Ästhetik, Urteil und Politik

Kunstbetrachtung ist meist kopflos: der Gang ins Museum ein Statussymbol, die Kunstdrucke an den Wänden der WG-Küchen überall die gleichen, der Kunstmarkt ein reines Anlagegeschäft. Und trotz der allgemeinen Unerträglichkeit des künstlerischen Habitus zieht die Kunst die Linke magisch an. Aber warum? Dieser Frage geht Jens Kastner in seinem Überblicksband Die Linke und die Kunst nach. 

In zehn Kapiteln werden die einflussreichsten Strömungen der Linken durchdekliniert, angefangen bei Marx und Engels, endend im Postkolonialismus. Und jedes Mal fragt Kastner aufs Neue: Was ist Kunst? Wie wichtig ist sie für die Gesellschaft? Und welche emanzipatorischen Potentiale wohnen ihr inne? Diese Befragung fördert einiges zu Tage: historische Linien, Ereignisse und Anekdoten; wie über den Beschluss des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion von 23. April 1932, in welchem der Realismus zur künstlerischen Staatsdoktrin erhoben wurde und die Verfolgung, Verbannung und Ermordung dissidenter KünstlerInnen zur Folge hatte. Oder aber der Ausspruch Frantz Fanons auf dem ersten Kongress schwarzer SchriftstellerInnen und KünstlerInnen: »Ohne Unterdrückung und ohne Rassismus kein Blues.« Ein Satz, der nicht so schnell aus dem Kopf verschwindet. Die Geschichte linker Kunstverständnisse ist kein Frühlingsspaziergang, sondern zu Weilen harter Tobak. 

Indirekt bietet der Band nicht nur einen Überblick über die Kunstauffassungen, sondern auch über die Strömungen selbst, müssen doch erst einige Grundbegriffe geklärt werden, um den jeweiligen Zugang zur Ästhetik verständlich zu machen. Immer wieder scheint es, als würden die Protagonist*innen selbst miteinander streiten, wenn Kastner durch die Entwicklung der Linken pflügt. Doch ergibt sich hier ein erstes Problem des Projekts. Wo es notwendig ist, historische Linien auszumachen und eine Entwicklung als Antwort auf philosophische Fehlschläge und geschichtlich erwiesene Unhaltbarkeiten darzustellen, wiederholt sich in dieser Darstellung die Linearität der Geschichtsschreibung, dessen Durchbrechen das Ziel so manchen vorgestellten Autors war. Ein Bild einer fortschreitenden Linken ergibt sich, die ihre theoretischen Defizite konstruktiv analysiert und produktive Antworten und Weiterentwicklungen findet. Doch ist das wirklich die Geschichte der Linken? In der Akademie wie in der Bewegung toben die Kämpfe um die richtige Theorie – um den Zugang zur Welt, der ihr gerecht wird und im besten Fall ihre revolutionäre Veränderung vorbereitet. Ein Ende war und ist nie in Sicht. Immer wieder versucht Jens Kastner diesen Schein des linearen Fortschritts zu durchbrechen, Bruchlinien aufzuzeigen und die verbitterten Kämpfe um Wahrheit oder Deutungshoheit aufzunehmen. Er weiß um das Problem und benennt es. Die Form sträubt sich jedoch und schlägt der guten Intention ein Schnippchen, nicht nur in puncto Geschichtsschreibung. Denn so gut ein Überblick die Leserin befähigt ein Feld zu überblicken; Kastner verhandelt Positionen, ohne selbst einen eindeutigen Standpunkt zu beziehen. Der Überblick erklärt, aber brennt nicht für eine Sache, von deren Wahrheit er überzeugt ist. Seine Position befindet sich zwischen den Stühlen. Einem Mediationstrainer gleich befragt der Autor seine im Gesprächskreis versammelten Theoretiker*innen, lässt sie ihre Kritikpunkte austauschen und ordnet diese unter Zücken seines bunten Methodenkoffers ein. Ein Urteil bleibt auf der Strecke, ist sogar unerwünscht. Damit werden alle Strömungen bearbeitbar, so kann widersprüchliches kapitelweise behandelt und zum Schluss gezeigt werden, wie sich ein Spalt zwischen marxistischer Ästhetik und materialistischer Kunstsoziologie auftut. Eine durchaus spannende Analyse. Muss sich aber nicht jedes Buch der Frage stellen: ist das, was ich schreibe, richtig und wahr? 

