In der gegenwärtigen Debatte über Charakter und Erfolg des Rechtspopulismus herrscht Konfusion. Obwohl der Zyklus politischer Regression bereits seit mindestens einer Dekade anhält, beginnt so gut wie jede einschlägige Publikation mit der Problemstellung, dass dem zu analysierenden Phänomen etwas Diffuses, Schwammiges, schwer Greifbares anhaftet. Zur Aufklärung des Sachverhalts kommt es meistens aber nicht.
Stattdessen wird zum Abspulen konventioneller Erklärungsmuster übergegangen, die eher dem Bedürfnis geschuldet sind, der verzweifelten Lage politisch doch etwas abzugewinnen. Im Begriff – oder eher: dem Schlagwort – des Rechtspopulismus kristallisiert sich diese Problematik. Denn von Populismus zu reden läuft in den meisten Fällen darauf hinaus, die um sich greifenden regressiven Tendenzen als demokratische Artikulation einer politisch unklaren, grundsätzlich aber nachvollziehbaren Unzufriedenheit an den gegenwärtigen Zuständen zu verklären. Diese Zustände wiederum werden phrasenhaft irgendwo zwischen Souveränitätsverlust, Postdemokratie, Neoliberalismus, Globalisierung und postmoderner Unübersichtlichkeit verortet, nicht aber als Symptome der Irrationalität des gesellschaftlichen Ganzen bestimmt. Gleichzeitig wird damit unterstellt, zwischen dem reaktionären Aufbegehren und den gesellschaftlichen Zuständen bestehe ein grundsätzlich durchsichtiger Zusammenhang, sodass ersteres als mehr oder weniger rationale Antwort auf letztere erscheinen kann. Somit wird versucht, ein gesellschaftspolitisches Phänomen, das grundsätzlich unbegriffen bleibt, dadurch unter Kontrolle zu bringen, dass es auf vermeintlich eingängige Handlungsmotive runtergebrochen wird. Es bleibt dann zwar rätselhaft, was Rechtspopulismus ist, aber zumindest scheint klar, warum dieser so erfolgreich ist. Dem liegt die Hoffnung zugrunde, die politische Regression ließe sich letztlich doch noch ohne Umschweife politisch einhegen.
Das politische Versprechen des Populismus
Die Ungenauigkeit des Rechtspopulismusbegriffs ist der Ausgangspunkt einer ganzen Reihe unterschiedlicher und vermeintlich widersprüchlicher Analysen zur politischen Regression. Auch wenn der Schwerpunkt dieses Artikels auf der politischen Rechten liegt, ist der Begriff der politischen Regression breiter zu fassen. Verwiesen sei hier auf die spektren- und milieuübergreifende Verbreitung regressiver Weltanschauungen wie Verschwörungsideologie, Antizionismus und Antisemitismus. Siehe etwa: Samuel Salzborn (Hrsg.), Antisemitismus nach 9/11, Baden-Baden 2019. Da gibt es einerseits diejenigen, die das Rätsel der Diffusität dadurch lösen wollen, dass nach dem rationalen Kern des Rechtspopulismus gesucht wird, der vor allem in seinem klassenpolitischen Charakter ausgemacht wird. Didier Eribon, ansonsten bekannt für seine durchaus kritischen Warnungen vor Populismus und Nationalismus, tritt hier als Stichwortgeber auf: »Oft machen Familien oder Einzelne, die ganz lange links gewählt haben, durch ihre Rechtswahl ihrem Unmut Luft. […] Das ist das neue Antlitz des Klassenkampfes.« Didier Eribon, Ein neuer Geist von ‘68, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18 April 2017. Siehe auch Didier Eribon, Rückkehr nach Reims, Frankfurt a.M. 2016, 117–131. Mit solchen Anspielungen auf die objektive Sozialstruktur wird den meisten Anhänger*innen reaktionärer Bewegungen unterstellt, sich weiterhin im Sinne eines an Zweck-Mittel-Rationalität orientierten Interessenbegriffs zu verhalten. Die Wahl oder Unterstützung solcher Bewegungen wird damit zum leicht verzerrten, aber grundsätzlich einsichtigen Protestakt stilisiert. Diese Rationalisierung ist auch das Bindeglied zwischen einem Gerede über die »Abgehängten« und den Beteuerungen, man müsse die irrationalen Sorgen der Menschen ernst nehmen. Andere, wie die Vertreter*innen der »neuen Klassenpolitik«, gehen in der Konsequenz vielleicht nicht so weit, scheinen aber dennoch die Annahme zu teilen, dass die Menschen lediglich an ihre materiellen Interessen erinnert und von ihren solidarischen Bedürfnissen überzeugt werden müssen, um die Gefahr des »Rechtsrucks« zu bannen. Die Aufgabe progressiver politischer Praxis wird dann größtenteils auf strategische Fragen zusammengekürzt. Siehe etwa: Sebastian Friedrich, Neue Klassenpolitik: Linke Strategien gegen Rechtsruck und Neoliberalismus, Berlin 2018. Was aber, wenn der Kern reaktionärer Propaganda gerade nicht in einem wie auch immer verzerrten Appell an ein vernunftgeleitetes Erkenntnisinteresse und Emanzipationsbedürfnis besteht, sondern in dessen radikaler Verdrängung?
