Auf Einladung des Roten Salons diskutierten am 16. Mai 2019 die Soziologin Silke van Dyk und der Politikwissenschaftler Philip Manow im Leipziger Conne Island unter dem Titel »Notwehr oder Rassismus? Warum der Rechtspopulismus heute so stark ist«. Aktueller Anlass waren die damals kurz bevorstehenden Landtagswahlen in Sachsen. Deren Ausgang konnten die beiden Podiumsgäste und die Veranstalter natürlich nicht kennen. Ebenso liegen der Mord an Walter Lübcke, die Ereignisse im Zuge der Landtagswahl in Thüringen oder die Anschläge in Halle und Hanau in der Zeit nach der Podiumsdiskussion. Das Gespräch jenes Abends zielte jedoch auch weniger auf die Einordnung tagesaktueller Entwicklungen. Vielmehr werden darin zwei bisweilen gegenläufige Lesarten dessen, was gemeinhin unter dem Phänomen Rechtspopulismus gefasst wird, miteinander ins Verhältnis gesetzt. Der hierbei aufgezeigte Dualismus zwischen einem ökonomischen Erklärungsversuch des Populismus und dessen vermeintlicher Kulturalisierung bestimmt die Debatte bis heute. Der Mitschnitt der Diskussion wurde verschriftlicht und an einigen Stellen gekürzt, Silke van Dyk und Philip Manow haben diesen Text von uns erhalten und an mehreren Stellen ergänzt und verändert, so dass ein aktualisiertes Gespräch für die Phase 2 entstanden ist.
Roter Salon Frau van Dyk, die gegenwärtige Debatte um das zu erwartende Abschneiden der AfD bei den Wahlen in Sachsen 2019 ist von einem gewissen Alarmismus geprägt. Wahlweise steht das Ende der Demokratie bevor oder der Faschismus bereits vor der Tür. Was erwartet uns ihrer Einschätzung nach genau?
Silke van Dyk Ein Alarmismus, der die gegenwärtige Situation in Kategorien eines aufkommenden Faschismus analysiert, führt tatsächlich nicht weiter. Ich habe oft den Eindruck, dass dem Bedürfnis, die Situation zu problematisieren dann eher durch solche Zuspitzungen Rechnung getragen wird, als sich die Konstellation genauer anzugucken. Mit Blick auf die anstehenden Landtagswahlen ist natürlich zu sagen, dass die Lage in den verschiedenen Ländern sehr unterschiedlich ist. In Sachsen angefangen, wo die AfD, wie wir alle wissen, bei der Bundestagswahl stärkste Partei geworden ist, über Thüringen, wo die AfD mit jemandem wie Björn Höcke noch mal ganz anders aufgestellt ist und sehr viel stärker als in anderen Landesverbänden für eine völkische, und – wenn es um die soziale Frage geht – eher für eine nationale soziale Politik eintritt, bis hin zu westdeutschen Landesverbänden, die mit ihrer rechten Politik an das neoliberale Erbe der Partei anschließen. Da gibt es also definitiv konkurrierende Fraktionen innerhalb der AfD.
Die entscheidende Frage ist, ob sich Parteien finden – und in Sachsen natürlich vor allem mit Blick auf die CDU –, die bereit sind mit der AfD eine Koalition einzugehen. Ich denke, dass dieser Punkt in den aktuellen Debatten um das Erstarken des Populismus zu wenig diskutiert wird. Es gibt immer mehr Länder, in denen Rechtspopulisten und Rechtsextreme an der Regierung beteiligt waren und sind. Das ist eine andere Situation als sie in Deutschland bislang anzutreffen ist. Hier geht es dagegen eher darum, in den Blick zu nehmen, wie sich eigentlich der Einfluss der AfD aus der Opposition heraus entfaltet.
Man muss sehen – und das ist ja für bestimmte Kontext auch sehr gut nachgewiesen –, dass eine starke AfD gleichzeitig die rechten außerparlamentarischen Strukturen stärkt. Zum Beispiel werden Mitarbeiter*innenstellen mit rechten Akteur*innen besetzt und Informationen weitergegeben.
Es gibt zudem eine zweite Ebene, die häufig unterbelichtet bleibt: die Hinterbühne des politischen Geschäftes. So ist die AfD in Kuratorien der Bundes-und Landeszentralen für politische Bildung vertreten, die deren Arbeit kontrollieren, und sie kann über die Rundfunkräte auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk Einfluss nehmen. Menschen, die hier arbeiten, berichten, dass sich Debatten und Auseinandersetzungen sehr verändert haben, seit auch Leute von der AfD mit in den Gremien sitzen. Darüber hinaus ist der größte Einfluss im Moment wahrscheinlich die Verschiebung des politischen Diskurses und der politischen Praxis jenseits der AfD. Deswegen ist es das eine, danach zu fragen, ob sie stark genug ist oder wird, um irgendwo mitzuregieren, und das andere, wie das Erstarken der AfD politische Diskurse und politische Praxis nach rechts verschiebt, so insbesondere in der Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik. Erstaunlicherweise ist derzeit bis in die Linke hinein die Position zu finden, die liberalen gesellschaftlichen und politischen Eliten in Europa würden für eine einwanderungs- und integrationsfreundliche Politik stehen. Wenn ich das höre, frage ich mich schon, ob ich eigentlich auf dieselbe Welt blicke. Ich sehe zum Beispiel Frontex und die über 19.000 im Mittelmeer ertrunkenen Geflüchteten seit 2014, ich sehe den Türkei-Deal, die Abschiebepraxis, und ich erkenne definitiv keine Pro-Migrationspolitik der EU. Trotzdem ist die Deutung sehr einflussreich, dass der Zuspruch für rechtspopulistische Politik auch eine Antwort auf diese vermeintlich kosmopolitische und »Offene Grenzen«-Politik sei. Diese Diskursverschiebung ist bislang einer der größten Effekte des Erstarkens der AfD.
