der Grund für die Unzufriedenheit sind, sondern zuerst das Staatsvertrauen eine Erschütterung erfahren hat, und dann erst die Mängel als Bestätigung dieses Vertrauensverlustes interpretiert wurden.
Dieser enttäuschte Fokus ließ sich auch angesichts der Migrationsbewegungen 2015 und 2016 beobachten: AgitatorInnen von rechts, weite Teile der CDU eingeschlossen, nahmen die sogenannte »Flüchtlingskrise« sofort als Infragestellung der Handlungsfähigkeit des Staates wahr. »Wir sehen in der Flüchtlingskrise einen Staat, der der Gefahr der Überforderung anheimfällt«, zit. n. https://bit.ly/3AlwBpR. Teile der Bevölkerung nahmen das dankend auf. Das war sachlich zwar unsinnig, zeigt aber, als wie labil Staatlichkeit zu diesem Zeitpunkt bereits wahrgenommen wurde.
Abhängigkeiten wohin man schaut
Es gibt zwei ökonomisch-politische Bedingungen dafür, dass »Staat« in den Augen vieler heute nicht mehr mit Macht und Souveränität gleichzusetzen ist: die ökonomische Globalisierung und die Integration der Europäischen Union. Ironischerweise gehört Deutschland wirtschaftlich zu den Gewinnern beider Prozesse. Zwar produziert die durch Zollsenkungen, abnehmende Transportkosten und Euroeinführung verschärfte internationale Konkurrenz auch VerliererInnen im Inland. Das aber sind vor allem Niedrigqualifizierte, die, kleingemacht durch die rot-grüne Agenda-Politik und deren Fortsetzung unter Merkel, weder ökonomisch noch politisch besonders ins Gewicht fallen. AfD-wählende Handwerksmeister aus Pirna und wutbürgernde Angestellte aus Stuttgart gehören bisher jedenfalls nicht dazu. Krisenstimmung aufgrund von Globalisierung und Europäisierung folgt also nicht unmittelbar aus ökonomischen Interessen. Stattdessen geht es darum, dass in beiden Prozessen der deutsche Staat als Getriebener erscheint und als scheinbar sichernder Anker infrage gestellt ist.
Auch vor der Phase verschärfter Globalisierung fand die Souveränität des Staates Grenzen an der Stärke anderer Staaten. Aber mit denen konnte man verhandeln, sie unter Druck setzen, zur Not auch sich Ihnen aktiv unterordnen. Seit etwa der Jahrtausendwende scheint es dagegen zumindest so, als sei die Macht nun ganz auf Seiten der Unsichtbaren Hand ökonomischer Zwänge, denen ein Staat entweder nachkommt oder an denen er scheitert. Das ist in dieser Zuspitzung Propaganda interessierter Kreise, aber auch nicht völlig aus der Luft gegriffen.
Zugleich schwächte seit den 1990ern der Neoliberalismus den Staat sowohl ökonomisch als auch agitatorisch. Ökonomisch erhöhte die Konkurrenz der nationalen Standorte um anlagewilliges Kapital zwar dessen Rentabilität, beraubte aber selbst Staaten wie Deutschland wichtiger Steuereinnahmen und schränkte ihre Handlungsfähigkeit ein. Auch der agitatorische Effekt ist nicht zu unterschätzen. Von Politik und Medien wurde die Propaganda verbreitet, dass staatliche Institutionen letztlich Verschwendung von Reichtum seien. Höchstens mithilfe von BeraterInnen aus der Privatwirtschaft könne Verwaltung effizient arbeiten. Der damit verbundene Stellenabbau im öffentlichen Dienst verminderte dessen Leistungsfähigkeit dann tatsächlich.
Spätestens seit dem Vertrag von Amsterdam 1999 beschränkt auch die EU die Souveränität des deutschen Staates. Das entspricht zwar deutschen Kapitalinteressen, das Institutionengeflecht der EU ist aber nicht geeignet, autoritären deutschen BürgerInnen als Identifikationsobjekt zu dienen. 2002 ging die D-Mark flöten, 2004 begann die Osterweiterung. 2010 folgte die »Euro-Krise« um Griechenland, in der die Bundesregierung zwar maßgeblichen Einfluss ausübte, als Akteur in den Medien aber vor allem eine »Troika« aus IWF und EU-Institutionen in Erscheinung trat. Alles dies, der Sache nach eine deutsche Erfolgsgeschichte, ließ den deutschen Staat in den Augen eines Teils seiner Bevölkerung zum Nebendarsteller werden. Es ist deshalb kein Wunder, dass die AfD 2012 als EU-kritische Partei begonnen hat.