Eine gegenwärtige Antwort darauf ist es, aus der Erklärungsnot eine Tugend zu machen und das vermeintlich Diffuse des Populismus zu seinem unergründlichen Wesen zu erklären. Zu den Stichwortgeber*innen dieser Richtung gehören Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, deren postmarxistische Theorie den Begriff des Populismus als wahren Ausdruck des Politischen zu rehabilitieren versucht. Diese populistische Wende ist das Ergebnis eines von Laclau und Mouffe in den 1980er Jahren ausgerufenen Feldzuges gegen das »letzte Bollwerk des Klassenreduktionismus« Ernesto Laclau/Chantal Mouffe, Hegemonie und radikale Demokratie: Zur Dekonstruktion des Marxismus, Wien 2000, 124., also der Vorstellung, alle Politik lasse sich aus dem zugrunde liegenden Klassenantagonismus heraus verstehen. Dabei haben Laclau und Mouffe jedoch das Kind mit dem Bade ausgeschüttet: Mit der berechtigten Kritik klassenreduktionistischer Denkmuster wird gleich jegliche Bedeutsamkeit eines im Spannungsverhältnis von gesellschaftlichen Zwängen und individuellen Bedürfnisses erzeugten materiellen Interesses über Bord geworfen. An dessen Stelle treten partikulare Identitäten und Narrative, die in erster Linie affektiv grundiert und diskursiv hergestellt sind. Laclau und Mouffe wollen diese Politikformen für eine Linke ins Spiel bringen und müssen dafür das Verhältnis zu einer darüber hinausgehenden objektiven Wirklichkeit verleugnen. Damit wird die Möglichkeit einer rationalen Bewertung des Handelns und Denkens der Einzelsubjekte aufgegeben und als einzige »Erklärungsgrundlage« greifen Laclau und Mouffe auf anthropologische Prämissen zurück, so etwa auf die Annahme eines starken menschlichen Bedürfnisses nach kollektiver Identität sowie nach kollektivem Ausschluss eines als Bedrohung wahrgenommenen Äußeren. Siehe etwa: Ernesto Laclau, On Populist Reason, London/New York 2005, 67–124; Chantal Mouffe, Über das Politische, Frankfurt a.M. 2005, 15–47. Von hier ist der Weg zur populistischen Weltanschauung nicht weit. Die Identifikation mit »Volk« und »Nation« sowie der Kampf gegen »Volksfeinde« wird nicht etwa als gewaltsame Begleiterscheinung der kapitalistischen Moderne kritisiert, sondern als Wesenszug menschlicher Existenz mystifiziert. Populismus sei daher »der politische Akt par excellence« Laclau, On Populist Reason, 154, eigene Übersetzung., das heißt die konsequente politische Ausdrucksform dieses anthropologischen Bedürfnisses. Damit lasse er sich auch nicht mehr auf seine rechte Traditionslinie festlegen, sondern stelle ein spektrenübergreifendes Grundprinzip des Politischen dar. »Deshalb gibt es«, schreibt Laclau, »ein nebulöses Niemandsland zwischen linkem und rechtem Populismus, das in viele Richtungen durchquert werden kann – und durchquert worden ist« Ebd., 85, eigene Übersetzung..
