»Es findet eine dramatische politische Verschiebung statt: Rassismus und Menschenverachtung werden gesellschaftsfähig. Was gestern noch undenkbar war und als unsagbar galt, ist kurz darauf Realität.« Zit. n. https://bit.ly/3ApjB2v. Das Bündnis #unteilbar hat Recht: Eine dramatische politische Verschiebung findet statt. Ob die im #unteilbar-Aufruf aber gut benannt ist, wäre noch die Frage. Rassismus war in der BRD immer schon gesellschaftsfähig. Er war nie undenkbar oder unsagbar. Eher kann man davon sprechen, dass seit einigen Jahren ein expliziter Rassismus für einen großen Teil der Politik nicht wünschenswert erschien, etwa weil dieser als Integrationshindernis ausgemacht wurde. In der Bevölkerung oder in der Bild-Zeitung hatte der Rassismus – sei er nun auf Abstammung oder Kultur bezogen begründet – dagegen immer seinen Platz, nur eben nicht als zentrales Dauerthema. Was aber zurzeit stattfindet, ist eine erneute oder besser gesagt eine erweiterte Politisierung des Rassismus, der Homophobie und des Antifeminismus. Jetzt tritt mit der Alternative für Deutschland (AfD) erstens eine Partei an, die mit diesen Standpunkten explizit Erfolg hat, und zweitens halten es viele in der Gesellschaft mittlerweile für angebracht oder sogar notwendig, solche Standpunkte im Alltag, am Arbeitsplatz und so weiter offen und lautstark zu vertreten. Wenn das vorher nicht explizit und massenhaft gemacht wurde, dann weniger, weil die Leute sich nicht getraut hätten, sondern weil sie das politisch nicht wichtig fanden. Das ist jetzt anders. Der politische Stellenwert (nicht nur) des Rassismus hat sich mit der AfD verändert. Wie diese Veränderung zu charakterisieren ist, darum soll es in diesem Text gehen.
Die Positionen der AfD und ihrer Geistesgeschwister sind mittlerweile eigentlich allen klar: Geflüchtete nicht reinlassen oder rücksichtslos abschieben, Feindschaft gegen den Islam und Muslime, Feindschaft gegen den Feminismus, mehr Law & Order, Euro abschaffen und so weiter. Was diese Programmpunkte allerdings im Kern verbindet, das ist vielen Leuten überhaupt nicht klar. Das wäre aber die Voraussetzung dafür, die AfD richtig einzuschätzen um dann der Frage nachzugehen, wie man dieser begegnen sollte.
So ließe sich auch begreifen, warum die etablierten Parteien und ihre Wähler*innen dann doch auch Verständnis für manche Positionen der AfD haben (meist vorgetragen im Sinne von »die Sorgen der Bevölkerung ernst nehmen«) und wie sich der politische Kern der AfD auf Grundlage des bisherigen Politikbetriebes entwickelt (hat). Die Mitglieder oder Wähler*innen der etablierten Parteien sind für die Positionen der AfD offen, das zeigt alleine die Tatsache, dass viele der neuen Unterstützer*innen von diesen Parteien herkommen. Man hat es dabei nicht mit Menschen zu tun, die noch im Faschismus aufgewachsen sind und seitdem in ständiger Opposition zur BRD gelebt hätten. Die Anhänger*innen des rechten Standpunktes der AfD müssen ihre politischen Schlüsse aus der gelebten Demokratie der BRD gezogen haben. Der Schritt von der herkömmlichen bürgerlichen Demokrat*in hin zur AfD-Anhänger *in ist nicht allzu weit. Zumindest musste die AfD nicht jahrelange Bildungsarbeit machen, sondern konnte mit Wiederholungen von altbekannten Behauptungen, angereichert mit sogenannten Tabubrüchen, die immer dem gleichen Muster folgen, ordentlich Leute hinter sich versammeln.
