Die Verschwörungsideolog*innen spinnen ein dichtes Netz aus Reichsbürgertum, Antisemitismus und völkischer Gemeinschaftsfantasie, in der Antiziganismus als rassistisches Medium von Krisenbewältigung bisher keine relevante Rolle gespielt hat. Die Art und Weise wie die etablierte Politik auf die durch Corona eklatant deutlich werdende Hygienekatastrophe in der Fleischindustrie reagiert und die rumänischen, oftmals der Minderheit der Rom:nija angehörenden Billiglöhner*innen als Schuldige verdammt, forciert antiziganistische Stereotypik als Erklärungsansatz – wenn auch nicht zur Entstehung, so doch zur Verbreitung des Coronavirus.
Auch wenn »Südosteuropäer«, »Bulgaren und Rumänen« und »Sinti und Roma« nicht zwangsläufig dieser Assoziation unterliegen, zeigen sich besonders im Ruhrgebiet die Begriffe als synonym zum »Zigeuner«-Stereotyp. Die rassistische Zuschreibung von Erscheinungsformen und Verhaltensweisen sowie die Verbindung von Müll und Krankheitsmetaphorik entspricht im Duktus von Politik und Behörden einer »Verpestung« des bürgerlichen Stadtbilds. Erst kürzlich hatte die AfD-Landtagsfraktion NRW offiziell auf ihrem Youtube-Kanal von »Probleme[n] mit Zuwanderern aus Südosteuropa, es heißt immer Bulgaren, Rumänen, man kann auch deutlich sagen, es sind Roma, es sind Zigeuner« berichtet. »Sprachliche Nebelkerzen wie ›Südosteuropäer‹ oder ›bulgarische und rumänische Staatsangehörige‹« seien keine adäquate Beschreibung. Zit. n. https://bit.ly/3EpWaJ3.
Diejenigen, die ihre Heimat verlassen, müssen »Zigeuner« sein, sonst – so das tautologische, an das Stereotyp der Nicht-Sesshaftigkeit und des Herumziehens angelehnte Argument – würden sie ihre Heimat nicht verlassen. Ob die Stigmatisierten sich selbst als Teil der Minderheit identifizieren, wird mit der generalisierenden Inszenierung als »südosteuropäisch« irrelevant, denn die Linie der Argumentation ist deutlich. Wo etwa in Ungarn »Zigeuner« seitens der Dominanzgesellschaft synonym zu »Roma« gebraucht wird, ist in Teilen der deutschen Gesellschaft »Rumänen und Bulgaren« zur antiziganistischen Chiffre geworden. Das berüchtigte Zitat des Duisburger Oberbürgermeisters, er würde »das Doppelte an Syrern« nehmen, wenn er »dafür ein paar Osteuropäer abgeben könnte«, schlägt in diese Kerbe, da kollektiv das Stigma der »osteuropäischen Integrationsbremse« angeheftet wird. Sie seien nicht nur unintegrierbar, sondern verhinderten systematisch die Integration anderer durch ihre vermeintlich unbürgerliche Lebensweise.
So falsch es ist, findet sich hier doch ein Körnchen verdrehter Wahrheit. Die gewaltsame Verfolgung von Rom:nija im Südosten Europas, die zum ideologischen Kern der dortigen Faschist* innen und Rechtskonservativen gehört und auch vor dem Appell zur Tötung »dieser Tiere« nicht zurückschreckt, Wolfgang Wippermann, Niemand ist ein Zigeuner. Zur Ächtung eines europäischen Vorurteils, Hamburg 2015, 110-127. forciert eine Flucht der Verfolgten. Die gesellschaftlichen Bedingungen der Migration bleiben verschleiert, Migration aus Osteuropa wird rassistisch-stereotyp als gemeinschafts- und kulturfremde »Armutsmigration« und »Sozialtourismus«, letztlich »Zigeunermigration«, inszeniert und ein ordnungsgefährdendes Bedrohungsszenario entworfen. Joachim Kraus, Der Zukunft abgewandt. Duisburger Wege der Desintegration, in: Katharina Peters/Stefan Vennmann (Hrsg.), Nichts gelernt?! Konstruktion und Kontinuität des Antiziganismus, Duisburg 2020, 70f.