Philip Manow In der Frage zwischen Alarmismus und Abwiegeln ist es natürlich unheimlich schwer eine Balance zu halten. Einerseits würde ich sagen, in gewisser Weise normalisiert sich Deutschland in Bezug auf Rechtspopulismus. In den meisten europäischen Ländern gibt es solche Parteien, etwa in Schweden, Finnland oder Dänemark, Länder, von denen wir eher einen sozialdemokratischen Eindruck haben. Deutschland ist letztendlich nur Nachzügler. Natürlich soll das nicht beruhigen, aber gleichzeitig würde ich schon sagen, dass der Alarmismus, den Sie eingangs angesprochen haben, sich aus zwei Dingen speist. Einerseits aus der spezifisch deutschen Situation, andererseits weil es neu ist. Für uns ist es völlig neu, aber wie gesagt in der Schweiz oder in den Niederlanden oder Dänemark ist das ein Phänomen, das es seit 20 bis 25 Jahren gibt. Hier hat man nicht den Eindruck, dass die »Machtergreifung « unmittelbar vor der Tür steht.
Ich bin kein Spezialist für Thüringen oder für Sachsen, Bremen kenne ich ein bisschen. In Bremen liegt die AfD in aktuellen Umfragen bei knapp zehn Prozent. (Bei der Wahl zur Bremer Bürgerschaft Ende Mai 2019 erreichte die AfD 6,1 Prozent. Anm. d. Red.) Sachsen ist eine völlig andere Geschichte, das ist ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Die Koalitionsarithmetik wird jetzt wirklich spannend. Gibt es ein Cordon sanitaire wie in Schweden, wo wir im Grunde genommen von links bis rechts der Konsens besteht, mit den Rechtspopulisten überhaupt nicht zu koalieren? Das wird in Sachsen wahrscheinlich am ehesten dann eine Frage an die CDU sein.
Roter Salon Frau van Dyk, Sie haben von der Diskursverschiebung gesprochen. Bereits Anfang der 1990er Jahre, in Zeiten der Abschaffung des Asylrechts oder der starken Einschränkung des Asylrechts, könnte man rückblickend von einer Diskursverschiebung sprechen und die hat ohne Populisten stattgefunden. Es hat damals selbstverständlich rechte Parteien gegeben. Der Populismusforscher Cas Mudde behauptet, diesen direkten Zusammenhang gibt es gar nicht. Es sei gerade ein Fehler, dem Rechtspopulismus vorzuwerfen, dass er für eine Diskursverschiebung zuständig ist. Etablierte Parteien hätten den Diskurs verschoben und, flapsig formuliert, würden die Rechtspopulisten nur die Früchte dessen einfahren.
Van Dyk Ich würde sagen, dass beides stimmt. Wenn man sich jetzt die Abschaffung des Grundrechts auf Asyl Anfang der 1990er Jahre anguckt, dann haben wir natürlich eine ganz klare Konstellation, in der ohne starke populistische oder rechte Kräfte in den Parlamenten radikale Einschränkungen im Asyl- und Einwanderungsrecht vorgenommen worden sind. Es geht mir nicht darum zu sagen, hier und heute passiert etwas, was außerhalb von rechten Parteien vorher gar nicht stattgefunden hat und dass dies allein von der AfD in Gang gesetzt würde. Es ist aber auch richtig, dass wir in der jüngsten Vergangenheit weitreichende Verschärfungen im Bereich Asyl, Flucht und Einwanderung hatten, und dass die Diskussion um sogenannte Obergrenzen nur vor dem Hintergrund der veränderten politischen Kräfteverhältnisse zu verstehen ist. Und von Anfang der 1990er Jahre bis heute verläuft keine gerade Linie: 2012 hat das Bundesverfassungsgericht die Aufwendungen nach Asylbewerberleistungsgesetz für verfassungswidrig erklärt, in den Jahren danach folgte die weitgehende Aufhebung der Residenzpflicht und die Abschaffung von Sach- bzw. Naturalleistungen. Die meisten Lockerungen wurden aber unglaublich schnell wieder einkassiert und 2015/2016 gab es in schneller Folge radikale Verschärfungen. Der Verweis auf das Erstarken rechter Kräfte dient dabei den anderen Parteien als Legitimation für eine neu akzentuierte Asyl- und Migrationspolitik. Auch bei den Sozialdemokraten und in Teilen der Linkspartei ist immer häufiger zu hören, dass man gerade die weniger privilegierten Wähler*innen davon abhalten müsse, zur AfD abzuwandern. Da schwingt dann immer die Idee mit, eine humane Asyl- und Einwanderungspolitik sei eine Spielwiese urbaner Akademiker*innen, die den so gern zitierten kleinen Leuten gegenübergestellt werden. Ich glaube nicht, dass es diesen Diskursstrang mit diesen Legitimationsweisen ohne das Erstarken der Rechten gäbe.
Roter Salon Herr Manow, in Ihrem Buch Die politische Ökonomie des Populismus beschreiben Sie das Defizit der Debatte um die Erfolge rechtspopulistischer Parteien als einen Mangel an ökonomischer Reflexion. Es werde über Populismus geredet, ohne zugleich über Kapitalismus zu sprechen. Können Sie uns das genauer erläutern?
Manow Das Buch versucht eine vergleichende Perspektive auf den Populismus in Europa zu werfen und den rein binnendeutschen Diskurs zu verlassen. Wie schon erwähnt: Was jetzt für uns ganz neu und erschreckend ist – deswegen die aufgeregte Debatte –, sehen wir in den Nachbarländern schon viel länger. Zugleich beobachten wir ja wirklich einen Trend. Die Rechtspopulisten werden stärker. Eine Theorie des Populismus müsste beides erklären können, Trend und nationale bzw. regionale Unterschiede. Denn der Populismus ist ja nicht überall gleich, auch wenn die Aufzählungen das suggerieren. Da wird immer alles zusammengeschmissen: Brexit, Trump, Putin, Erdogan – und dann die AfD, als wenn das eine logische Reihe wäre, und das wird ganz unterschiedslos in ein großes Panorama der Demokratiegefährdung gestellt.