Trotz der in dieser Denkrichtung verbreiteten Tendenz, auf schwer durchdringliche Versatzstücke postmoderner Ontologie oder magische Wörter wie das von Gramsci in Umlauf gebrachte »National-Populare« zurückzugreifen, ist das zugrunde liegende politische Programm klar: die »Konstruktion eines ›Volkes‹, eines kollektiven Willens, der der Mobilisierung gemeinsamer Affekte zur Verteidigung der Gleichheit und sozialen Gerechtigkeit entspringt« Chantal Mouffe, Für einen linken Populismus, Berlin 2018, 17.. Es geht darum, der linken Aneignung von Volk und Nation intellektuell den Weg zu bereiten. Damit soll gleichzeitig die eigene Gesellschaftskritik gegenüber dem Vorwurf des Reaktionären verteidigt werden. Jacques Rancière, der Impulsgeber der radikalen Demokratietheorie, möchte beispielsweise verstanden wissen, dass der im populistischen Weltbild fest verankerten Behauptung, »unsere Politiker denken mehr über ihre eigenen Karrieren statt über die Zukunft ihrer Bürger, und unsere Regierungen leben in Symbiose mit den Repräsentanten großer finanzieller Interessen« Jacques Rancière, The Populism that is not to be found, in: Alain Badiou u.a. (Hrsg.), What is a people? New York 2016, 102, eigene Übersetzung. grundsätzlich nichts Demagogisches anhafte. Spätestens bei solchen Relativierungen wird eine theoretische Nähe offenbar, die politisch bis zur Querfront taugt. Zum Querfrontdenken bei Mouffe, siehe: Ingo Elbe, Die Postmoderne Querfront. Anmerkungen zu Chantal Mouffes Theorie des Politischen, in: sans phrase. Zeitschrift für Ideologiekritik 12 (2018), 107–127. Das liegt daran, dass hier auf dieselben ideologischen Mechanismen gesetzt wird, die nur deshalb nach links gedreht werden können, weil sie zu universellen Politikformen erklärt werden. Aus dieser Gleichsetzung heraus lässt sich natürlich nicht das Spezifische regressiver Gemeinschaftsideologien und daran orientierter politischer Propaganda erkennen, ebenso wenig wie mit dem Versuch, diese Irrationalität nur wieder rationalistisch zu bannen.
Eine Gesellschaftstheorie des Rechtspopulismus?
Die Konfusion im Reden über Rechtspopulismus besteht genau darin, dass der Begriff die gesellschaftlichen Grundlagen des Phänomens nicht erkennt. Das ist kein Zufall, entspringt er doch einem sozialwissenschaftlichen Betrieb, der dazu tendiert, im emphatischen Sinne gesellschaftskritische Ansätze, die weder integrier- noch anwendbar sind, entweder mit dem Verdikt des Unzeitgemäßen zu belegen oder bis zur Unkenntlichkeit zu »reformulieren«. Ein Zeichen dieser Abkehr von Gesellschaftskritik ist die Weigerung, überhaupt eine auf gesellschaftliche Objektivität abzielende Urteilskraft zu entwickeln, sodass die Frage nach unterschiedlichen subjektiven Verarbeitungsformen dieses objektiven Ausgeliefert-Seins ungeklärt bleiben muss.
Angesichts dieser Begriffskonfusion und Theorielosigkeit gibt es derzeit wenig sinnvolle Anhaltspunkte, um den besonderen Entstehungsbedingungen und Verlaufsformen derjenigen Phänomene, die unter dem Schlagwort Rechtspopulismus zusammengefasst werden, auf den Grund zu gehen. Vor diesem Hintergrund bleiben die Arbeiten des frühen Instituts für Sozialforschung, insbesondere Adornos und Löwenthals Faschismusanalysen der 1940er und 1950er Jahre, weiterhin unentbehrlich. Im Gegensatz zu den oben diskutierten klassenreduktionistischen und gemeinschaftsfetischistischen Versuchen, die Unterstützung regressiver politischer Kräfte irgendwie nachvollziehbar zu machen, geht es ihnen darum, die gesellschaftlichen Bedingungen eines solchen irrationalen Verhaltens aufzuklären. Ein simples Interessenmodell wird dabei ebenso verworfen wie die postmarxistische These, dass es so etwas wie objektiv begründete Interessen überhaupt nicht gibt. Stattdessen soll die Frage beantwortet werden, wieso es reaktionären politischen Kräften gelingt, ihrer Anhängerschaft ein Verhalten abzunötigen, das »mit ihren eigenen rationalen Interessen als Privatpersonen und mit denen der Masse oder Klasse, der sie wirklich angehören, unvereinbar wird« Theodor W. Adorno, Die Freudsche Theorie und die Struktur faschistischer Propaganda, in: Theodor W. Adorno, Kritik. Kleine Schriften zur Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1980, 45. Um diesen Sachverhalt aufzuklären wird der Versuch unternommen, auf Grundlage einer materialistischen Reformulierung der freudschen Massenpsychologie die gesellschaftspolitische Attraktivität reaktionärer bis faschistischer Bewegungen auf Prozesse der konformistischen Verinnerlichung sowie paranoiden Abspaltung moderner Herrschafts- und Zwangsverhältnisse zurückzuführen. Im Folgenden sollen vor allem zwei theoretische Blickwinkel in den Vordergrund gestellt werden, die sich unserer Ansicht nach eignen, die gesellschaftlichen Bedingungen sowie politisch-ideologischen Ausdrucksformen der gegenwärtigen Regression einzufangen.