In diesem Text werden daher zwei Hauptthesen vertreten und ausgeführt. Erstens: Der rechte Standpunkt, der von der AfD und ihren Anhänger*innen vertreten wird, entwickelt sich auf Grundlage des alltäglichen Nationalismus in der Gesellschaft. Die Rechten sind Kinder der Demokratie – einer Herrschaftsform, die sich in den Dienst des Volkes stellt, indem darüber geherrscht wird. Zweitens: Der rechte Standpunkt unterscheidet sich von den anderen parlamentarischen Positionen darin, dass er das funktionale Verhältnis von Herrschaft und Volk in der Krise sieht. Das ist der Kern des rechtsradikalen Denkens. Aus eben dieser Krisendiagnose ergibt sich der veränderte Stellenwert von Ideologien, die auch vor der AfD in der Gesellschaft verbreitet waren. Zunächst sollen diese Thesen plausibel gemacht werden. Die Frage ist, was der Vorwurf, die AfD sei eine populistische Partei, über die AfD selbst und über ihre demokratischen Kontrahenten verrät. An manchen Textstellen werden der AfD andere politische Standpunkte gegenübergestellt. Dann ist vom »demokratischen« oder »bürgerlichen« Standpunkt die Rede. Damit könnte ein Missverständnis befördert werden, nämlich dass die AfD oder andere rechte Parteien von heut auf morgen den Parlamentarismus und das Grundgesetz abschaffen würden, wenn sie an die Macht kommen. Dass das nicht so sein muss, zeigt Orban in Ungarn, die FPÖ in Österreich oder Trump in den USA. Sie benutzen das demokratische System für ihre Ziele und verändern es in ihrem Sinne – denn mit demokratisch gewonnener Macht haben sie dann auch die Macht. Dieses Missverständnis mitgedacht, mögen die Gegenüberstellungen »rechter Standpunkt« versus »demokratischer« oder »bürgerlicher« Standpunkt zunächst mehr als grobe Orientierungen dienen, deren Inhalt sich dann beim Lesen des Textes ergibt. Danach wird dargestellt, welchen objektiven und ideologischen Stellenwert das Volk und der Staat in der Demokratie haben und wie die AfD diesen Zusammenhang auf ihre besondere falsche Weise zum zentralen politischen Programm erhebt.
Rechtspopulist*innen?
In der Demokratie berufen sich alle Staatsvertreter*innen auf das Volk (lat. populus). Das Parlament ist die Volksvertretung und die Justiz urteilt im Namen des Volkes. Die CDU und die SPD bezeichnen sich selbst als Volksparteien (während die Parteiführung der Grünen noch darum ringt, ob sie das werden wollen). Und Bundespräsident*in wie Bundeskanzler*in müssen folgenden Eid leisten: »Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden […] werde.« Trotz des positiven Bezuges auf das Volk gilt aber: Populist*in will dabei keiner sein. Der Begriff ist negativ besetzt. Populist*innen versprächen nämlich dem Volk nur einfache Lösungen, anstatt ihm klar zu machen, dass es eine schwierige Aufgabe sei, einen Staat zu führen, dass man da viel abzuwägen hätte und vor allem gerade für das Allgemeinwohl auch mal gegen die Bevölkerung etwas durchsetzen oder zumindest Teilen davon schaden müsse. Wenn den Rechten vorgeworfen wird, sie seien populistisch, dann ist nicht ihr Anliegen kritisiert, sondern nur die unterkomplexen Mittel und Wege.
Mal davon abgesehen, dass so manch herkömmlicher demokratischer Standpunkt auch nicht furchtbar komplex ist (zum Beispiel die Forderung, »kriminelle Ausländer« abzuschieben), wird hier durchaus etwas am rechten Standpunkt getroffen. Wo andere Politiker*innen ihre Entscheidungen mit Sachzwängen und Alternativlosigkeit rechtfertigen, entdecken Rechte nur faule Ausreden. Eine Politiker*in führe hingegen eine Staatsgewalt und habe damit für einen Rechten eigentlich alles in der Hand, was es braucht, um das Allgemeinwohl umstandslos umzusetzen. Damit agitieren Rechte und können dabei auf die Vorarbeit der anderen Parteien aufbauen. Im Parteienstreit von CSU bis Linkspartei ist es ja durchaus üblich, der Kanzlerin »Führungsschwäche« vorzuwerfen, und in der Tagespresse wird ein Wahlergebnis auch mal damit gelobt, dass eine Partei jetzt »durchregieren« könne, ohne auf die Koalitionspartner oder den Bundesrat Rücksicht nehmen zu müssen. Mit diesen Beurteilungskriterien der Exekutive in der öffentlichen Debatte wird kundgetan, dass der »Dienst am Volk« durchaus eine gewaltsame Rücksichtslosigkeit gegenüber partikularen Interessen verlange. Die Rechten radikalisieren diesen in der Demokratie üblichen Standpunkt, indem sie versprechen, mit aller Gewalt für das Notwendige zu sorgen. Der »Dienst am Volk«, den die AfD verspricht, besteht in einer kompromisslosen Herrschaftsausübung.