Was die Unterschiede angeht, so ist in Europa zum einen eine Nord-Süd-Varianz augenfällig. Bis vor kurzem gab es keinen Rechtspopulismus in Südeuropa. Natürlich gibt es rechtsextreme Splitterparteien: die Goldene Morgenröte, franquistische Parteien in Spanien oder Neofaschisten in Italien. Diese rechten Antisystemparteien gab es überall, das ist bei uns die NPD gewesen. Aber in Spanien sind sie nie über zwei Prozent hinausgekommen, auch in Griechenland blieben sie unter zehn Prozent. Im Vergleich zu den extremen Antisystemparteien, die sich eine Führerdiktatur zurückwünschen, sind die neuen Rechtspopulisten etwas anderes. Das, finde ich, argumentiert Cas Mudde überzeugend, und deswegen hat er vorgeschlagen, in diesem Kontext von der radical populist right zu sprechen. Die war aber in Südeuropa bis vor kurzem nicht existent, in Nordeuropa hingegen dominant. Dagegen finden wir kein nordeuropäisches Pendant zu Syriza, Podemos oder Movimento 5 Stelle. Bevor die Lega sich von der Regionalpartei zu einer rechtspopulistischen Partei entwickelt hat, gab es eigentlich keinen genuinen Rechtspopulismus im Süden. Je weiter wir in den europäischen Norden kommen – und dazu gehören auch liberale, weltoffene, jahrzehntelang sozialdemokratisch geprägte Länder in Skandinavien –, tritt auf einmal dieses rechtspopulistische Phänomen auf. Das fand ich erst einmal erklärungsbedürftig. Meine Erklärung ist vornehmlich eine wirtschaftliche, sie stellt ab auf die ganz unterschiedlichen ökonomischen Herausforderungen, vor denen die Länder stehen. Wenn wir die großen Verwerfungen der letzten Jahre anschauen, die jeweils politisch für viele Kontroversen gesorgt haben, dann wird ab circa 2010 die Eurokrise in der Peripherie virulent. Dass das erstmal Linkspopulisten Aufwind gibt, die sich gegen die Troika und eine als »deutsches Diktat« wahrgenommene Sparpolitik wenden, ist plausibel, es ist ideologisch programmatisch naheliegend. In gleichem Maße ist es naheliegend, dass rechtspopulistische Bewegungen in Nordeuropa die generöse Sozialstaatlichkeit in den Blick nehmen, die normalerweise universell zugänglich ist. Dagegen gibt es im Süden eine hochgradig fragmentierte, nicht für alle, insbesondere Einwander*innen, zugängliche Sozialstaatlichkeit. Vor dem Hintergrund erscheint Migration in vielen Bevölkerungskreisen als politisch kontrovers. Das verleiht den Rechtspopulisten insbesondere im Zuge der Migrationskrise 2015ff. besonderen Auftrieb. Aus dieser Konstellation entwickelt das Buch eine vergleichende Theorie, eine vergleichende politische Ökonomie des Populismus. Sie deutet ihn als Protest gegen Globalisierung in ihren zwei hauptsächlichsten Erscheinungsformen. Einmal so, wie wir das in gängiger Weise immer verstanden haben, als grenzüberschreitende Bewegung von Gütern und Kapital. In der zweiten Erscheinungsform – und das ist eine etwas unkonventionelle Verwendung des Globalisierungsbegriffs – gibt es die starke Zunahme der Migrationsströme, die dann eher in Kontinental- und Nordeuropa zu politischen Reaktionen geführt hat, weil das hier verteilungspolitisch besonders relevant wird, also Globalisierung als grenzüberschreitende Bewegung von Personen. Der Protest gegen Ersteres artikuliert sich eher links, der gegen Letzteres eher rechts.
van Dyk Ich habe Die politische Ökonomie des Populismus mit großem Gewinn gelesen und finde, dass es der Debatte etwas Wichtiges hinzufügt, nämlich Kapitalismus nicht nur im Singular zu benennen, sondern die unterschiedlichen Wohlfahrtsstaatstypen ins Verhältnis zu setzen und nach ihrem Erklärungspotenzial zu fragen. Allerdings geht in Ihrem Buch damit die Abwehr bzw. Ausblendung aller möglichen anderen Erklärungsfaktoren einher und es tendiert dazu, Phänomene wie zum Beispiel Rassismus, Flüchtlingsfeindlichkeit und Nationalismus radikal zu kulturalisieren, und sie analytisch zu entsorgen. Wenn man sich die etablierten Wohlfahrtsstaaten in Skandinavien oder in Kontinentaleuropa anguckt, stellt man aber fest, dass die Struktur dieser Wohlfahrtsstaaten starke Implikationen hatte in Bezug auf Geschlechterverhältnisse und Vorstellungen von »Einheimischen« und »Anderen«. Sie sagen, Skandinavien wäre so wahnsinnig weltoffen. Dabei zeigt sich gerade in Schweden: Das sogenannte Volksheim Schweden war eine extrem homogene Gesellschaft mit einem hohen Sicherungsniveau nach innen, wo der soziale Zusammenhalt und die Solidarität an genau diese Homogenität geknüpft waren. Ich glaube, dass wir diese wohlfahrtsstaatlichen Konfigurationen nicht davon lösen können, dass sie auf bestimmten Vorstellungen davon beruhen, wer die Bevölkerung ist, auf wen sich dieses Solidaritätskollektiv erstreckt und welche Geschlechterverhältnisse damit verbunden sind. Ich teile, dass diese ökonomischen Verhältnisse eine wichtige Erklärungsfunktion haben, aber nicht um den Preis, deshalb Rassismus oder Sexismus erneut zu Nebenwidersprüchen zu erklären. Natürlich sind die Menschen in Schweden nicht von Natur aus rassistischer als in Spanien, daraus aber abzuleiten, dass Rassismus kein substanzieller Erklärungsfaktor sein kann – wie Sie es im Buch tun –, halte ich für grundfalsch. Als Sozialwissenschaftler*innen muss uns doch gerade interessieren, welche sozialen und historischen Bedingungskonstellationen spezifische Vorstellungen von einer homogenen Bevölkerung, von Zugehörigkeit und »weißer Normalität« hervorgebracht haben.