Kenntnisreich, wie schon der Buchrücken den Text bewirbt, sind Massen an Material versammelt: Traktate, Manifeste, Analysen und Interventionen. Sie alle gleichen sich in ihrem zutiefst politischen Anspruch, in das praktische Bewusstsein der Menschen im Sinne der Befreiung einzugreifen – mal mehr, mal weniger erfolgreich. Indem sie aber gegenübergestellt werden, analytisch auf ihre erklärenden Fähigkeiten und Perspektiven befragt werden, geht dieser Anspruch verloren. Im Überblick wird aus Politik Anschauungsmaterial. Lektüre wird politisch, sobald sie die Leserin zwingt Stellung zu beziehen, sich zu verhalten, ein Urteil zu fällen. In der Konfrontation findet Erkenntnis statt. Ohrfeigende Urteile sind daher nicht allein eine Stilfrage, sondern eine Frage der Ernsthaftigkeit. In der Form des Überblicks dagegen gipfelt die Verwissenschaftlichung der Politik. Politische Theorie ist heute auf ihre Fruchtbarkeit zu prüfen statt auf ihre Wahrheit. Daran hat die akademische Linke lange gearbeitet. Wo eine Schule nicht mehr weiter weiß, greift man auf die widersprechende zurück. Denn wollen sie nicht alle irgendwie sowas wie Befreiung? So wichtig es ist, sich gedanklich nicht zu versteifen und sich durch falsche Orthodoxie blind zu machen, im Credo des undogmatischen Denkens liegt die Abschaffung der Politik. Der Überblick ist seine Form. Das abstrakte Moment des Vergleichs hebt alle seine zu behandelnden Objekte auf eine Stufe. Alles ist mit allem vergleichbar; der Inhalt jedoch tritt zurück. Der Überblick ist nicht politisch, er behandelt Politik. Vor dem Bücherregal stehend und die Sammlung an kaffeebeflecken und zerlesenen theorie.org-Bänden betrachtend, stellt sich nun zwangsläufig die Frage, ob das von jeder kunstinteressierten linken Leserin zu erwarten ist. Muss sie sich jeder Strömung annehmen, die großen Werke verschlingen, um ihrem politischen Anspruch gerecht zu werden? Muss sie sich durch die Gesellschaft des Spektakels quälen, um dann festzustellen, dass es kaum um Kunst geht? Muss sie jahrelang ihre Marx-Kenntnisse stählen, bis sie einen Einblick in Lukacs’ theoretische Verteidigung wie praktische Durchsetzung sowjetischer Kulturpolitik bekommt? Eine Grundfrage der Politik kommt auf: auf welcher Grundlage fußt ein fundiertes Urteil? Hier ließe sich der Einführungsband ins Feld führen, der Überblick verteidigen. Und sicher; ohne die linken Pädagogen, ohne ihre niedrigschwelligen Texte, Seminare und Polit-Gruppen würde sich die Frage nach der Gestalt der Politik noch weniger Leuten stellen. Doch lehren diese gutgemeinten Angebote zu denken? Das politische Denken hangelt sich nicht an Leitfragen entlang, sträubt sich gegen eine Zusammenfassung auf jeweils 20 Seiten. Die Kritik der Zustände ist kein freundliches Angebot. Macht man sie künstlich zugänglich, wendet sie sich ins Falsche und schließlich gegen die Sache selbst. Jens Kastner schreibt daher einen Überblick, der als solcher gelesen werden muss. Detailliert und doch nicht überfrachtet. Eine Materialschlacht, die dennoch Luft zum Atmen lässt. Insgesamt ein guter Einstieg. Und doch muss er mit einer Conclusio statt eines Urteils enden. 