Im Zentrum von Adornos und Löwenthals Überlegungen steht einerseits der freudsche Begriff des Unbehagens, der die Titel unzähliger akademischer Publikationen schmückt, in seiner spezifisch gesellschaftskritischen Bedeutung jedoch nur selten entfaltet wird. Unbehagen meint in erster Linie eine eigentümliche massenpsychologische Disposition, die sich am besten bestimmen lässt als »Gefühlsambivalenz« Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur, Frankfurt a.M. 2013, 95.. Und zwar gegenüber einer gesellschaftlichen Umwelt, die zur selben Zeit als Existenzgrundlage und Leidquelle, als Bedingung und Gefährdung der eigenen Bedürfnisbefriedigung erscheint. Während Freud bereits die Bedeutsamkeit des Unbehagens etwa für die Erklärung des religiösen »Massenwahns« Ebd., 48. erkannte, tendiert er dazu, es als eine epochenübergreifende Konstante menschlichen Daseins schlechthin zu diskutieren – als »Schicksalsfrage der Menschenart« Ebd., 108.. In den Schriften des frühen Instituts für Sozialforschung hingegen wird der spezifisch moderne Charakter des Unbehagens herausgearbeitet. In warenproduzierenden Gesellschaften, die sich über verdinglichte Ausbeutungs-, Tausch- und Rechtsverhältnisse reproduzieren, sind die Einzelnen nicht mehr in persönlichen Abhängigkeitsbeziehungen eingebunden, sondern werden in den verallgemeinerten Zwang zur Selbsterhaltung unter feindseligen Bedingungen entlassen. Um im gesellschaftlichen Verkehr bestehen zu können, sind sie daher dazu genötigt, die objektiven Gesellschaftszwecke als ihre eigenen zu verinnerlichen. Gleichzeitig werden sie permanent daran erinnert, dass Selbsterhaltung und Handlungsautonomie nur unter den Bedingungen erhöhter Arbeits- und Anpassungsbereitschaft zu haben ist. Hinzu kommt die Drohung, im verallgemeinerten Konkurrenzkampf zu versagen oder unterzugehen. Adorno spricht hier vom »charakteristischen modernen Konflikt zwischen einer sehr entwickelten, auf Selbsterhaltung eingestellten Ich-Instanz und dem ständigen Mißerfolg, den Ansprüchen des eigenen Ichs zu genügen« Adorno, Die Freudsche Theorie und die Struktur faschistischer Propaganda, 48..