Der Fordismus, der in Deutschland als Folie einer verlorengegangenen Welt dient, in der es den sogenannten kleinen Leuten noch besser ging, war eben mit Blick auf Migrant*innen, auf die sogenannten Gastarbeiter*innen, und natürlich auch mit Blick auf Frauen hochgradig diskriminierend und exklusiv. Rassismus oder Sexismus sind nicht irgendwelche postmaterialistischen Überbauphänomene, sondern sind aufs engste mit wohlfahrtsstaatlichen Strukturen verbunden.
Manow Das ist dem Buch in mehreren Rezensionen vorgeworfen worden: Es sei ökonomistisch und würde sich stark gegen kulturelle Erklärungen wenden. Es gäbe zwei Dinge dazu zu sagen: In einem Diskussionskontext, der das Phänomen vorwiegend oder ausschließlich kulturell interpretiert hat, war das zunächst ein Versuch, die ökonomische Perspektive des Ganzen systematisch in den Mittelpunkt zu rücken. Insofern war das natürlich eine pointierte Position. Dass das als alleinige Erklärung zu kurz greift, würde ich sofort zugestehen – und das ist in dem Buch auch durchaus angesprochen, in der öffentlichen Wahrnehmung aber etwas untergegangen. Generell führt es aber nicht sehr weit, das Ökonomische und das Kulturelle gegeneinander auszuspielen. Jeder ökonomische Zusammenhang ist letztendlich ein Anerkennungszusammenhang. Wer kriegt was und warum? Das sind immer auch Fragen der Anerkennungs- und Moralökonomie. In Bezug auf die Lohnquote beispielsweise, scheint es einen ökonomischen Zusammenhang für die Verteilung des Profites an die Kapitalbesitzenden und an die Arbeitenden zu geben. Aber natürlich ist das im Kern eine Frage, was gerecht, was fair ist. In einem sehr entwickelten Wohlfahrtsstaat gibt es hohe Voraussetzungen für Solidarität. Es muss nicht unbedingt Homogenität sein, sondern ist eher mit wechselseitigem Vertrauen zu beschreiben. Dass in einem solchen Kontext Migration hochgradig irritierend sein kann, muss nicht immer sofort auf Rassismus zurückgerechnet werden. Ich habe ja auch geschrieben, dass jeder politische Konflikt kulturalisiert werden muss. Das ist unvermeidlich.
Roter Salon Frau van Dyk, in ihren Texten erläutern Sie zum Zusammenhang von Populismus und Kapitalismus, dass in der Krise des Neoliberalismus ein bestimmter Bevölkerungsteil, nämlich vor allem weiße heterosexuelle Männer, ins Hintertreffen geraten. Sie schreiben dann von der »Dividende weißer Männlichkeit«, die verlorengehe. Wie bringt man so ein recht globales Erklärungsmuster mit den von Herrn Manow angesprochenen geografischen Varianzen zusammen?
van Dyk Die Dividende weißer Männlichkeit ist, wie alles wovon wir schon gesprochen haben, keine monokausale Erklärung. Mir scheint die Geschlechterperspektive sehr wichtig zu sein, weil wir in der aktuellen Diskussion häufig dem Verweis auf weiße Männer als den »neuen Verlierern «, den neuen eigentlich Abgehängten begegnen, und zwar keineswegs ausschließlich auf der rechten Seite. In einem breiten Spektrum wird stark gemacht, dass gut vertretene sogenannte Minderheiteninteressen (etwa von Migrant*innen, People of Color, Schwulen/Lesben und Frauen, die interessanterweise meist unter die Minderheiten subsumiert werden) in den letzten Jahren so einflussreich geworden seien, dass jetzt die Gruppen, die keinen Minderheitenstatus für sich geltend machen können, ins Hintertreffen geraten würden und sich hier etwas zusammenbraue. Wenn man nun all diese vermeintlichen Minderheiten zusammenzählt, hat man eine satte Mehrheit der Gesellschaft. Es geht hier also nicht um ein quantitatives Argument, sondern um ein qualitatives, um eine Frage der Hegemonie. Wer soll der Bezugsmaßstab sein, an dem alles ausgerichtet ist? Wer bestimmt die Norm? Und das waren in der Vergangenheit vornehmlich weiße Männer, ohne dass sie sich dieses Privilegs notwendigerweise bewusst sein mussten. Über diese Diskreditierung vermeintlicher Minderheitenanliegen werden Forderungen gestellt, die dann häufig als Anliegen der »normalen Leute« oder der sprichwörtlich kleinen Leute behauptet werden. Da geht eben häufig verloren, zu fragen: Wer sind denn diese vermeintlich normalen Leute? Und: Haben die kein Geschlecht, keine Hautfarbe, keine Sexualität?
Und hier sind wir zurück bei der Struktur von Wohlfahrtsstaaten, denn diese Definitionen und Praxen von Normalität sind eingelassen in die Gestaltung der Arbeitsmärkte und die Architektur von Sozialleistungen. Mir geht es überhaupt nicht darum, eine Kulturalisierung der Analyse voranzutreiben, sondern zu zeigen, dass bestimmte Geschlechterverhältnisse, dass bestimmte Konstellationen im Hinblick auf Einwanderung und Migration eingebettet sind in die polit-ökonomische und wohlfahrtstaatliche Ordnung. Und hier finden wir zum Beispiel erhebliche Unterschiede in den Geschlechterordnungen Deutschlands und Skandinaviens. Wenn wir in Deutschland bleiben, in Westdeutschland, dann haben wir das Ernährermodell mit männlichem Alleinverdiener und weiblicher Hausfrau (oder Zuverdienerin) und eine entsprechende Institutionalisierung der Geschlechterverhältnisse durch Steueranreize, die Struktur des Rentensystems etc.
Auf jeden Fall ist es aus meiner Sicht absolut irreführend, den derzeit so beliebten Gegensatz aufzumachen, es gehe entweder um ökonomische Fragen und soziale Gerechtigkeit oder um kulturelle Fragen, ergo Rassismus oder Sexismus. Wollen die Menschen, die sich den Rechten zuwenden, soziale Gerechtigkeit und protestieren gegen neoliberale Globalisierung oder sind sie rassistisch oder sexistisch? Der Gegensatz ist in dieser Frage absolut falsch, weil er außer Acht lässt, was als sozial gerecht gilt, wer als legitimes Subjekt mit Ansprüchen in einer solidarischen Ordnung betrachtet wird. Das, was Menschen für gerecht halten, ist eben auch über Geschlechterverhältnisse und über rassistische Implikationen vermittelt.