Eine weitere Besonderheit der AfD sorgt dafür, dass ihr der Populismus-Vorwurf gemacht wird: Sie meint, das Volk unmittelbar zu repräsentieren. Während eines Wahlkampfes beschuldigen sich routinemäßig alle Parteien wechselseitig, dass die jeweils anderen Standpunkte ganz schlecht für Deutschland seien. Nach der entschiedenen Wahl versuchen aber die Regierungsparteien diesen Zwist im Wahl-Volk und innerhalb der Parteienlandschaft, den sie selber im Wahlkampf vorangetrieben haben, wieder zu glätten. Man werde versuchen, auch die anderen Wähler*innen zu vertreten, auf sie zugehen, ihnen das politische Programm, das jetzt ansteht (also nicht verhandelbar ist, schließlich hat man die Macht) nochmal zu erklären und so weiter. Auch die anderen Parteien erkennen nach der Wahl an, dass sie verloren haben und nicht das Volk vertreten beziehungsweise nur so, dass sie sich in der Oppositionsarbeit kritisch-konstruktiv Mühe geben werden. Hier macht die AfD nicht mit. Sie beansprucht – egal wie hoch das Wahlergebnis war – »unmittelbar« und damit allein das Volk zu vertreten. Ihr Vorwurf an die Regierung ist nicht, dass sie Potentiale von Deutschland nicht nutzt oder aber eine Politik macht, die Deutschland schwächt. Damit wäre immerhin noch unterstellt, dass sie der Regierung zugesteht, Politik für Deutschland und damit für das Volk zu machen. Ihr Vorwurf ist der des Landesverrats. Sie spricht den etablierten Parteien glatt ab, sich für das deutsche Wohl einzusetzen und setzt potentielle »Erklärungen« für diesen Umstand in die Welt: etwa Bestechung durch das globale Kapital oder ein nur-an-den-Diäten-interessiert-Sein. Das sind Ideen, die es auch ganz ohne die Rechten gibt, also von ihnen einfach aufgerufen werden, aber gar nicht weiter begründet werden müssen. Die Kehrseite des Anspruchs, das Volk unmittelbar zu vertreten, ist ein tendenzieller Ausschluss all derjenigen aus dem Volk, die den rechten Standpunkt nicht teilen. Diese mögen die deutsche Staatsbürgerschaft haben, aber ihre Ansichten und Taten sprächen dafür, dass sie eigentlich gar nicht deutsch seien.
Die Rechten bestehen darauf, dass nicht nur das eine oder andere Politikfeld vernachlässigt werde, sondern für sie ganz grundsätzlich Deutschland vor die Hunde zu gehen drohe. Die politischen Eliten würden sich gar nicht mehr dem Volk verpflichtet fühlen und im Volk steckten lauter antinationale Elemente, mit denen kein Staat zu machen sei. Der rechte Standpunkt der AfD ist eine umfassende Krisendiagnose des Gemeinwesens. Der Populismus-Vorwurf trifft aber diesen Kern der AfD nicht. Um diesen herauszuarbeiten, soll im Folgenden unterschieden werden, was der sachliche Gehalt der Demokratie (altgriechisch demos = Volk; kratos = Herrschaft, Gewalt, Macht) als Herrschaft vom Volk, über das Volk und für das Volk ist und in welcher ideologischen Form dieser Gehalt auftritt.