Im Gegensatz zu dem heutzutage totgetretenen Allgemeinplatz, die Veränderungen der Moderne brächten grundlegende Unsicherheit für das Leben der Menschen und erzeugten deshalb Gefühle wie Angst, liefert der Begriff Unbehagen eine Analyse der spezifisch ambivalenten Bindung konformistischer Charaktertypen an das gesellschaftliche Ganze. Damit kann er zugleich erklären, warum dieser Konflikt im spontanen Alltagsbewusstsein tendenziell unbegriffen bleibt. Es ist der verdinglichte Charakter kapitalistischer Vergesellschaftung, der einen starken Zwang auf die vereinzelten Subjekte ausübt, sich im Denken und Handeln anzupassen. Das erzeugt die Tendenz, den mühsamen Weg der Kritik und Veränderung der schwer durchschaubaren und überwältigenden Verhältnisse zu meiden. Gelingt es nicht, aus diesem Teufelskreis der subjektiven Verinnerlichung des objektiven Unrechts auszubrechen, drückt sich dieser Konflikt in erster Linie affektiv aus. Genauer gesagt, als gemischtes Gefühl, das zwischen blindem Vertrauen in und diffusem Hass auf die bestehende Gesellschaftsordnung hin- und herschwankt. Um diesen Zusammenhang zu erkennen, braucht es einen gesellschaftstheoretischen Zugriff. Adorno wandte sich etwa vehement gegen das bis heute angeführte Missverständnis, bei den Analysen zum autoritären Charakter handele es sich nur um eine psychologische Theorie des Faschismus. Insbesondere kritisierte er die Vorstellung, dass sich Faschismus als die erfolgreiche Mobilisierung des archaischen Herdentriebs erklären lasse, quasi dort wo die Zivilisation in die Krise gerate. Wenn aber Faschismus derart über Massenbildung erklärt werde, so gerate das eigentlich zu Erklärende außer Acht, nämlich die Massenbildung selbst. Hierzu brauche es »eine über den Bereich der Psychologie weit hinausreichende entfaltete Theorie der Gesellschaft« Ebd., 337. Siehe auch: Theodor W. Adorno, Bemerkungen zu ›The Authoritarian Personality‹ von Adorno, Frenkel-Brunswik, Levinson, Sanford, in: Ders., Bemerkungen zu ›The Authoritarian Personality‹ und weitere Texte, Berlin 2019, 21–70..
Genau hierauf zielt der Begriff des Unbehagens ab. Löwenthal zufolge ist Unbehagen »ein Spiegel jener strukturellen Belastungen, denen der einzelne in einer Periode tiefgreifender Veränderungen in der Wirtschafts- und Sozialstruktur ausgesetzt ist« Leo Löwenthal, Falsche Propheten. Studien zum Autoritarismus. Schriften, Band 3, Frankfurt a.M. 1990, 30.. Gleichzeitig warnt er davor, das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft als intuitiv durchsichtiges misszuverstehen, und betont das Problem des unbewussten Abdrucks des gesellschaftlichen Ganzen im subjektiven Bewusstsein: »Obwohl das soziale Unbehagen in der Tat auf gesellschaftliche Wirklichkeit verweist, verschleiert und verzerrt es sie gleichzeitig. […] Es ist das psychologische Syndrom einer bedrückenden Situation.«Ebd. Damit vermeidet er auch die weitverbreitete Tendenz, in jeder empirischen Protestregung einen progressiven Kern ausmachen zu wollen. Treibende Kraft dahinter ist weniger das Bedürfnis nach Emanzipation, sondern der Drang, das aufgestaute Frustrations- und Aggressionspotential unmittelbar, abgekoppelt von den realen Entstehungsbedingungen, loszuwerden. Das Unbehagen ist bereits der »inadäquate Spiegel der Realität« Ebd., 40., in dessen Zerrbild reale Leiderfahrungen und irrationale Regungen eng miteinander verschmolzen sind. Die progressive Bewusstmachung ersterer ist daher nicht ohne die kompromisslose Kritik letzterer möglich.