Bei Wahlen war früher mehr Lametta
In parlamentarischen Demokratien ist das gängige Mittel, um Unzufriedenheit aufzufangen, ein Regierungswechsel. Das gelang besonders gut in den Richtungswahlen 1983 und 1998. Hier wurde noch einmal an die konkurrierenden Konzepte konservativ- liberaler und sozialdemokratischer Wirtschafts- und Sozialpolitik erinnert, die seit den 1930er Jahren halbwegs abwechselnd angewendet worden waren: Angebotspolitik (»Wir müssen Kosten senken und die Kapitalprofitabilität erhöhen, damit mehr investiert wird«) versus Nachfragepolitik/ Keynesianismus (»Wir müssen durch Staatsausgaben die Nachfrage steigern, damit die Kapitalprofitabilität steigt«). Der Richtungskampf war zu einem guten Teil Inszenierung. Kohls »geistig-moralische Wende« blieb aus, während die neoliberalen Reformen ausgerechnet unter Schröders rotgrüner Regierung vollendet wurden. Doch es war eine vom Staatsstandpunkt aus erfolgreiche Inszenierung: Das Duell Schröder-SPD gegen Kohl- CDU unterbrach den Trend sinkender Wahlbeteiligung und brachte 1998 noch einmal fast 83 Prozent der Wahlberechtigten an die Urnen. Es waren Hoffnungen geweckt und die politische Führung im wahrsten Sinne des Wortes als entscheidend inszeniert worden.
Die loophafte Abwechslung zwischen Angebots- und Nachfragepolitik im 20. Jahrhundert ist kein Zufall: Angebotspolitik führt tendenziell zu Verarmung, Vernachlässigung der Infrastruktur und zu Überschuss an Geldkapital, das es in spekulative Geschäfte drängt, Lucas Zeise, Ende der Party. Die Explosion im Finanzsektor und die Krise der Weltwirtschaft, Köln 2008, 64ff., 179ff. Nachfragepolitik führt tendenziell zu Inflationsanstieg, höherer Staatsverschuldung und Investitionsschwäche. Tim Schanetzky, Die große Ernüchterung: Wirtschaftspolitik, Expertise und Gesellschaft in der Bundesrepublik 1966 bis 1982, Berlin 2007, 163ff. Deshalb verschärft jedes dieser Paradigmen nach einiger Zeit ökonomische Störungen, legt einen erneuten Paradigmenwechsel nahe usw. Die Begrenztheit beider Ansätze hat auch die Volkswirtschaftslehre und -politik erkannt. En vogue ist deshalb heute eine Mischung angebots- und nach-fragepolitischer Instrumente, die von Fall zu Fall kombiniert werden sollen. Hans-Rudolf Peters, Wirtschaftspolitik, München 2000, 225. Das ist wirtschaftspolitisch nachvollziehbar, führt aber in die »Alternativlosigkeit « angeblich ideologiefreien Regierens, vor allem in den großen Koalitionen unter Merkel. Damit wird es für die WählerInnen jedoch schwieriger, sich einzubilden, mit der eigenen Stimmabgabe über eine Richtung zu bestimmen, Teil der Macht und der eigentliche Souverän zu sein.
Das ist eine der Grundlagen für einen Zustand, den der britische Sozialwissenschaftler Colin Crouch schon 2007 »Postdemokratie« genannt hat: Parteien sind kaum noch Sprachrohr bestimmter gesellschaftlicher Interessen, Wahlkampf ist eine Marketingveranstaltung. Colin Crouch, Postdemokratie, Bonn 2008. Politik wird wesentlich mithilfe von Expertenrunden gemacht, in denen Lobbygruppen, Fachanwaltskanzleien und EntscheiderInnen nicht mehr deutlich voneinander getrennt sind. Richard Münch, Politische Kultur, Demokratie und politische Regulierung: Deutschland und USA im Vergleich, in: Jürgen Gerhards (Hrsg.), Die Vermessung kultureller Unterschiede. USA und Deutschland im Vergleich, Opladen/Wiesbaden 2000, 15-32, 18. In der bürgerlichen Öffentlichkeit finden demgegenüber vor allem hoch emotionalisierte Scheindebatten statt. Eine nur noch medial vermittelte Bindung der WählerInnen an eine Partei ist aber viel labiler als die frühere kulturell-interessendominierte.
Das »Volk« erlebt also einen ökonomisch abhängigen und von Sachzwängen getriebenen Souverän, in dessen politischer Inszenierung es offensichtlich um nichts mehr geht. Auf diesen Ebenen ist für das vom bürgerlichen Leben gebeutelte Subjekt emotional wenig zu gewinnen.