Das Volk in der bürgerlichen Demokratie – Objektivität und Erfindung
Von Rechts bis Links berufen sich alle auf das Volk. Das Volk in der Demokratie gibt es objektiv: Es wird durch die staatliche Sortierung in In- und Ausländer*innen hergestellt. Es ist der Staat, der mit seinen Gesetzen definiert, wer Staatsbürger*in ist oder wer unter welchen Bedingungen Staatsbürger*in werden kann. Die objektive Gemeinschaft der Bürger*innen besteht nur durch eine hoheitliche Definition. Das Volk ist also ein Produkt staatlicher Gewalt. Allgemein wird sich das jedoch genau umgekehrt vorgestellt: Der Staat wird aus dem weggedacht, was er qua Gesetz und Gewalt in die Welt bringt – um sich selbst dann als Ausdruck der Einheit, die es vermeintlich auch ohne ihn gäbe, im Nachhinein wieder zu begründen. Das ist ein sehr verbreiteter und folgenreicher Fehler. Die Gewalt, mit der das Volk durch den Staat hergestellt wird, wird als Ausdruck und Schutzmacht einer vorstaatlichen Gemeinschaft betrachtet (nicht einfach historisch gemeint, sondern als eine Gemeinschaft, die ihre Substanz jenseits der Staatsgewalt hat). Diese falsche Auffassung von der Gesellschaft, das objektive Verhältnis von Staat und Volk schlicht umzudrehen, gehört zur Demokratie dazu.
In vorbürgerlichen Gesellschaften galt das Volk als eine Ansammlung von Untertanen, über die geherrscht wurde. Die Mächtigen gehörten nicht zum Volk und legitimierten sich aus höheren Quellen (Gott und adlige Abstammung). Die demokratische Herrschaft weiß sich dagegen dem Volk als seinem Auftraggeber verpflichtet. Allgemein bedeutet dies, dass in ihr weder ein Stand noch eine Interessengruppe ohne Weiteres bevorzugt werden soll. Die Grundlage der demokratischen Herrschaft ist daher das allgemeine Interesse, das sogenannte Allgemeinwohl. Dieses allgemeine Interesse gibt es innerhalb der Gesellschaft aber nicht, denn sie besteht grundlegend aus Klassengegensätzen und selbst als Einzelne sind die Menschen Konkurrent*innen. Das allgemeine Interesse abstrahiert also von diesen Sonderinteressen. Jene Abstraktion ist dabei nicht einfach eine folgenlose Floskel: Die Herrschaft sorgt für die allgemeinen Bedingungen des Konkurrierens. Der bürgerliche Staat ist für die bürgerliche Gesellschaft – und für jedes einzelne Konkurrenzsubjekt – die absolute Bedingung. Damit wird die Souveränität und Stärke des Staats nach Innen und nach Außen selbst zum allgemeinen Interesse erhoben.
Das allgemeine Interesse, das Allgemeinwohl oder das nationale Interesse (alles Synonyme) schließt sich daher so zusammen: Ein Staat richtet die Konkurrenzgesellschaft ein und sorgt für ihr Funktionieren, damit aus ihr im immer größeren Maße die materiellen Mittel für die Herrschaft erwachsen. In diesem Zweck liegen lauter widerstreitende Gesichtspunkte, die vermittelt werden müssen (zum Beispiel wieviel Sozialpolitik die Wirtschaftspolitik vertrage und umgekehrt, wieviel Sozialpolitik es brauche, damit die Arbeiter*innen klasse für die Wirtschaft ihren Dienst gut tun kann). In der demokratischen Parteienlandschaft spiegeln sich diese Widersprüche unterschiedlich wider, aber egal, wie sie innerhalb des Staatsprogramms ausgelotet werden, immer läuft der Dienst am Volk auf eine Herrschaft über das Volk hinaus. Die Staatsbürger*innen und ihre Aktivitäten sind das Material, das eine Regierung befördert oder beschränkt.