Auf dieser Grundlage führen Adorno und Löwenthal den Begriff der Agitation ein, der nach den besonderen Formen reaktionärer Mobilisierung in liberal-demokratischen Gesellschaften fragt. Siehe insbesondere: Ebd.; Theodor W. Adorno, The Psychological Technique of Martin Luther Thomas’ Radio Addresses, in: Ders., Soziologische Schriften II.1. Frankfurt a.M. 2017, 7–141. Diese Diagnose hat zwei Ebenen: Auf massenpsychologischer Ebene wird Agitation als eine besondere ideologische Bearbeitungsform des sozialen Unbehagens begriffen. Die Spezifik der Bearbeitung liegt darin, die undurchsichtigen gesellschaftlichen Ursachen des Unbehagens nicht aufzulösen, sondern weiter zu verdrängen. Die dabei aufgestauten Aggressionen werden in einer Weise kanalisiert, dass sie nicht gegen die gesellschaftliche Ordnung per se, sondern lediglich gegen deren bürgerliche Freiheits- und Glücksversprechen gerichtet werden. Eine zentrale Rolle spielt hierbei die Halluzination einer völkischen oder nationalen Schicksalsgemeinschaft, die mit dem Versprechen aufwartet, Klassen- und Interessengegensätze zu überwinden, kollektive Ermächtigung zu gewährleisten und den Einzelnen dabei die Verantwortung zum eigenständigen Denken und Handeln abzunehmen. Als bloß halluzinatorisches Versprechen lässt es jedoch die objektiven Bedingungen des Unbehagens bestehen; die Forderung nach bedingungsloser Anpassung, Unterwerfung und Aufopferung fürs Kollektiv verschärft es sogar erheblich. Agitation ist demnach nur »Scheinprotest« Ebd., 30., die Suggestion einer Lösung des Konflikts. Sie bietet nicht die versprochene Autonomie, die die bürgerlich- kapitalistische Gesellschaft den Individuen gleichzeitig anbietet und verwehrt, sondern Autorität und Gewalt als Ersatzbefriedigung. Zum Standardrepertoire jeder Agitation gehört daher die Erfindung identifizier- und angreifbarer Feindgruppen, an denen der weiterhin aufgestaute und sogar gesteigerte Hass auf das unverstandene Elend ohne Skrupel ausgelassen werden kann. »Der Agitator«, so Löwenthal, »lastet die Verantwortung dafür einer sich nicht verändernden Feindclique an, deren übler Charakter oder schiere Boshaftigkeit die Ursache aller sozialen Mißstände ist« Ebd., 20.. Diese Kombination aus autoritärer Gemeinschafts- und paranoider Feindbildkonstruktion ist politisch umso erfolgreicher, je ausgeprägter das Unbehagen als latentes Massenphänomen ist. Das heißt auch, dass Agitation nicht einfach nur hinterlistige Manipulation ist. Die Demagog*innen und Agitator*innen sind keine teuflischen Genies, die mit gezielten psychologischen Tricks die Menschen hinters Licht führen würden, um sie so ihren Interessen zu beugen. Vielmehr liegt ihr Erfolg darin, dass sie den Massen gleichen und zwar genau darin, dass sie die Ursachen des Konflikts, der gegen die bestehende Ordnung mobilisiert wird, verdrängen. Agitator* innen müssen weder verheimlichen noch manipulieren, sie müssen lediglich ein Gespür für die regressiven Bedürfnisse derjenigen entwickeln, die ihrer Ideologieproduktion zuneigen: »Der Agitator geht seine Zuhörer nicht von außen her an; vielmehr gibt er sich wie jemand aus ihrer Mitte, der ihre innigsten Gedanken formuliert. Er rührt das auf und drückt das in Worten aus, was in ihnen schlummert.« Ebd., 18. Adorno und Löwenthal warnen weiterhin davor, den Agitator*innen ein bloß instrumentelles Verhältnis zu ihrer eigenen Weltanschauung zu unterstellen. Agitator*innen, so Adorno, nutzen das gesellschaftliche Unbehagen ihrer Anhänger*innen nicht einfach für ihre eigene Zwecke aus, sondern sind ebenso von der Gewalt dieses Unbehagens durchdrungen. »Um die unbewußten Dispositionen seines Publikums richtig zu treffen, kehrt der Agitator gewissermaßen einfach sein eigenes Unbewußtes nach außen. Sein besonderes Charaktersyndrom ermöglicht ihm dies, und durch Erfahrung hat er gelernt, diese Fähigkeit bewußt auszunutzen und […] seine Irrationalität rational zu gebrauchen.« Adorno, Die Freudsche Theorie und die Struktur faschistischer Propaganda, 59.
Zur massenpsychologischen Dimension des Agitationsphänomens kommt eine politisch-strategische hinzu. Für Adorno und Löwenthal, die faschistische Agitation in den Vereinigten Staaten der 1940er Jahre untersuchten, war klar, dass liberal-demokratische Öffentlichkeiten durchaus eine tabuisierende Kraft auf derartige Strömungen ausüben. Vor diesem Hintergrund beobachten sie eine ganze Reihe an rhetorischen Strategien, mit denen faschistische Agitator*innen versuchen, diese Tabus zu untergraben, aufzuweichen und schlussendlich an deren Auflösung zu arbeiten: »Wenn immer es ihm möglich ist, benutzt der Agitator die zum jeweiligen Zeitpunkt gängigen und von der öffentlichen Meinung sanktionierten Ideen und Ausdrucksweisen. Auf diese Weise will er sich als treuer und vertrauenswürdiger Staatsbürger legitimieren.« Ebd., 54. Auch gegenwärtig zeigt sich immer wieder, dass rechte Agitator*innen es verstehen, gegen sie gerichtete Tabus durch Techniken der rhetorischen »Camouflage« Adorno, The Psychological Technique of Martin Luther Thomas’ Radio Addresses, 12. sowie der gezielten Selbststilisierung und Selbstverharmlosung aber auch Skandalisierung und Grenzüberschreitung zu unterwandern. Darüber hinaus bietet der inszenierte Tabubruch den Anhänger*innen die Genugtuung, sich als Teil einer unterdrückten »Volksbewegung« zu fühlen, die gleichzeitig zur Machtprobe fähig ist.