Die Corona-Pandemie führt zu einer Verschärfung antiziganistischer Stereotypik in zweifacher Hinsicht, einer direkten in den Herkunftsländern und einer eher indirekten in Deutschland. Die Pandemie zwingt viele Osteuropäer*innen aus Perspektivlosigkeit zur Rückkehr in ihre Herkunftsländer. An Rom:nija werden öffentlichkeitswirksam Corona-Tests durchgeführt, die nicht der Sicherheit und Gesundheit wirklich Erkrankter gelten, sondern zur Verschärfung der Stigmatisierung führen. Vgl. https://bit.ly/3lGgyNc. Während viele osteuropäische Regierungen durch Überwachung, Kasernierung und Isolation »ihre« Bevölkerungen schützen und gleichzeitig hygienische Unterstützung für Rom:nija verweigern, lenken die Hygienekatastrophen in der deutschen Fleischindustrie die Aufmerksamkeit nicht nur auf Arbeitsbedingungen und Ausbeutungsverhältnisse, sondern stoßen auch eine Suche nach den Schuldigen für die Verbreitung des Virus an.
Pandemiebedingte Differenzierungen
Die Krankheit benötigt in der antisemitischen Verschwörungsideologie nicht nur den abstrakten Konstrukteur und Profiteuer des Virus, sondern auch einen konkreten Körper als Träger, Verbreiter und Sündenbock. Anders als in Osteuropa richtet sich der Volkszorn noch nicht konkret auf Rom:nja, sondern auf fadenziehende Hintermänner und deren politische Exekutoren in Regierung und Medien. Dennoch finden sich für die Verbreitung des Virus immer wieder Erklärungsversuche mit antiziganistischem Zuschnitt. Bar jeder Grundlage werden alle, die sich auch nur irgendwie in das »Zigeuner«-Stereotyp pressen lassen, mit institutionellen Exklusionsmaßnahmen und geistiger Brandstiftung zum unhygienischen Außen der sterilen, geordneten bürgerlichen Gesellschaft stilisiert.
Franz L. Neumann hat in seiner Analyse des psychopathologischen Verschwörungsdenkens die Rolle des Sündenbocks als Projektion gesellschaftlicher Krisen deutlich hervorgehoben. Diese beinhaltet die Möglichkeit, das »Unglück bestimmten Personen zu[zuschreiben], die durch eine Verschwörung gegen die Massen das Unglück in die Welt gebracht haben« Franz L. Neumann, Demokratischer und autoritärer Staat. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt a.M./Wien 1954, 270.. Die Phantasie der Ausrottung dieses Sündenbocks, ob bewusst oder unbewusst, suggeriert die scheinbare Linderung des gesellschaftlichen Leidens, das unter einschränkenden Bedingungen der Corona-Maßnahmen besonders deutlich wird.
Die Hoffnung auf die Erlösung von Leid ist auch in die antiziganismussensitive Interpretation der Dialektik der Aufklärung eingegangen, deren Prägnanz Adorno und Horkheimer in der »Ächtung von Schauspielern und Zigeunern [...] [als] Bedingung der Zivilisation« Theodor W. Adorno/Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a.M. 1989, 190. explizieren. Während es Adorno und Horkheimer hier allerdings um die Darstellung der historischen und psychologischen Elemente einer Theorie des modernen Antisemitismus geht, ist die Formulierung »durchaus im Einklang mit zeitgenössischen Theorien zu Antiziganismus [interpretiert worden], die durchweg hervorheben, die Stigmatisierung von Menschen als ›Zigeuner‹ diene der Aufwertung der eigenen bürgerlichen Lebensweise, indem antibürgerliches Verhalten auf vermeintlich Andere projiziert und abgewertet wird« Markus End, Die Dialektik der Aufklärung als Antiziganismuskritik. Thesen zu einer Kritischen Theorie des Antiziganismus, in: Katharina Peters/Stefan Vennmann (Hrsg.), Nichts gelernt? Konstruktion und Kontinuität des Antiziganismus, Duisburg 2020, 96-121, 104.. Wenn auch ideologische Überschneidungen von Antisemitismus und Antiziganismus umfassend rekonstruiert wurden, scheint es notwendige Differenzierungen zu geben, deren theoretischer Schliff erst in Momenten hygienepolitischer Krisenerscheinungen erfolgen kann.