Da der bürgerliche Staat seine Stärke aus einer Ökonomie zieht, in der die Menschen auf eigene Rechnung ihr Glück suchen (müssen) – Selbstbestimmung als Recht und Pflicht –, ist die Zustimmung zu ihm eine entscheidende Sache. Die freiwillige Befolgung der Gesetze erspart dem Staat eine Menge direkter Gewalt. Die Einsicht, dass man für ein höheres Ziel den Gürtel enger schnallen muss, erspart der Ökonomie (und damit dem Staat) hinderliche Klassenkämpfe. Und wenn das Kräftemessen zwischen Staaten in seiner zugespitzten Form ansteht, also Krieg, ist bekannt, dass die freiwillige Identifikation der Bevölkerung mit dem Staat (Patriotismus), eine historisch unvergleichbar gute Basis für die Kriegsführung darstellt.
Demokrat*innen wie Rechte nehmen daher die Idee des vorstaatlichen »Wir« sehr ernst. In ihr steckt das ideologische Gelübde, dass die Staatsvertreter*innen den bürgerlichen Staat und seine kapitalistische Ökonomie stark machen sollen (und nicht einfach den König bereichern) und zugleich der Anspruch an die Bevölkerung, dass sie diesem Programm – bei aller erlaubter Detailkritik – im Prinzip zustimmen sollen. Dieses Sollen bekommt in der Ideologie der nationalen Identität den Charakter von etwas Unhintergehbaren: Du sollst sein, was du bist. Wenn sich Menschen als Deutsche empfinden, es ihnen geläufig ist, vom »Wir« zu reden, das dieses oder jenes tun müsste, dann liegt das nicht einfach am Pass, sondern an ihrer – eingebildeten – deutschen Identität.
Die Volksgemeinschaft in der Krise
Was die eigentliche Substanz der nationalen Identität ausmacht, also was der Deutsche an sich ist, da scheiden sich die Geister in der Gesellschaft. In dieser Differenz wird in der Diskussion über die AfD häufig der wesentliche Unterschied zwischen ihrem rechten und anderen Standpunkten gesehen: Der rechte Standpunkt sei rassistisch, die anderen Standpunkte nicht. Dass der rechte Standpunkt die nationale Identität überwiegend rassistisch denkt, soll hier nicht bestritten werden. Aber die deutsche Identität mit einer »Abstammung« zu verbinden, ist in der hiesigen Gesellschaft wesentlich weiter verbreitet, genauso wie die Sorge über eine »Überfremdung« Deutschlands. Der Erfolg rechter Parteien ist daher mit dem Urteil »Zunahme an Rassismus« nicht getroffen. Der Unterschied rechter Standpunkte und denen der etablierten Parteien zeigt sich zunächst weniger darin, wie das als vorstaatlich gedachte Volk definiert wird (Abstammung, Kultur, Geschichte, Werte), sondern darin, wie im politischen Alltag auf das erfundene »Wir« Bezug genommen wird.
Fast durchgängig wird im politischen Diskurs eine Identifikation mit dem »Wir« ganz selbstverständlich angesprochen. Konkrete politische Maßnahmen werden in dem Bewusstsein formuliert, dass sie sich ihre Berechtigung erst und vor allem dadurch verdienen, dass sie ihren Nutzen für das Große und Ganze haben. So denken Berufsnationalist*innen, Interessenvertreter*innen von Arbeiter*innen wie Unternehmen und auch die ganz normalen Bürger*innen. Im Gegensatz dazu greifen die Rechten ein jeweiliges gesellschaftliches Problem entweder auf, um es sofort in Richtung des Gegensatzes »Wir versus die Anderen« zu lenken. Sie vermissen die gebotene Bevorzugung der Deutschen und drücken so ihr Urteil aus, dass sich die Politik um das Wichtigste, nämlich das Wohl des Volkes, dem sie doch zu dienen hätte, gar nicht mehr kümmere, sondern anderes im Sinn habe. Oder die Rechten nehmen ein auch sonst politisch diskutiertes Feld auf und wollen genau daran die Krise des Volkes demonstrieren: Alle politischen Anliegen werden zum Beweis dafür, dass das deutsche Volk bedroht oder schon im Prozess der Zerstörung begriffen sei und die Wiederherstellung dieser Gemeinschaft ist der allgemeine Ausgangspunkt für die Betrachtung aller möglichen politischen Kontroversen. Für dieses spezifisch rechte Ziel steht der Terminus »Volksgemeinschaft«. Die Volksgemeinschaft und ihre Pflege ist für die Rechten das Thema überhaupt, an dem sie diverse wirtschaftliche, soziale und politische Fragen messen. Das Richtige für Deutschland zu tun ist für sie, die Sorge, Pflege und Wiederherstellung der Volksgemeinschaft als absolut vorrangig zu behandeln.