Beinahe zeitgleich zu Die Linke und die Kunst erschien eine weitere Textsammlung, die der Frage des Verhältnisses von Kunst und Befreiung nachgeht. In Kommunistische Kunst und andere Beiträge zur Ästhetik versucht Stefan Ripplinger in drei Essays das Wesen einer kommunistischen Kunst, die Frage von Ideologie und Verdopplung in der Kunst und den Effekt ebenjener auf den Autor selbst zu fassen. Man könnte also meinen, es sei grundsätzlich die gleiche Frage, der sich Kastner und Ripplinger widmen: Warum Kunst, wenn ich doch Kommunist bin? Auch Ripplinger zieht massenweise Material heran, zitiert hier etwas und dort ein Stück. Abseits dieser geteilten Grundfrage könnte die jeweilige Herangehensweise der beiden Bücher verschiedener kaum sein. 

Ripplingers Abhandlung grenzt sich, implizit wie deutlich, von der wissenschaftlichen Methode des Theorievergleichs ab. Im titelgebenden Essay zum Beispiel stößt man schnell auf diskutable Setzungen: »Wenn Jugendliche in der Bronx eine Hauswand besprühen oder finnische Holzarbeiter auf der Betriebsfeier ihre Lieblingsschlager parodieren, kann daraus eher kommunistische Kunst werden, als wenn Christoph Schlingensief Geld aus dem Fenster wirft.« Denn: »Die kommunistische Kunst kommt erst in der Praxis auf ihren Begriff.« Eine klare Ansage. Man muss dem nicht zustimmen. Wenn kommunistische Kunst primär eine kollektive Praxis der Befreiung ist, wenn Fragen von Form und Stil keine entscheidende Rolle spielen, lässt sie sich kaum von jeder weiteren revolutionären Tat trennen. Im Versuch sie vorrangig funktional zu verstehen – als Gebrauchsmittel, das den künstlerischen Selbstzweck als bürgerlich entlarvt – nimmt man ihr jede Schlagkraft. Sie verliert sich im weiten Begriff des Sozialen. Der Versuch, dem Bürgertum die Kunst abzutrotzen, geht nicht vollends auf. Zu diesem Schluss kommt Ripplinger jedoch mit guten Gründen, angefangen im: Anfang. Der Ursprung der Menschheitsgeschichte ist die Kunst. Sie produziert Gesellschaft. Mit dem Totenkult kommt der Mensch zu sich, ist nicht mehr allein bedürftiger Körper, sondern findet die Transzendenz und die Gemeinschaft. Die Kollektivität der Kultmitglieder wie auch die Trennung der Lebenden von den Toten sind von der Kunst nicht zu trennen. Ein gutes Argument. Hier, wie an weiteren Stellen, ist die Leserin förmlich gezwungen sich dazu zu verhalten, sich die Haare zu raufen, zu lachen, aufzustöhnen oder verwirrt den letzten Absatz erneut zu lesen, um dann festzustellen, dass sie es noch immer nicht versteht. Und das vielleicht zu Recht? Der Text ist voraussetzungsvoll, aber er lässt nicht kalt. Darin liegt seine Stärke. Ripplinger urteilt. Zuweilen apodiktisch, doch nachvollziehbar. Er verhält sich nicht orthodox zu einer spezifischen Strömung, aber orthodox zum Gedanken. Er will setzen. In dieser Bestimmtheit treffen sich Form und Inhalt. So formuliert er in der Einleitung: »In der Kunst, von der auf den folgenden Seiten die Rede sein soll, tritt aber nicht, wie es Kant vorschwebt, ein Subjekt an einen Kunstgegenstand heran und bildet sich an ihm sein Urteil, vielmehr wird erst am Gegenstand Subjekt, was vorher keine Beziehung auf sich selbst gehabt hat.« Und wie dieser Satz für das Kunstwerk gilt, an dem der Mensch sich selbst erkennt, gilt er ebenso für das politische Urteil. Es bildet sich an der ernsthaften Auseinandersetzung.

 

Sarah Setz

 

Jens Kastner: Die Linke und die Kunst. Ein Überblick, Unrast-Verlag, Münster 2019, 298 S., € 18,00. 

 

Stefan Ripplinger: Kommunistische Kunst und andere Beiträge zur Ästhetik, KVV konkret, Hamburg 2019, 126 S., € 17,50.