Das unhygienische Außen als »wirklicher Feind«
Maßgeblich vermittelt über den Begriff der Arbeit als Konstitutionsbedingung moderner, bürgerlicher Subjektivität, werden »Juden« und »Zigeuner« als von der Norm abweichende »Gegenrassen« zur homogenen, politischen Gemeinschaft imaginiert: die einen als global organisierte und anonyme Börsen- und Aktienspekulanten, die anderen als arbeitsscheue, schmutzige und vorzivilisierte Rudimente des Naturzustandes. Beiden ist gemein, dass ihre Arbeit nicht der Lohnarbeit als Integrationsmedium innerhalb der Strukturen des Kapitals entspricht, sondern sie je spezifisch von der Arbeit anderer profitieren – durch Geld- und Finanzwirtschaft auf der einen, durch Betteln und Diebstahl auf der anderen Seite als zwei Formen eines parasitären »Raffens des Kapitals«. Erstere ist dabei in der Imagination unbeherrschbar, übermächtig und abstrakt, Zweitere schafft die Gefahr einer Zersetzung der Ordnung durch Kriminalität und Täuschung. Dem Stereotyp des »Zigeuners« bleibt die moderne Lohnarbeit fremd, er ist der Exponent einer archaischen, naturnahen, nicht sesshaften und längst abgeschüttelten sozialen Stufe. In der rassistischen Vorstellung ist er zum bürgerlichen Leben ebenso unfähig wie unwillig, bleibt aber auch im Stande seiner »unbürgerlichen Freiheit« scheinbar von den Zwängen der Lohnarbeit unberührt und zieht so den projektiven Hass der Lohnabhängen auf sich. Vgl., ebd., 107f.
Der Zugriff der kapitalistischen Herrschaft auf die fremd erscheinende »Un-Arbeit« wirkt fragil, denn die moderne, perfekte Organisation des Kapitalismus hat ein archaisches Außen der zwanghaften Lohnarbeit nicht völlig durch Repression zerstören können. Sie gerät immer wieder an Grenzen, die es ihr verunmöglichen, die Geister des Naturzustands zu exorzieren. Die Fortexistenz eines vorzivilisatorisch gedachten Außen markiert die Grenzen des hermetisch abgeriegelten Blocks der bürgerlichen Gesellschaft und suggeriert die Möglichkeit eines anderen Lebens abseits kapitalistischer Normalität. Dass es anders sein kann als es ist – selbst wenn dieses unbestimmte Andere auch nur Imagination ist – versetzt nicht nur die von der kapitalistischen Unterwerfung zugerichteten Einzelnen in neurotische Angst vor der gesellschaftlichen Destabilisierung. Vielmehr wirkt das vermeintliche, in der »Zigeuner«-Stereotypik angelegte Nachleben des Archaischen als Vorbote einer Erosion der Ordnung. Ein innerer wie äußerer Konflikt und ein Schwanken der psychischen wie gesellschaftlichen Stabilität leiten die moderne Subjektivität an, gegen ihre »parasitären Gegenbilder« aufzubegehren. Franz Maciejewski, Elemente des Antiziganismus, in: Jacqueline Giere (Hrsg.), Die gesellschaftliche Konstruktion des Zigeuners. Zur Genese eines Vorurteils, Frankfurt a.M./New York 1996, 9-28, 17. »Dieser Mechanismus lässt sich als negativ gewendete Wunschvorstellung bezeichnen, negativ im Sinne eines sich auf ›die Anderen‹ manifestierenden Selbsthasses [...]. Was man nicht haben kann, soll auch kein anderer haben. Der Gedanke an Glück muss ausgetrieben werden.« Holger Schatz/Andrea Woeldike, Freiheit und Wahn deutscher Arbeit. Zur historischen Aktualität einer folgenreichen antisemitischen Projektion, Münster 2002, 123.