Ein letzter Punkt noch: Geschlecht und Ethnizität sind in den meisten europäischen Ländern zuverlässige Indikatoren dafür, sich am unteren Ende der ökonomischen Stufenleiter wiederzufinden. Das ist ein empirisch so eindeutiger Fakt, dass es eine spannende Frage ist, wie es unter diesen Bedingungen gelingt, ausgerechnet autochthone Männer zur vermeintlich neuen Verlierergruppe zu erklären. Natürlich waren die meisten weißen Männer Arbeiter und im Fordismus der Nachkriegszeit immer nur relativ privilegiert, sie wurden trotzdem als Arbeiter ausgebeutet. Ich will die Klassenperspektive gar nicht wegwischen, aber das Verständnis dieser relativen Privilegierung ist wichtig dafür, dass wir heute hier Abwehrkämpfe erleben, die durchaus etwas mit Privilegiensicherung zu tun haben. Damit meine ich nicht, dass erkämpfte soziale Rechte nicht zu verteidigen und auszubauen sind, aber eben nicht in einem Abwehrkampf gegen neue Anspruchsgruppen, sondern in inklusiver Weise; in einer Weise, die auch die Normalität weiblicher oder migrantischer Prekarität durchbricht.
Das alles im Blick, bin ich der festen Überzeugung, dass wir das Phänomen Rechtspopulismus nicht ohne die Geschlechterfrage verstehen können (und tatsächlich spielen traditionelle Vorstellungen von Ehe, Familie und Sexualität bei allen rechten Parteien eine absolut zentrale Rolle). In der Erklärung des Phänomens bei Herrn Manow tritt die Geschlechterfrage aber komplett hinter die soziale Frage zurück. Es gibt wirklich endlos viele Beiträge zu der kontroversen Frage, ob die Wahl rechter Parteien eine Notwehr unterer Schichten ist, aber der empirisch einwandfrei festzustellende Umstand, dass fast doppelt so viele Männer wie Frauen die AfD wählen, ist undiskutiert. Warum schaut da eigentlich niemand hin?
Manow Die These von der Dividende weißer Männlichkeit wirft für mich mehr Fragen auf, als sie beantwortet. Mein Ausgangspunkt war, dass die Stellung weißer Männer in all den Ländern, die man jetzt so betrachtet, relativ ähnlich ist. Es ist ja nicht so, dass das südeuropäische Wohlfahrtsund Familienmodell den Männern weniger Privilegien zugestanden hätte – ganz im Gegenteil. Aber die Frage wäre jetzt, ob sich diese Phänomene im Rahmen eines cultural backlash erklären lassen. Seit Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre sehen wir das Aufkommen sozialer Bewegungen: Frauenbewegung, Homosexuellenbewegung, Umweltbewegung und Friedensbewegung. Wir sehen damit eine Neue Linke, zu deren Grundsätzen es gehört, die bestehenden Geschlechterverhältnisse zu hinterfragen. Dazu kommt, und das zeigen auch Umfragedaten, dass sich die Gesellschaften extrem liberalisieren. Selbst in Irland gibt es mittlerweile solide gesellschaftliche Mehrheiten für same sex marriage. Wer hätte das denn noch vor 15 bis 20 Jahren gedacht? Jetzt aber davon zu sprechen, es gebe einen cultural backlash ausgehend von jenen, die sich darin nicht wiederfänden, die unzufrieden seien, dass Frauen jetzt endlich mehr zu bestimmen haben, das scheint mir doch sehr schlecht vereinbar mit den Dingen, die wir empirisch feststellen können. Es ist schwer vorstellbar, dass sich in Gesellschaften, in denen, wie in den skandinavischen Fällen, Frauengleichstellung sehr früh offizielle Regierungspolitik geworden ist, nun etwa 40 Jahre später auf einmal Männer ihr Unbehagen darüber artikulieren. Das scheint mir keine besonders plausible Erklärung zu sein. Etwa im Fall Italiens: Die regionalen Diskrepanzen zwischen dem in Süditalien etablierten Movimento 5 Stelle und der vor allem in Norditalien aktiven Lega lassen sich meiner Meinung nach viel plausibler durch Verteilungsinteressen erklären. Es gibt dort bestimmte Modelle der wirtschaftlichen Existenz, sozusagen Mezzogiorno (Süditalien) versus Emiglia Romana (Norditalien). Die einen sind abhängig von öffentlichen Transfers, die anderen haben einen relativ entwickelten mittelständischen Exportsektor. Im Süden, wo es zwar Klientelismus, aber keine für alle zugänglichen sozialstaatlichen Sicherungen gibt, kommen Migrant*innen jedoch recht schnell in der informellen Ökonomie unter. Im Norden dagegen werden sie von der Mittelschicht als Bedrohung des Sozialsystems wahrgenommen. Die Stärke der jeweiligen Parteien lässt sich also aus den ökonomischen Interessen erklären, die sie bedienen. Dabei auf kulturalistische Erklärungsvarianten abzustellen, scheint mir systematisch ins Leere zu laufen.