Bei den etablierten Demokrat*innen ist die Sorge um das Wir-Gefühl und die Pflege der Identität der hiesigen Gemeinschaft dagegen nur ein Punkt neben vielen anderen, um den sich die Politik regelmäßig sinnstiftend kümmert – sei es bei Weltmeisterschaften, an nationalen Feiertagen oder einfach durch den Geschichtsunterricht in der Schule. Aber in der Regel setzen die Demokrat *innen im politischen Alltagsgeschäft das »Wir« als schlicht selbstverständlich voraus. Und deren Wähler*innenschaft mag am Stammtisch (oder im Internet) auf alles mögliche schimpfen, Ausländer*innen ablehnen und einen Sittenverfall in der Gesellschaft beklagen – mit ihrem Wahlkreuz bei den etablierten Parteien geben sie kund, dass sie im Prinzip mit der gesellschaftlichen Einrichtung einig sind.
Das erklärt, wie leicht der Übergang von Politiker*innen und Wähler*innen der etablierten Parteien zum rechten Standpunkt ist. Und wie groß der Abstand dann doch wieder ist (und vielen Zeitgenoss*innen, die sich über den »Rechtsruck« wundern, auch groß erscheint). Der rechte Standpunkt muss kein gesellschaftliches Drangsal neu erfinden, sondern hat seine Nahrung in der herkömmlichen gesellschaftlichen Diskussionen: Sind Politiker*innen nicht manchmal zu abgehoben? Lässt die Politik den Bürger*innen nicht zu viel und manchmal zu wenig Spielraum? Nutzen andere Staaten, insbesondere die EU-Länder, Deutschland nicht allzu oft aus? Kann man den Islam vom Islamismus trennen? Und wenn ja, wie sehr muss man darauf achten, dass man einen deutschen Islam hat und keinen vom Ausland finanzierten? Jede dieser Fragen sollte man nicht beantworten, sondern kritisieren. Das wird hier nicht gemacht, weil es nur um den Hinweis geht, dass die Fragen zum Alltagsgeschäft der demokratischen Parteien gehören.
Alle diese Fragen werden in der Demokratie von allen Parteien aufgeworfen und Wähler*innen (sowie Nicht-Wähler*innen) beschäftigen sich damit. Aber wer den Übergang zum rechten Standpunkt macht, hat bei diesen Fragen ein »Aha-Erlebnis« gehabt. Warum diese Fragen kein Ende nehmen, hat für Rechte einen Grund: Die Politik und große Teile der Bevölkerung wissen sich der nationalen Idee gar nicht mehr verpflichtet. Und damit verletzen beide Abteilungen der Nation, also Staat und Volk, ihre höchste Pflicht. Würden die Politiker*innen sich der Nation verpflichtet fühlen, wären sie nicht abgehoben, würden den Bürger*innen keine schädlichen Freiheiten gewähren oder unsinnige Beschränkungen auferlegen. Die Politik würde es dann auch gar nicht zulassen, dass das Ausland Deutschland »ausnutzen« oder gar über religiöse Vereine Einfluss auf die deutsche Gesellschaft nehmen könnte. Und letztlich würde die Bevölkerung dann auch die richtigen Werte verinnerlicht haben, die für das nationale Programm unverzichtbar seien.
Der rechte Standpunkt nimmt also das Ideal der bürgerlichen Gesellschaft, das aufeinander eingeschworene »Wir«, insofern ernst, als dass er von diesem Ideal aus sich die Welt erklärt. Während die demokratisch gesinnten Mitmenschen im »Wir« de facto eine Versöhnung mit den Gegensätzen in der Gesellschaft vollziehen, vergleicht der rechte Mensch das erfundene »Wir« ernsthaft mit der gesellschaftlichen Realität und beklagt, dass man es dort nicht findet.