Die als »Zigeuner« Stigmatisierten bieten als vermeintliche Bedrohung der Ordnung eine hervorragende Möglichkeit zur Projektion gesellschaftlicher Verhältnisse auf konkrete und schwache Sündenböcke, die auch in den europäischen Gesellschaften der Gegenwart eine wirkliche Funktion erfüllen. Dies illustriert, so falsch sie auch sein mag, Carl Schmitts Differenzierung in »absoluten« und »wirklichen Feind« und verdeutlicht die Relevanz des Antiziganismus in Krisensituationen, die die immanente Krise des Kapitalismus noch potenzieren.
Schmitts Differenzierung in Freund und Feind im Begriff des Politischen intendiert eine völkisch begründete gesellschaftliche Homogenitätsvorstellung, die nicht nur mit Kampfmetaphorik umschrieben wird, sondern den wirklichen Kampf gegen den Feind fordert. Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, Berlin 1932, 48. Schmitt betrachtet den Feind in zwei Facetten, als absoluten und wirklichen Feind. Während Ersterer kaum identifizierbar ist und erst entlarvt werden muss, um überhaupt als Feind wirklich bekämpfbar zu sein, ist Letzterer sehr konkret und fällt innerhalb einer nach Homogenität strebenden Gemeinschaft unmittelbar durch typisierte Äußerlichkeiten wie Kleidung, Hautfarbe, vermeintliche Gerüche und durch Verhalten ins Auge, das als asozial, kriminell und gesetzwidrig stilisiert wird. Bei Schmitt fallen wirklicher und absoluter Feind in der Gestalt »des Juden« zusammen, die im Nationalsozialismus sowohl als »Weltverschwörer« und »Volkszersetzer« betrachtet wurde, gleichzeitig aber auch im Deutschland des frühen zwanzigsten Jahrhunderts in konkreten Sphären des gesellschaftlichen Lebens erkennbar war
Während der absolute Feind der Corona-Leugner*innen kryptisch seine Personalisierung im imaginierten »Juden« findet, beginnt sich auch Widerstand gegen die wirklichen Feinde zu regen, deren Identifizierung seitens der Ideolog*innen noch nicht explizit erkannt worden ist. Damit besteht weiterhin die Gefahr, dass der »wirkliche Feind« zukünftig ausgemacht wird und sich die Potenziale dieser falschen Identifizierung in antiziganistischer und antisemitischer Gewalt entfesseln.
Verschwörungsideologie
Während in Osteuropa der durch institutionelle Politik betriebene »wirkliche« Kampf gegen den personifizierten Seuchenherd tobt, rufen die Organisationen der Betroffenen die internationale Gemeinschaft zur Verhinderung antiziganistischer Gewalt auf. Sie warnen vor dem Pogrom. In Deutschland versetzen die Großdemonstrationen die Verschwörungsideolog*innen noch in einen politischen Taumel, den Plan des monumentalen Menschenversuchs an der deutschen Bevölkerung aufgedeckt, den Sturz der Hygienediktatur vorbereitet und sich den totalitären Mechanismen sozialer Kontrolle durch »Ermächtigungsgesetze 2.0« entgegengestellt zu haben.
Der Antisemitismus, der die Ideologie der Corona-Leugner*innen zusammenhält und sich im Pakt mit nationalistischen Splitterparteien und reaktionären Bewegungen komplettiert, bildet die Grundlage einer gesellschaftlichen Akzeptanz gewaltvoller Exzesse. Der Anschlag auf die Synagoge in Halle, das Massaker in Christchurch sowie die Wahnvorstellungen bluttrinkender Dämonen durch Q-Anon-Anhänger*innen, die alle im Geiste der Wahnvorstellung eines »Großen Austausches« und einer »jüdischen Weltverschwörung« zu verstehen sind, bezeugen diese Tendenz. Der Angriff auf Jüdinnen und Juden wird also auch als Angriff auf den abstrakten, absoluten Feind der jüdischen Weltverschwörung wirklich.