van Dyk Ich würde dem ja gerade widersprechen, dass es sich dabei um rein kulturalistische Erklärungsmomente handelt. Die Geschlechterverhältnisse und Emanzipationsbewegungen sind tief in den jeweiligen politischen Ökonomien verankert, ohne deshalb von diesen determiniert zu sein. Sie haben immer auch eine Eigenlogik und -dynamik. Mein Anliegen ist es auch nicht, einen radikalen cultural backlash zu propagieren oder zu behaupten, wir würden jetzt komplett hinter die Errungenschaften der Emanzipationsbewegungen seit den sechziger Jahren zurückfallen. Was wir derzeit erleben, ist auch eine Reaktion auf Erfolge dieser Bewegungen, es ist die heftiger werdende Gegenwehr, die zugleich zeigt, wie weit diese Formen der Liberalisierung vorangeschritten sind. Wenn wir uns die verschiedenen rechten Parteien in Europa angucken, dann finden wir zudem eine gewisse Varianz, wenn es um Geschlechter- und Familienverhältnisse sowie Sexualität geht. Wenn man das niederländische Beispiel anschaut, haben geschlechter- und sexualitätsbezogene Themen für den Erfolg des Rechtspopulismus eine große Rolle gespielt, nämlich indem sie in einen vor allem antimuslimischen Rassismus eingebettet werden. Während hier also die liberale niederländische Lebensweise, was Homosexualität oder die Geschlechterverhältnisse angeht, gegen die vermeintlich diesbezüglich rückwärtsgewandten Einwander*innen hochgehalten wird, die – so die rechte Doktrin, diese Lebensweise bedrohen würden –, halten rechte Parteien in den meisten anderen Ländern traditionelle Familienformen hoch und problematisieren sexuelle Liberalisierung. Und wir wissen aus Umfragen von Anhänger*innen und Wähler*innen, dass traditionelle Familien- und Geschlechterpolitik ein durchaus zentrales Thema für die Menschen ist. Deswegen bin ich etwas skeptisch gegenüber Erklärungsversuchen, die alles auf nur einen – ökonomischen – Mechanismus zurückführen und dafür ziemlich viele sehr dezidierte programmatische Elemente dieser Parteien negieren. Es ist ja nicht so, weder bei der AfD noch bei den anderen Parteien, dass man erst in Fußnote 437 das Thema Rassismus finden würde oder dass man sehr lange suchen müsste, um zu verstehen, wie die AfD sich die ideale Familie vorstellt. Wir finden stattdessen radikal Flüchtlings-, einwanderungsfeindliche und teilweise auch rassistische Positionen im Kern des Programms und Umfragen zeigen, dass Wähler*innen auch genau dies sehen und wissen. Da frage ich mich, ob wir nicht in Hinblick auf die angesprochene geografische Varianz mehr gewinnen, wenn wir verschiedene dieser Faktoren in ihrem Zusammenspiel betrachten und nicht am Ende immer wieder sagen, dieses vermeintlich kulturalistische Moment (das damit immer auch als irgendwie »weich« ab gewertet wird) taugt nicht als Erklärungsfaktor gegenüber der »harten« Ökonomie.
Manow Ich habe versucht, deutlich zu machen, dass sobald es um eine politische Auseinandersetzung geht, sobald es Lagerbildung gibt oder eine Wir-Sie-Dynamik berührt wird, immer Distinktionsdynamiken existieren, selbst wenn sie nicht artikuliert werden. Ein Lega-Abgeordneter wird nicht einfach sagen, dass seine Partei die ökonomischen Interessen Norditaliens schützen will, sondern das wird immer mit kultureller Codierung einhergehen, die bis in die Kleidung reicht. Insofern bleibt auch das eine komplexe Abgrenzung. Sie, Frau van Dyk, haben es angedeutet: Die Anfänge des Rechtspopulismus in den Niederlanden bei Pim Fortuyn gingen, wenn ich das richtig erinnere, von einem schwulen Soziologieprofessor aus. Es gibt, soweit ich weiß, auch beim Rassemblement National eine relativ starke Homosexuellenfraktion, die sagt, wir fühlen uns von muslimischen Einwander*innen bedroht, wir sehen, dass sich irgendwas im öffentlichen Raum ändert. Da wird es dann sehr komplex. Man kann dazu sagen, das ist ein strategisches Vorschieben, um etwa antimuslimischen Rassismus, wie sie das genannt haben, auszubeuten. Vielleicht gibt es aber tatsächlich genuine Befürchtungen bestimmter Leute, die sich mobilisieren lassen. Nur bleibt es meines Erachtens dabei, dass der Erklärungsfaktor weiße Männlichkeit demgegenüber unterkomplex bleibt.
Roter Salon Dafür, wie die Linke auf den Aufstieg des Rechtspopulismus reagiert, ist es nicht unerheblich, wie man den Erfolg bzw. die Motivation hier in Deutschland AfD zu wählen, deutet, als Rassismus oder als Ausdruck einer gewissen ökonomischen Rationalität, sei sie berechtigt oder sei sie imaginiert. Handelt es sich um Rassismus, wäre diesem anders zu begegnen als ökonomischen Forderungen, die möglicherweise auf berechtigten Ansprüchen beruhen. Als eine Ursache für den Aufstieg des Rechtspopulismus wird dabei nicht selten das Schlagwort Identitätspolitik bemüht. Welchen Zusammenhang gibt es zwischen Identitätspolitik als linker Strategie und den Erfolgen des Rechtspopulismus?
Manow Da müsste man zwei Dinge versuchen auseinanderzuhalten. Es gibt natürlich das Argument, dass das eine ursächlich für das andere ist. Über Identitätspolitik seien die »echten« Anliegen, die ökonomische Bedrohung etc. in Vergessenheit geraten. Da wird ein kausaler Zusammenhang hergestellt. Die Aufspaltung der Gesellschaft in die verschiedenen Gruppenzugehörigkeiten hätte dazu geführt – das ist die These des Politologen Mark Lilla – , dass wir gar keine kollektiven Solidaritäten mehr entwickeln können. Einerseits, das geht noch mal zurück zu dem Argument von Cas Mudde, glaube ich schon, dass sich die traditionell sozialdemokratischen Parteien radikal gewandelt haben und es eine Art »Vermittelschichtisierung« der Sozialdemokratie gab und gibt. Das lässt sich sogar in den Wohlfahrtsstaatsreformen zeigen, die in den letzten Jahren von sozialdemokratischen Parteien vorgenommen wurden. Es ist relativ deutlich, dass dabei die Arbeiterklientel nicht mehr im Fokus steht.
