Eine Bruchlinie bezeichnet in der Geologie die Linie einer Verwerfung im Gestein, also den Spalt des Auseinanderbrechens. In der Realität ist dieser Spalt oft von Erdschichten und Bewuchs verdeckt und wird erst durch die Draufsicht mit Satelliten erkennbar.
Eine solche Draufsicht auf den Riss, allerdings quer durch Gesellschaft und staatliche Organisationen in Deutschland, zeichnen die Autorinnen Paula Bullig und Anne König in ihrer Graphic Novel Bruchlinien – Drei Episoden zum NSU nach. Das Kürzel NSU ist längst Synonym für staatliches Versagen im Umgang mit rechtem Terror geworden, die Namen der bisher bekannten Akteur*innen des Nationalsozialistischen Untergrunds im kollektiven Gedächtnis verankert. Das im Leipziger Spector Books Verlag erschienene Buch erzählt jedoch nicht oder nur implizit von ihnen. Vielmehr zeigen die beiden Autorinnen durch eine sorgfältige Auswahl dreier wenig beachteter, weiblicher Perspektiven, wie viel größer der Komplex ist.
Vor dem Hintergrund, dass das Protokoll des NSU-Prozess in mehreren dicken Wälzern herausgegeben wurde und angesichts des Umfangs des staatlichen Versagens in ebenjenem Prozess, ist das großformatige Buch erstaunlich schmal und leicht. Bei der Lektüre wird klar, dass der herausgelöste Charakter der Erzählungen einer Wahrheit über ihren Gegenstand entspricht: Es wird sich nicht mit Puzzleteilen statt einer umfassenden Erzählung begnügt. Vielmehr sind Puzzleteile, immer weitere Puzzleteile, das was hervorkommt, wenn man unermüdlich an der Thematik von strukturellem Rassismus schürft. Die drei Episoden sind drei neue solche Teile. In ihnen geht es um jeweils eine Frau: Die NSU-Unterstützerin Susann Eminger, eine Verfassungsschutz-Mitarbeiterin unter dem Decknamen Sibylle und Gamze Kubsaik, Tochter einer der Ermordeten. Die fiktionalisierten Geschichten sind intim und bruchstückhaft, basieren allerdings auf einer gut recherchierten Faktenbasis. Im Anschluss finden sich verschiedene Gespräche mit Angehörigen, Jurist*innen und Journalist*innen, welche die vorausgegangene Beschäftigung, sowie die Beharrlichkeit der beiden Autorinnen dokumentieren. Tatsächlich machen diese Gespräche den weit größeren Teil der Komposition des Buches aus, das streng genommen keine reine Graphic Novel ist.
Die Zusammensetzung aus Graphic Novel und Interviews hätte leicht schief gehen können. Die Gefahr, die Aussagen der zu Wort Kommenden in Bildgeschichten zu verkitschen und zu verfälschen, ist groß. Ebenso die Gefahr in den Verdacht zu geraten, die Zeichnungen als Kunstform allzu zweckmäßig in den Dienst der politischen Message zu stellen. Vor dieser Herausforderung steht die Zeichnerin Paula Bullig jedoch nicht zum ersten Mal; vor Bruchlinien hat sie bereits in anderen Veröffentlichungen aktuelle politische Fragen gestalterisch behandelt. Für ihr Graphic-Novel-Debüt Land der Frühaufsteher, das von Geflüchteten in Sachsen-Anhalt handelt, erhielt sie viel Lob von Kritiker*innen – und fällt mit der neuen Arbeit nicht dahinter zurück.
Stilistisch überzeugt auch Bruchlinien. Nicht nur erzählerisch sind die Episoden knapp gehalten, auch graphisch wurde alles auf das Wesentliche reduziert. Die flüchtigen Linien, schwarz auf weiß, werden in jeder Episode um eine gedeckte Farbe ergänzt, mit welcher an manchen Stellen ausgemalt und an anderen hervorgehoben wird. Es entsteht ein eigenständiger Stil, der sich weder vor den Inhalt drängt, noch bloßes Mittel bleibt. Während die Gespräche ausführlich sind und selbst für diejenigen, die sich mit rechtem Terror in Deutschland beschäftigt haben, neue Aspekte bereithalten, fordert der gezeichnete Teil die Leserin gerade durch Reduktion. Jedes Detail tritt dabei hervor: Von den ausdrucksstarken Gesichtern in der Episode der Tochter des Mordopfers bis zu den blanken Masken in der der Verfassungsschutzmitarbeiterin. Einige Seiten am Anfang bestehen beinahe nur aus schwarz schraffierten Kästen. Obwohl die Autorinnen in den Gesprächen interessanten Personen mit thematisch relevanten Perspektiven kluge Fragen stellen, bleibt der künstlerische Teil mit seinen mutig zur freien Assoziation einladenden Auslassungen das klare Highlight des Buchs.
Nach knapp hundert Seiten vernachlässigter Aspekte und Einblicke wird die Leserin weniger mit dem Gefühl zurück gelassen, Antworten bekommen zu haben, als mit neuen Fragen. Das liegt in der Thematik begründet, schließlich scheint es allen Beteiligten mit jedem neuen Puzzlestück in der Aufarbeitung genauso zu gehen. Bullig und König ist es gelungen, in ihrem Buch tatsächlich zu tun, was der Titel suggeriert: Wo vorher unbeachtete Bruchlinien aufgezeigt werden, steht am Ende keine Versöhnung, sondern der bloßgelegte Bruch. Geschickt zeichnet Bullig im letzten Bild Aktivist*innen ein Transparent in die Hände, mit den zum Kampagnentitel gewordenen Worten »Kein Schlussstrich«.
Anneke Schmidt
Anne König, Paula Bulling: Bruchlinien – Drei Episoden zum NSU, Spector Books, Leipzig 2019, 96 S., € 24,00.