Die Rettung der Volksgemeinschaft sortiert die Feinde des Volkes
Von diesem Standpunkt aus betrachtet der rechte Mensch die Welt. Er entdeckt jetzt und fortlaufend die umfassende Krise des Volks in allen möglichen politischen Problemfeldern: Es mangelt an Patriotismus. Wo sich nur über Scham mit Deutschland identifiziert wird, entdeckt der Rechte antinationale Bestrebungen. Der (angeblich) mangelnde Patriotismus habe weiter seine Grundlage darin, dass die Politik den Bürger*innen zu viel Liberalität zugestehe anstatt sie auf Werte, also die Verpflichtung, festzulegen. Im Staatsvolk und in der Bevölkerung entdeckt der Rechte zu viel »Fremdes«. Wo die Regierung sich bemüht, Menschen mit sogenannten »ausländischen Wurzeln« dazu zu bringen, das »Fremde« von sich abzustreifen – Stichwort Integration – will der Rechte entsprechend eines Notstands des bedrohten Volks die »Fremden« gleich aus Deutschland raus haben. Die Regierung dagegen mache sich durch ihre Staatsbürgerschaftsregeln und ihre Asylpolitik der höchsten Pflichtverletzung schuldig: Sie suche sich das Volk aus, dem sie dann dienen wolle. Wie Alice Weidel es in einer Haushaltsdebatte im Bundestag vom 16. Mai 2018 ausdrückte: »Und dabei fühlen Sie sich dem Schriftzug am Hohen Hause ›DEM DEUTSCHEN VOLKE‹ ohnehin nicht mehr verpflichtet. Das Volk wollen Sie sich nämlich selbst aussuchen und zusammenstellen.« Und schließlich interpretiert der Rechte die auf nationalen Machtzuwachs kalkulierten Abtretungen von Teilen der Souveränität an die EU als großes Einfallstor für die Auflösung des nationalen Standpunktes. Für eine Sortierung der Kampffelder des rechten Standpunktes siehe den Text Von Schland nach Gauland, der das ausführlich macht: https://bit.ly/3CoQmgX.
Im Streit mit den anderen Parteien, den zivilgesellschaftlichen Institutionen und Mitbürger*innen handelt es sich jetzt nicht mehr um einen Ideenwettbewerb einer unterstellten funktionierenden Gemeinschaft, sondern – gemessen daran, worum es für den Rechten geht – um einen Kampf um das Höchste. Daher hat der rechte Standpunkt nicht einfach politische Konkurrent*innen, sondern Feind*innen. Das erklärt die Intensivierung der rechten Agitation, ihre Wut, ihren Hass und ihr verändertes Engagement im Alltag. Die schlechte Meinung über Ausländer*innen (oder diejenigen, die sie dafür halten), die sie vorher schon hatten, als sie noch die etablierten Parteien oder gar nicht gewählt haben, wird jetzt, wo es für sie um das Ganze geht, lautstark nach außen getragen. Um es nochmal auf das Eingangszitat von #unteilbar zu beziehen: Rassismus ist immer weit verbreitet in der demokratischen Gesellschaft und genügend abfällige Bemerkungen über Geflüchtete, aber auch deutsche Staatsbürger*innen mit dem sogenannten Migrationshintergrund, gab es in der BRD-Geschichte die ganze Zeit. Wofür die als »Fremde« ausgemachten Menschen stehen, das hat sich mit dem »Rechtsruck« geändert: Sie werden zum Inbegriff des Staatsnotstandes erklärt.
Gruppen gegen Kapital und Nation
Die Gruppen gegen Kapital und Nation sind eine linksradikale Organisation. Die beteiligten Gruppen und Einzelpersonen versuchen die bürgerliche Gesellschaft theoretisch zu durchdringen und die Ergebnisse in verständlicher Form unter die Leute zu bringen. Antinationale und andere Texte finden sich auf: www.gegner.in.