Dass auch die Erklärung der als »Zigeuner« Stigmatisierten zum wirklichen Feind erfolgen kann, die Verschwörungsideolog*innen dieses Ventil bloß noch nicht entdeckt haben, ist wohl euphemistisch als Glück zu bezeichnen. Auf jahrhundertealter Stereotypik beruhend, trägt die institutionalisierte Politik aber immer wieder dazu bei, mittels rassistischer Handlungen, Entscheidungen und Behauptung ein Erkennen eines wirklichen Feinds zu gewährleisten, der keines Schutzes würdig zu sein scheint. Dass rassistische Politik den Schulterschluss mit rechten Gewaltäter* innen vielleicht nicht explizit sucht, sie aber doch gewähren lässt, und der Schutz von Rom:nija vor Pogromen nicht prinzipiell eine Angelegenheit der Politik ist, zeigt Rostock Lichtenhagen in aller erschreckenden Deutlichkeit.
Wenn die Gründe für die Verbreitung des Virus bei den Sinti:zze und Roma:nja gesucht werden, die etablierte Politik zur öffentlichen Verbreitung solcher Lügen unbedacht oder intendiert beiträgt und rassistische Stereotype in der bürgerlichen Mitte zunehmend akzeptiert werden, da die »Südosteuropäer« die gesellschaftliche Ordnung bedrohen, nimmt auch die Akzeptanz für Gewalt zu. Wenn nun einmal die gewaltbereiten Verschwörungsideolog* innen einen wirklichen Feind vorgesetzt bekommen, von dem kaum Gegenwehr zu erwarten ist, da es ihm an politischem Schutz fehlt, schmiedet sich ein eisernes Band nationaler Einheit, bestehend aus staatlichen Behörden, der bürgerlichen Mitte und Ideolog*innen der »Coronalüge«, die nichts so sehr wollen wie Ordnung und Sicherheit. Es ergibt sich die Möglichkeit, die Krankheit einzudämmen, indem gegen ihre Personifikation vorgegangen und dem osteuropäischen Ansatz der rassistischen Kasernierung gefolgt wird. Während der offene Antisemitismus und der Wahn einer globalen Verschwörung gegen das deutsche Volk bei Bürger*innen und Politik deutlich auf Ablehnung stößt, bietet der Antiziganismus das Motiv eines, wenn auch ungewollten, ideologischen Bündnisses bürgerlicher Stabilitäts- und völkischer Homogenitätsvorstellungen. Die Konstruktion der Nation gegen die »Zigeuner«.
Das antiziganistische Stigma fehlender Hygiene, zügellosen Umherziehens und das damit zusammenhängende Stereotyp einer Übertragung von Krankheiten begründen die pandemische Analogie zur Schmitt’schen Methode: Die gesellschaftliche Homogenität herzustellen, den Kampf gegen den absoluten, abstrakten Feind zu führen, kann über den Umweg des Kampfes gegen einen wirklichen Feind in erreichbare Nähe gerückt werden. Die Befriedung des inneren Zustandes durch die Ausschaltung des wirklichen Feindes ist Möglichkeit und Bedingung des Aufbegehrens gegen den absoluten Feind. Vgl. Carl Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes, Berlin 1983, 89.
Diese Ausschaltung schließt dabei nicht nur das Pogrom durch stadtbekannte Neonazis und »besorgte Bürger«, sondern auch einen rassistisch aufgeladenen »Kampf gegen die Armut« durch politische Institutionen ein, die unter vorgeschobenen Argumenten bundesweit Rom:nija zum Opfer systematischer Ausgrenzung durch städtische Behörden macht. Die Stadt Duisburg ist dabei seit Jahren immer wieder in den Schlagzeilen. Die Pogromstimmung in der Bevölkerung gegen das ehemalige »Problemhaus« Zakaria Rahmani, Zwischen Stigmatisierung und Ausgrenzung. Die lokale Berichterstattung über die südosteuropäische Zuwanderung nach Duisburg, in: Ulrich Steuten (Hrsg.), Für immer »Zigeuner«. Zur Kontinuität des Antiziganismus in Deutschland, Duisburg 2017, 114-127, 123. sowie die Vertreibungspolitik seitens städtischer Institutionen funktionierten dabei immer auch über das Schüren der Angst vor Ansteckung mit Krankheit und Seuche durch »Rumänen und Bulgaren« oder »Sinti und Roma«. Ein Versuch hygienepolitischer Krisenbewältigung durch die Befeuerung antiziganistischer Stereotype.