Aber in dem Sinne war das polit-ökonomische Argument in meinem Buch gar nicht gemeint. Es ist eigentlich eher die Frage danach gewesen, was für Erklärungsangebote wir überhaupt haben. Das Erklärungsangebot über Rassismus und Sexismus läuft darauf hinaus, dass wir von Leuten mit falschen Einstellungen ausgehen müssen. Damit ist eigentlich auch die Debatte sofort zu Ende – denn was soll man da noch sagen? Dann geht es nur noch darum, die falschen Gedanken aus den Köpfen der Leute zu kriegen und dafür dann richtige dort hineinzutun. Das ist die identitätspolitische Kurzschlüssigkeit der deutschen Diskussion: Ich bin tolerant und der andere ist intolerant. Letztendlich ist das eine Erklärung à la »Das ist Pack« (Siegmar Gabriel), bei der man zurecht fragen kann, ob es überhaupt noch eine Debatte ist. Demgegenüber versuche ich zu sagen, dass das letztendlich analytisch wie politisch völlig in die Sackgasse führt. Wir müssen nach der ökonomisch begründeten geografischen Verteilung von Leuten mit »schlechten Gedanken«, also Wähler*innen populistischer Parteien, fragen. So war mein Argument gemeint, ob es einen ursächlichen Zusammenhang gibt. Als Erklärungsangebot für das, was wir sehen, ist Identitätspolitik völlig hilflos.
van Dyk Ich verteidige eigentlich nie Sigmar Gabriel, aber immer, wenn sein Pack-Ausspruch zitiert wird, sollte der Kontext der Situation auch benannt werden: Er hat ihn über Nazis gesagt, die einen Bus mit Geflüchteten angegriffen haben. Überraschend schnell gibt es hier einen Link von der Kritik rassistischer Einstellungen und Angriffe (!) zu »Ey, Pack!«, verbunden mit der Problematisierung, hier würden die Nazis klassistisch abgewertet. Dahinter steckt die – in der Debatte sehr dominante – Idee, dass Kritik an Rassismus und Sexismus eine Vorliebe Privilegierter sei. Das finden wir auch in der Gegenüberstellung von Kommunitarismus und Kosmopolitismus etwa beim Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel. Kommunitaristen würden nach Sicherheit, Verlässlichkeit und Heimat suchen und vermeintlich ressourcenstarke Kosmopoliten seien in der ganzen Welt zu Hause und würden das Lob für offene Grenzen mit einem Faible für den Neoliberalismus verbinden. Ganz abgesehen davon, dass letztere Kombination empirisch ziemlich selten ist, schwingt hier auch immer mit, dies seien postmaterialistische Werte, die man sich leisten können müsse, und die sowohl irgendwie zu exaltiert als auch überflüssig für die »normalen« Leute seien, die dagegen »wirkliche«, sogenannte alltägliche Probleme haben. Rassismus scheint nicht zu solchen Problemen zu gehören. Unterstellt wird dabei, Rassismus und Sexismus seien bloße Einstellungen, die sich nicht materialisieren und die sich angeblich gar nicht in gesellschaftliche Hierarchien einschreiben, also auch Klassenzugehörigkeit und soziale Schichtung strukturieren. Antirassistische und feministische Kämpfe der Vergangenheit erschöpften sich aber keineswegs in der Forderung nach Frauen in DAX-Vorständen oder in liberalen Multikulturalismusvorstellungen, sondern waren in ihren progressivsten Teilen immer auch Bewegungen für soziale Gerechtigkeit. Rassismus und Sexismus sind auf das engste verwoben mit der politischen Ökonomie und eben mehr als irgendwelche kulturellen Überbauphänomene, die wir als falsche Einstellungen nur diskursiv bearbeiten könnten.
Manow Wie erklären Sie dann den südeuropäischen Fall? Sie sprechen von Privilegien weißer Männlichkeit, von der tiefen Verankerung von Geschlechterverhältnissen in polit-ökonomischen Verhältnissen. Starke Anwendungsbeispiele wären doch gerade die Länder Südeuropas mit dem sogenannten Familieneinkommen, das vor allem Männer erwirtschaften, und starker Geschlechtersegregation auf dem Arbeitsmarkt, abhängig von dem einen wohlfahrtsstaatlich geschützten Familienmitglied, das am Arbeitsmarkt teilhat. Das sind doch die, die dann die größte Angst haben müssten – und das sind eben meist die Männer. Die wählen aber in Italien und Spanien linkspopulistisch und nicht rechtspopulistisch. Wie geht das zusammen?
van Dyk Nicht immer lässt sich aus jeder Einstellungskonfiguration sofort auf das Wahlverhalten schließen, das wissen wir aus diversen Untersuchungen. Es spielen viele Faktoren eine Rolle, warum Menschen sich am Ende für eine bestimmte Partei entscheiden. Ich behaupte ja gar nicht den Umkehrschluss, dass Menschen, die linkspopulistisch wählen, nicht auch konservative Geschlechtervorstellungen haben können. Zu hinterfragen wäre, unter welchen Bedingungen bestimmte Einstellungen politisch mobilisiert werden. Der Soziologe Didier Eribon hat das in seinem viel diskutierten Buch Rückkehr nach Reims sehr gut gezeigt, in dem er anhand seiner Familie beschreibt, wie aus ehemaligen kommunistischen Wähler*innen Front-National-Wähler*innen geworden sind. Anders als in der deutschsprachigen Debatte rezipiert, meint er gerade nicht, dass es sich dabei um eine Notwehr der unteren Schichten handelt und das deshalb nichts mit Rassismus zu tun hat, im Gegenteil. Die rassistischen Einstellungen seien evident, so Eribon, aber sie seien früher nicht wahlentscheidend gewesen und in der Organisation der Kommunistischen Partei aufgefangen und bearbeitet worden.
Warum können gesellschaftliche Konstellationen nicht gleichzeitig mit Rassismus und einer ökonomischen Rationalität erklärt werden? Warum wird das permanent als Gegensatz verhandelt? Und warum wird der Rassismus so häufig zu einem »uneigentlichen Phänomen« erklärt? Wir haben zum Beispiel im deutschsprachigen Raum die Analysen der Bielefelder Forscher*innen um den Soziologen Wilhelm Heitmeyer, die seit Jahren zeigen, dass bestimmte Konstellationen des neoliberalen Kapitalismus im Zusammenhang mit gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit stehen. Diese ist deshalb aber nicht weniger real und sie muss auch eigenständig bearbeitet und bekämpft werden, denn sie wird sich nicht automatisch mit veränderten sozialen und ökonomischen Sicherheiten auflösen.