Die SPD leidet unter dieser Entwicklung am meisten. Dazu hat die Auflösung der alten Arbeitermilieus als WählerInnenreservoir der Sozialdemokratie beigetragen, doch dazu kommt ein anderer Effekt: Der Nationalismus der SPD-Wähler Innen funktionierte weniger über einen aufgeladenen Begriff »deutscher Nation« wie in Teilen der CDU, sondern über die Umsetzung sozialdemokratischer Regelungsvorstellungen qua Besetzung von Verwaltungsstellen. Hier war aber seit Ende der 1990er kaum noch politischer Spielraum vorhanden. Inzwischen sind rechte Positionen unter Gewerkschaftsmitgliedern, dem alten Kern der SPD-AnhängerInnen, stärker verbreitet als unter Nichtmitgliedern. Sebastian Bödeker, Soziale Ungleichheit und politische Partizipation in Deutschland, Frankfurt a.M. 2012, 24; Zick, Verlorene Mitte, 133, 187f.
Die Krise mit der Katastrophe besiegen?
Die Folgen insbesondere der ökonomischen Entwicklung Ende des 20. Jahrhunderts (Globalisierung, Neoliberalismus, EU-Integration) machen es den bürgerlichen Subjekten heute so schwer wie noch nie in der BRD, ein positives emotionales Verhältnis zu »ihrem Staat« zu erhalten. Die Gewaltförmigkeit der sozialen Beziehungen und die daraus resultierende Zurichtung der Menschen hat aber nicht abgenommen. Das ist eine wichtige Bedingung für das Ausmaß der Wut angesichts angeblicher gesellschaftlicher Zumutungen, für den Siegeszug der Rechten, für die Zunahme verbaler und körperlicher Übergriffe.
Ein Dasein als rechter Wutbürger stellt hier einen vorübergehenden Ausweg dar. Vorübergehend deshalb, weil in der noch so aggressiven Hetze doch immer Machtlosigkeit durchscheint und sich das mit Selbstermächtigungsphantasien schlecht verträgt. Der AfD z.B. ist deshalb notwendig die Tendenz zur Radikalisierung eigen. Entweder sie macht irgendwann die rechte Revolution, oder sie wird verschwinden wie die Republikaner vor 30 Jahren. Für rechte StrategInnen ist das durchaus eine Herausforderung. Das bedeutet aber nicht, dass die rechten BürgerInnen im Falle eines Niedergangs der AfD von alleine wieder in die Arme von CDU und SPD strömen würden. Unabhängig davon, ob das wünschenswert wäre – die zugrundeliegenden Prozesse, die zur Abschwächung der Identifikation geführt haben, sind nicht einfach umkehrbar. Theoretisch könnte natürlich auch die Linke (also die radikale) einmal Erfolg in der Mobilisierung gegen die herrschenden Verhältnisse haben und eine kollektive Selbstermächtigung anderer Art anbieten, aber das ist eine andere Geschichte, deren bisherige Staffeln traurig endeten.
Dass die Liebesbeziehung zwischen autoritären BürgerInnen und den »Systemparteien« trotzdem nicht für alle Zeiten erledigt sein muss, hat die Corona-Krise gezeigt. Auch wenn es angesichts der lauten Minderheit der »Querdenker« und verhinderten ReichstagsstürmerInnen leicht zu übersehen war, stiegen die Zustimmungswerte der Bundesregierung im Frühjahr und Sommer 2020 nämlich stark an. Und das lag nicht daran, dass die Regierung Merkel irgendetwas sichtbar besser gemacht hätte als ihre politischen KonkurrentInnen. Entscheidend für den Zustimmungszuwachs war eher etwas anderes: Mit den vielen Verboten und Regelungen, so umstritten sie im Detail sein mochten, hatte sich der Staat in der Corona- Krise als mächtiger Akteur bewiesen – mehr braucht‘s oft nicht, damit aus enttäuschter Liebe wieder Zuneigung wird. Inwiefern die das „Impfchaos“ und die Planlosigkeit im Frühjahr 2021 übersteht, muss sich allerdings noch zeigen.
Vor allem aber ist nach der Krise immer vor der Krise. Angesichts der Klimakatastrophe könnte sich Corona irgendwann als Kataströphchen herausstellen. Sollte es dann zu einer Art Kriegskapitalismus ohne Waffen kommen, mit staatlicher Ressourcenbewirtschaftung, Gürtel-enger-schnall- Rhetorik, neuen Vorschriften in allen Lebensbereichen und bewaffneten Konflikten an den EU-Außengrenzen – dann würden die Herzen der Autoritären dem sich so potent gebärdenden Staat und seinen Parteien wahrscheinlich wieder zufliegen. Freuen sollte man sich darauf besser nicht – sondern lieber die Sache mit der linken Gegenmacht versuchen.
Rüdiger Mats
Vom Autor erschien zuletzt Das Ende des eisernen Reistopfs in Phase 2.43. Er ist zur Zeit nirgendwo organisiert und findet das skandalös.