Die Staatsmacht antwortet auf die Krankheit mit Internierung, wie es der Fall des Göttinger »Corona-Hochhauses« an der Groner Landstraße 9 im Sommer 2020 deutlich machte. Hier wurden zur Virusprävention neben Drogennutzer*innen und Prekarisierten insbesondere viele rumänische Familien auf engstem Raum mit Bauzäunen von der Außenwelt abgeschottet, von Polizei, Ordnungsamt und privaten Sicherheitsdiensten überwacht und in eine Situation hygienischer Katastrophe gezwungen. Die rassistische und stereotypenreproduzierende Berichterstattung und das gewaltsame, nach Aussagen der Polizei »absolut gerechtfertigte Vorgehen« mit Pfefferspray und Schlagstock verhärtete die Situation. Auf die mit Seuche identisch Erklärten, ob wirklich von der Erkrankung betroffen oder nicht, antwortet die Ordnung mit Gewalt, die sich weit über die Grenzen offizieller Medien und politischer Gremien ausbreitet. Die rassistische Berichterstattung appelliert an tradierte Ideologien der Ungleichheit innerhalb der Mehrheitsgesellschaft, die das Virus reflexhaft und ohne jeden Hinweis auf einen erneuten Ausbruch personalisiert und ethnisiert – Wasser auf die Mühlen derjenigen, die den absoluten Feind im Hintergrund zur Strecke bringen wollen. Die »Bekämpfung des Zigeunerunwesens« wurde historisch – weit vor, während und nach dem Nationalsozialismus – auch immer als Kampf gegen eine größere, drohende Verschwörung finsterer Mächte benutzt. Ein ordnungspolitischer Zugriff, der so alt ist wie der Antiziganismus selbst.
Vom »erfarer, usspeer und verkundschafter« zum »Subjekt der Seuche«
Im ausgehenden 15. Jahrhundert wurden Sinti und Roma stigmatisiert und zu Kollaborateuren, zu »erfarer, usspeer und verkundschafter« des expansiven Osmanischen Reiches erklärt und als Vogelfreie buchstäblich zum Abschuss freigegeben. Wenn auch alles gegen solche Spionagevorwürfe sprach, überlebt die Stereotypie die Jahrhunderte Wolfgang Wippermann, Rassenwahn und Teufelsglaube, Berlin 2005, 91. und kommt in der gegenwärtigen hygienepolitischen Krise in anderer Gestalt zurück, die den Verschwörungsideolog*innen in die Hände spielt.
Nordrheinwestfalens Ministerpräsident Armin Laschet hat dies mit Bezug auf die Coronafälle in der hygienischen Hölle der deutschen Fleischindustrie mit allen Mitteln der geistigen Brandstiftung treffend illustriert. Denn der Ausbruch des Virus habe, so Laschet, weder etwas mit den politisch beschlossenen Lockerungen noch mit der sklavenähnlichen Ausbeutung rumänischer und bulgarischer Arbeitskräfte zu tun, die in Baracken unter höchster Gefährdung ihrer Gesundheit zu inakzeptablen Bedingungen des Lohndumpings zusammengepfercht werden.
