Samuel Salzborn erklärt in seinem Essay Kollektive Unschuld die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit für gescheitert und ihre Erfolgsgeschichte zur erinnerungspolitischen Illusion weniger Intellektueller. Der ritualisierte Glaube an den Erfolg der Aufarbeitung, so eine Kernthese, lässt sich gesellschaftlich nicht rechtfertigen, vielmehr sei das Gegenteil der Fall – je detaillierter und kritischer die wissenschaftliche Reflexion auf die Verbrechen der Nazis, desto frenetischer wird die lästige Vergangenheit als Stachel im Fleisch einer bruchlosen, deutschen Identität verstanden (87ff.). Ein ebenso instruktives wie erschreckendes Dilemma, das alle Aufarbeitungsversuche als mikrokosmischen, aussichtslosen Kampf gegen die Windmühlen der »Rechtsradikalisierung von Politik und Gesellschaft« (103) erscheinen lässt. Mit der Präsenz der AfD in allen deutschen Parlamenten und dem gesellschaftlichen Wunsch, den sie repräsentiert, hat die »schuldabwehrende Erinnerungsgemeinschaft« (31) der Bundesrepublik begonnen, ihr erinnerungspolitisches Grab zu schaufeln. Denn die Schuldabwehr in westdeutscher Politik und Gesellschaft seit 1945, mal latenter, mal manifester erkennbar, besitzt gegenwärtig bisher undenkbare parlamentarische Schlagkraft, auch wenn die rechte Selbstinszenierung als »eigentliches Opfer« der Geschichte nur ein Teil eines komplexen Problems darstellt. Es geht eben nicht um den Mythos einer kollektiven Unschuld als Indikator der gelungenen Aufarbeitung (116), um eine höchst individuelle Verantwortung Einzelner (44), die aus Gründen einer metaphysischen Zugehörigkeit zur deutschen Nation wie ein gesichts- und geschichtsloses Mantra als Erbschuld beschworen wird. Vielmehr steht die Anerkennung »historischer Schuld« (58) im Fokus, die im Kollektivsubjekt Volksgemeinschaft selbst begründet ist und deren historische, politische und psychologische Nachwirkungen in ihrer globalen Konsequenz zu reflektieren sind.
Salzborn macht klar, dass sein Essay keine neuen Ergebnisse liefert, sondern als politische Intervention zu verstehen ist, da das Gros seiner Argumente schon umfangreicherer sowie theoretisch und begrifflich stichhaltigerer verhandelt wurde. Erhellend ist das Buch durch die akribische, interdisziplinäre und literaturreiche Skizzierung des Schuldabwehrdiskurses nach 1945. Salzborns vernichtende – zwar wissenschaftliche, aber gelegentlich höhnisch und polemisch akzentuierte, ganz Adornos Diktum folgend, dass »heute überhaupt nur Übertreibung das Medium von Wahrheit sei« – Ausführungen schmerzen wie der Dorn im Auge. Er führt der deutschen Gesellschaft ihre eigene, erinnerungspolitische Unzulänglichkeit deutlich vor Augen, denn deutsche Identität kann »nicht ohne die Massenvernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden gedacht werden« (22), andernfalls wäre eine solche Identität nach 1945 als bewusst reaktionär und revisionistisch zu entlarven. Dieser Revisionismus ist zentraler Teil vor allem west-deutscher Politik nach 1945, der über »selektive Amputation der Erinnerung« (29) operiert, und die demokratischen Entscheidungsgremien zur Exkulpationsmaschine gemacht hat, die auf Integration der Täter*innen, statt auf Reflexion der Geschichte setzt. Wie frühe Heimatfilme und aktuellere Kinoproduktionen wie Der Untergang zeigen, macht auch deutsche Kulturindustrie vor der »Reaktivierung des deutschen Opfermythos« (55) nicht halt. Fakten- und zahlenreich und mit Verweis auf unzählige empirische und theoretische Studien wird herausgearbeitet, dass die zunehmend offene Artikulation von Shoah-Relativierungen, antisemitischen Ressentiments und systematischer Schuldabwehr in der ehemaligen Täter*innengesellschaft zum Fahrwasser des globalen Antisemitismus rechter, linker und islamischer Provenienz wird und einmal mehr deutlich zeigt, dass die Reflexion auf Auschwitz als ideologisches Amalgam des modernen Antisemitismus nicht ausbleiben darf (75ff.).
Gesellschaftstheoretisch anspruchsvoll und psychoanalytisch voraussetzungsreich ist das Buch dort, wo der völkischen Großstadtfeindschaft eine antisemitische Komponente attestiert wird (64), »Israel zur Projektionsfläche für den Hass und die Angst vor der modernen Ambivalenz und ihrer Konkretisierung im abstrakten Denken und konkreten Fühlen« (81) gerinnt und die postmoderne Theoriebildung die globale Relevanz der Shoah verkennt, um in einer falschen Universalisierung die »Entsorgung der deutschen Vergangenheit« (109) zu betreiben. Aller Richtigkeit zum Trotz, wirken die theoriepolitischen Seitenhiebe für eine breite Zielgruppe teils so überkomplex, dass sie für Einsteiger*innen schwer nachvollziehbar sein werden. Eine ähnliche Schwierigkeit ließ sich bereits in Salzborns Globaler Antisemitismus (2018) feststellen.
Insgesamt bietet das Buch einen hervorragend zu lesenden und dennoch anspruchsvollen Überblick. Die umfangreichen Literaturhinweise machen es zu einem geeigneten Nachschlagewerk, dessen schonungsloser Schreibstil zum Überdenken des Phänomens vermeintlicher Schuldanerkennung anregt. Es bleibt zu hoffen, dass der Text die politische Öffentlichkeit tangiert, die die Erinnerungen an die Shoah, bewusst oder unbewusst, mit Pauken und Trompeten zur Schlachtbank der Geschichte führen will.
Stefan Vennmann
Samuel Salzborn: Kollektive Unschuld. Die Abwehr der Shoah im deutschen Erinnern, Hentrich & Hentrich, Berlin 2020, 136 S., € 15,00.