Und was die aktuelle Debatte über Identitätspolitik betrifft, halte ich es für ein großes Problem, dass das eine Chiffre zur Diskreditierung von emanzipatorischen Politiken und Antidiskriminierungsbewegungen geworden ist. Wir können darüber gar nicht mehr differenziert diskutieren, weil der Identitäts-Pol total verfälscht und zu einer genuin separatistischen und elitären Politik umdefiniert wird. Natürlich gibt es solche Praktiken, aber diese Pauschalkritik geht am Kern der Sache vorbei. Ich möchte nur mal an die erinnern, die den Topos geprägt haben: Das war das Combahee River Collective in den siebziger Jahren in den Vereinigten Staaten, eine Gruppe schwarzer lesbischer Frauen, die damals gesagt haben, wir machen eine »Politik der ersten Person«, denn unsere Position ist weder in der schwarzen Bürgerrechtsbewegung noch in der Frauenbewegung präsent. Ihre Idee dahinter war gerade nicht separatistisch, sondern genuin universalistisch: »Wenn wir eintreten (in die gesellschaftliche Normalität), dann treten alle ein.« Es war ihre Überzeugung, dass alle Menschen akzeptiert werden, wenn auch sie als schwarze Lesben gleichberechtigt sind und als Bürger*innen akzeptiert werden. Es lässt sich heute darüber streiten, ob das stimmt. Aber mir ist es ein Anliegen, zu unterstreichen, dass diejenigen, denen heute Separatismus, Denken in Nebenwidersprüchen oder irgendwelche abgehobenen Artikulationen vorgeworfenen werden, Sozialist*innen waren und einen existenziellen Kampf dafür führten, als Gleiche anerkannt zu sein. Ich möchte dafür sensibilisieren, dass die Positionen solcher Kämpfe, die nicht partikularistisch sind, sondern Universalismus wirklich einfordern, diskreditiert werden.
Roter Salon Müsste die Linke nicht ihre Strategien in Bezug auf den Rechtspopulismus insofern ändern, dass sie von Forderungen wie etwa »Grenzen auf für alle« ein Stück weit zurücktritt und sich mehr einsetzt für ökonomische Forderungen wie die Stabilisierung des Systems sozialer Anwartschaften, sicherer Renten oder einer vernünftigen Arbeitslosenversicherung?
Manow Wenn es darauf eine einfache Antwort gäbe, dann hätten wir schon längst die Lösung. Erstmal würde man ja sagen, dass es völlig legitim ist, wenn Menschen in einer Demokratie ihre Privilegien verteidigen. Zum anderen bin ich noch nicht so ganz überzeugt, dass das, was wir täglich sehen, jetzt alles Privilegien der weißen Männer sind. Wenn wir den Zeithorizont ein bisschen länger ziehen und nochmal die fünfziger, sechziger und siebziger Jahre einbeziehen, als Periode, die von Populismus frei war, sehen wir: Es gibt Menschen, die sehnen sich danach zurück. Das kann man abschätzig für nostalgisch oder auch reaktionär halten. Aber ich glaube, was diese Zeit ausmachte, war ja doch so etwas wie Aufwärtsmobilität, das heißt, es gab eine Perspektive. Jetzt kann man sagen: Das war der männliche Facharbeiter. Klar, das hatte auch eine Geschlechterdimension, völlig unbestritten. Aber die Frage wäre, ob diese Dimension ganz essenziell für die Bearbeitung der manifesten Unzufriedenheit steht und tatsächlich ein Modell sein kann, um erneut eine Perspektive zu eröffnen. Das muss gar nicht im engeren Sinne eine für die einzelne Person sein, sondern viel ist ja auch über Familienmodelle vermittelt: Das Gefühl, die Gesellschaft ist – was soziale Aufwärtsmobilität angeht – nicht hermetisch geschlossen und es geht meinen Kindern vielleicht einmal besser. So etwas kann eine unheimlich starke integrative Wirkung entfalten. Die Frage, ob man jetzt eben diesen Leuten, die nicht notwendigerweise die gleichen kosmopolitischen Einstellungen haben wie man selbst, ob man denen jetzt wieder Aussicht auf eine gewisse Art von Prosperität, von gut bezahlten Jobs anbietet. Oder ob man sagt: Das gibt es nicht mehr, das ist die Realität des globalen Kapitalismus.
Ich denke, dass die Linke selbst gar nicht genau weiß, was im Moment links sein heißen könnte. Wir sehen einen ganz massiven Umbau des kapitalistischen Modells. Der Fordismus ist vorüber, die Zeit der neuen Informationstechnologien lässt sehr viel mehr soziale Ungleichheit zu. Die Bildungsschichten gewinnen, die, die keine Bildung haben, verlieren. Dass Letztere in dieses neue Wirtschaftsmodell hineinwachsen, dass sie eine Perspektive haben, das wird künftig die zentrale Herausforderung sein.
van Dyk Natürlich gibt es progressive und anschlussfähige Momente aus den wohlfahrtsstaatlichen Konstellationen der Nachkriegsjahrzehnte. Die gilt es aufzugreifen und sie weiterzudenken im Sinne einer Perspektive, die eben auch genau um ihre staatsbürgerliche Exklusivität, um ihre geschlechtsspezifischen Implikationen und auch um ihre ökologischen Problematiken weiß. Wir müssen uns immer vor Augen führen, dass die vergleichsweise hohe Prosperität und das hohe Sicherungsniveau mit ökonomischen Ausschlüssen, großer internationaler Ungleichheit und einem sehr engen Normenkorridor im Sinne von »Normalbiografie«, heterosexueller »Normalfamilie « und dem, mehrheitlich autochthonen Männern vorbehaltenen, »Normalarbeitsverhältnis« einhergingen. Die Welt war insgesamt nie ungleicher als in den siebziger Jahren. Das war ein Wohlstand, der eine Hinterbühne hatte, von der er zehrte, und zwar eine sehr große.