Die Begriffe von Agitation und Unbehagen in den Analysen von Adorno und Löwenthal haben eine gesellschaftskritische Qualität, an die gegenwärtige Analysen zum Rechtspopulismus nicht heranreichen. Selbst da wo wohlwollend auf Adornos Studien zum Autoritären Charakter Bezug genommen oder lobend hervorgehoben wird, er hätte visionär über den »neuen Rechtradikalismus« geurteilt, geschieht dies unter Ausschluss seiner gesellschaftstheoretischen Grundannahmen. Damit bleiben die gängigen Erklärungen der Regression aber tendenziell dem verhaftet, was sie zu erklären versuchen: Indem die Aufklärung über die gesellschaftlichen Bedingungen entweder kurzgeschlossen oder ganz für unmöglich erklärt wird, liefern diese Deutungen einer Beliebigkeit Vorschub, die bereits ein Symptom des zur Regression drängenden Unbehagens ist.
Der ideologische Kern des Rechtspopulismus
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob der Begriff des (Rechts-)Populismus für die Analyse der gegenwärtigen reaktionären Tendenzen sinnvollerweise noch genutzt werden kann. Mit Adorno und Löwenthal ist hier Vorsicht geboten: Allein schon ein kurzer Blick auf dessen Verwendungs- und Rezeptionsgeschichte zeigt, dass der Begriff besonders gerne von denjenigen, die das Stigma des Rechtsextremismus loswerden wollen, als Eintrittsticket für einen respektablen Platz in der demokratischen Öffentlichkeit genutzt wird. Damit steht der Begriff in einer Tradition der rhetorischen Verharmlosung, die, wie wir gesehen haben, einen zentralen Mechanismus rechter Agitation darstellt. Die gegenwärtige Tendenz, alles, was irgendwie rechts vom Liberalkonservatismus verortet ist, unterschiedslos als Rechtspopulismus zu bezeichnen, läuft folglich darauf hinaus, die konkrete Bedrohung völkischer, neofaschistischer und neonazistischer Netzwerke kleinzureden und ihnen im Kampf um Salonfähigkeit auch noch behilflich zu sein. In antifaschistischen Kreisen wird auf diese verharmlosende Tendenz bereits seit längerem hingewiesen. Siehe etwa: Antifaschistisches Infoblatt, Populismus: Eine begrif"iche Verharmlosung, in: AIB 118 (2018). Ebenso problematisch ist aber auch der ubiquitäre Nazi-Vergleich, der gerade in linken Kreisen auf eine unsägliche Tradition zurückblickt und gegenwärtig eine leichte Renaissance zu erfahren scheint. Zur Auseinandersetzung der deutschen Linken der 1960er und 1970er Jahre mit dem Nationalsozialismus siehe: Jens Benicke, Von Adorno zu Mao: Über die schlechte Aufhebung der antiautoritären Bewegung, Freiburg 2010. Statt solcher grobschlächtiger Verallgemeinerungen bedarf es einer präzisen Bestimmung der jeweiligen ideologischen Grundlage, politischen Zielsetzung, massenpsychologischen Verankerung sowie des konkreten Gewaltpotentials derjenigen Strömungen, die an der autoritären Rebellion gegen die bürgerliche Gesellschaftsordnung beteiligt sind. Das Phänomen des Populismus ist jedoch nur ein Moment in dieser Mobilisierung und taugt nicht dazu, diese umfassend zu erklären. Aus ideologiekritischer Perspektive ließe sich Populismus am ehesten als jener volks- und verschwörungsideologische Elitenhass bestimmen, der sich massenpsychologisch aus dem Unbehagen an dem unpersönlichen Charakter moderner Herrschafts- und Zwangsverhältnisse sowie aus dem hieran anknüpfenden Wunsch nach kollektiver Ermächtigung jenseits bürgerlich-demokratischer Verkehrsformen und Willensbildungsprozesse speist. Sinnvoll an dieser Bestimmung ist, dass sie auf den regressiven Charakter jeglicher Form populistischer Ideologie hinweist und das Problem gesellschaftlicher Totalität ins Zentrum stellt.