Die doppelte Exklusionslogik könnte deutlicher nicht sein. Sind »die Rumänen und Bulgaren« doch als Handlager der Deutschen gut genug, solange sie sich um die kaum wertgeschätzte und schlecht entlohnte Arbeit auf den Spargelfeldern und in den Schlachthöfen kümmern und das Schweinemedaillon, angerichtet mit billigem Spargel, auf die Teller des deutschen Mittelstandes katapultieren, sind sie gleichzeitig als verkörpertes Prinzip des Pandemie-Sündenbocks ein gefundenes Fressen. Denn ihre Einreise aus Südosteuropa – »und da kommt der Virus her«, wie Laschet verkündet – schlägt sowohl Spekulation als auch wissenschaftliche Analyse über die Herkunft des Virus mit den Waffen der Ethnisierung virologischer Phänomene. Weder die katastrophalen Arbeits- und Hygienebedingungen, die die Billigarbeitskräfte aus dem Ausland zu akzeptieren gezwungen sind, noch die Tatsache, dass die Pandemie nicht vor rassistisch gezogenen Grenzen vermeintlicher Ethnizität Halt macht, sind Kern des Problems. Das Übel kommt einzig aus dem Ausland, gebracht von »Seuchenträgern«, die, ohnehin schon mit entsprechender Krankheitsmetaphorik stigmatisiert, zum wirklichen Problem erklärt werden.
Die Stilisierung der Pandemie als vermeintliche Verschwörung einer globalen Elite gegen die »gute Ordnung« territorial und kulturell eingehegter Völker kann zur »entscheidende[n] politischen Waffe« Neumann, Demokratischer und autoritärer Staat, 277. in der Hand des Volkes gegen diejenigen werden, die die Krankheit erst dem gesunden Volkskörper einpflanzen. Wenn auch die digitale Macht, mit der das Virus vermeintlich transportiert und injiziert wird, im Fokus der Verschwörungsideologie steht, COVID-19 also ein massenvernichtender Biokampfstoff wahlweise aus den Waffenschmieden der Bill & Melinda Gates Foundation, der nach globaler Hegemonie strebenden Volksrepublik China oder der internationalen, zionistischen Verschwörung ist, wird der mit Stereotypen gepflasterte Weg zu einem konkret auszumachenden »Subjekt der Seuche« kaum mehr schwer zu begehen sein.
Selbst in den Augen derer, die COVID-19 in seiner pandemischen Realität leugnen oder verharmlosen, manifestiert sich der wirkliche Feind als Diener der »Globalisten« und als »wirklicher Brunnenvergifter«, der vom absoluten Feind als Kanonenfutter ihres gigantischen Sozialexperiments benutzt wird. Die Kombination aus einer politisch und medial stabilisierten Hetze gegen die menschlichen Behälter der Krankheit nährt das antisemitische Narrativ des »Großen Austausches« in seiner Corona-Variante: Die Globalisten forcieren nicht mehr »nur« die Migration, um die westeuropäischen »Ethnokulturen« zu ersetzen, sondern gestalten ihren Plan der totalen Herrschaft noch perfider, um die völkische Ordnung mit einem biologischen Kampfstoff, eingeschleust über menschliche Träger, zu zersetzen.
Galten sie im Mittelalter als Vorboten einer geopolitischen Gefahr, so ist innerhalb des verschwörungsideologischen Kontextes nicht von der Hand zu weisen, dass heute die modernen, mit Krankheits- und Seuchenmetaphern stigmatisierten »Zigeuner« als Schachfiguren der »Globalisten« zu betrachten sind. Dass die angeblichen Vertreter *innen dieser Elite zu Vampiren umgedeutet werden, die in unterirdischen Folterkomplexen das Blut entführter Kinder keltern, um Adrenochrom als Mittel ewiger Jugend zu fördern, ist ebenso phantastisch wie wahnhaft und gefährlich. Ganz der literarischen Vorlage aus Bram Stokers Dracula entsprechend, in der die »Zigeuner« dem Vampir dienen und die Expansion seiner Schreckensherrschaft nach Europa vorbereiten, wird hier der Mythos der Kindesentführung und des Ritualmordes zur ideologischen Verbindung von Rassenwahn und Teufelsglaube und zeigt die Korrelation antisemitischer und antiziganistischer Vernichtungsphantasien.
Stefan Vennmann
Der Autor ist Stipendiat der Hans-Böckler-Stiftung und promoviert zur kritischen Theorie kollektiver Schuld an der Universität Duisburg-Essen.