Als Alleinstellungsmerkmal der gegenwärtigen politischen Regression reicht diese Bestimmung jedoch nicht aus. Um nicht einer falschen Vorstellung von Gesellschaft als starrem Block zu verfallen, aus dem sich jedes Moment eindeutig bestimmen lasse, spricht Adorno etwa davon, in Konstellationen zu denken. Gemeint ist ein beweglicher Zusammenhang zwischen verschiedenen Elementen, die darin jedoch auf eine bestimmte Weise angeordnet sind. In diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn Adorno und Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung von »Elementen« des Antisemitismus sprechen. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a.M. 2010, 177–217. Adorno warnte gleichzeitig vor einem falschen Verständnis einer solchen »Elementaranalyse«. Scharfe Kritik äußerte er etwa gegenüber Versuchen, das gesellschaftliche Ganze in vollkommen abgekoppelte »Elemente« oder »Faktoren« aufzuspalten. Siehe hierzu: Theodor W. Adorno, Einführung in die Dialektik, Frankfurt a.M. 2015, 200–210. Vor diesem Hintergrund wäre es sinnvoll, Populismus als ein ideologisches Element zu begreifen, dessen agitatorische Stoßrichtung erst dann gänzlich deutlich wird, wenn es in seiner genauen Verknüpfung mit weiteren Elementen betrachtet wird, wie etwa der Anrufung rassistischer, antisemitischer oder antiziganistischer Feindbilder, der Bezugnahme auf historischen Faschismus und Nationalsozialismus, oder der erlösungsideologischen Bereitschaft zu Gewalt und Selbstopfer. Die hieran anschließende Frage der konkreten Anwendbarkeit der von Adorno und Löwenthal entwickelten theoretischen Perspektiven bedarf einer detaillierten Diskussion, die an dieser Stelle nicht geleistet werden kann. Sinnvoll wären beispielsweise genauere Untersuchungen zur besonderen Rolle populistischer Volk-Feind-Projektionen sowohl im völkischen, neonazistischen Milieu als auch am rechten Rand des konservativen Milieus, dem es weniger um die gänzliche Aufhebung der bürgerlich-demokratischen Ordnung geht, sondern eher um deren traditionalistische, autoritär-etatistische und mehrheits- tyrannische Einschränkung. So ließe sich in den Blick nehmen, dass das Element des Populismus zum Standardrepertoire jeglicher Agitation gehört und damit eine wichtige Rolle als ideologisches Bindeglied zwischen diesen Milieus spielt. Die Stärke von Adornos und Löwenthals Faschismus- und Agitationsstudien liegt jedoch darin, empirische Untersuchungen mit einer aufs gesellschaftliche Ganze abzielenden theoretischen Reflexion zu vermitteln. Es ist nicht zuletzt die Tendenz zur Ausblendung eines solchen Zusammenhangs von politischer Regression und gesamtgesellschaftlicher Irrationalität, die der gegenwärtigen Konfusion in der Rechtspopulismusdebatte zugrunde liegt. Die Kritik des Rechtspopulismusbegriffs führt dann nicht einfach zu einem besseren Begriff, der sich im Wettbewerb der Deutungsangebote behaupten müsse. Sie kann nur darauf hinweisen, was in den Begriffsbildungen und Analysen fehlt: Eine Perspektive auf die Überwindung der Verhältnisse, aus denen sowohl die Regression wie auch ihre unzulänglichen Analysen entspringen. Dies führt schließlich zurück zum Problem der gegenwärtigen Populismusdiskussion: Die oben beschriebene Tendenz zur begrifflichen Verharmlosung hat nämlich nicht nur mit Begriffsstutzigkeit zu tun, sondern rührt auch daher, dass die regressive Verarbeitung des gesellschaftlichen Unbehagens in Form von verschwörungstheoretischem Elitenhass auch in linken und liberalen Kreisen als ideologisches Element verankert ist.
Helge Petersen/Alex Struwe
Die Autoren sind politische Theoretiker und teilen das Interesse an materialistischer Ideologiekritik.