Demokratischer Antifaschismus

Überlegungen zu Wahrheit, Freiheit und der Frage, warum die Ohnmacht des Liberalismus immer noch seine Feinde anzieht

Ende des Jahres 2019 war ich das erste Mal mit offensichtlich regressiven Positionen auf einem wissenschaftlichen Podium konfrontiert: Eine Bochumer Philosophieprofessorin sprach auf einer Tagung zur Emotionalisierung des Politischen über ein Schuldgefängnis und die hemmenden Auswirkungen politischer Korrektheit. Es ginge ihr um kritische Anregungen, verteidigte sie sich, und das Auditorium nahm diese Selbstverharmlosung dankend auf. Aber bereits zwei Tage später war aus dem Beitrag der Professorin auf einer weiteren Veranstaltung zum »kritischen« Dialog über Wissenschaftsfreiheit das Wettern gegen die Tyrannei der Werte geworden. Ihren Vortrag betitelte sie mit diesem einschlägigen Carl-Schmitt-Zitat, das auch ihrem Kollegen Dieter Schönecker gefallen haben müsste. Dieser ging auf der gleichen Tagung »gegen die linke Logophobie« an, womit er wahrscheinlich meinte, dass die Universität Siegen ihm seine Diskussionen mit dem AfD-Intellektuellen Marc Jongen und dem Sozialdarwinisten Thilo Sarrazin nicht finanzieren wollte. 

Noch zu Beginn desselben Jahres war ich auf einer Konferenz, die, wie von den Veranstaltern im Vorfeld gewarnt, von der Identitären Bewegung »infiltriert« wurde. Wie sich herausstellte, war es das Anliegen der IB mit Nachfragen aus dem Publikum, bisweilen gespickt mit Adorno-Zitaten und dem Jargon der jeweiligen Vorträge angeglichen, die Grenzen des Sagbaren bis hin zur Holocaustrelativierung zu verschieben. Ich erinnere mich an meine Bestürzung über die Hilflosigkeit, mit der dem gewährt wurde. Man hielt die Situation einfach aus. Selbst tat ich aber auch nichts anderes, als im Nachgang zu unken, irgendwann säßen solche Positionen auf dem Podium, bis sie schließlich ihre eigenen Konferenzen haben würden. Es ging erstaunlich schnell. 

Ich bin nicht naiv genug, um über die Existenz und die Ausbreitung solcher Positionen wirklich empört zu sein. Aber ich hatte wohl insgeheim angenommen, es würde eine Art rote Linie geben, die nicht überschritten werden konnte. Einen Moment, an dem man Stopp sagt. Was ich mir genau darunter vorzustellen hatte, wusste ich nicht. Es war eher eine Wette darauf, dass irgendein demokratischer Konsens existiere, der sich mit meinem als selbstverständlich empfundenen Antifaschismus deckt. Vielleicht so, wie es mir in der Schule beigebracht wurde, als ich das erste Mal bewusst mit dem Nationalsozialismus konfrontiert war. Der NS wurde mir als das unvorstellbar Böse vermittelt. Die Fassungslosigkeit darüber, wie so etwas möglich gewesen sei, hatte aber nichts mit einem wirklichen Verständnis, sondern mehr mit dem eigenen Selbstverständnis zu tun. Zu dem derart Fremden, der Bedrohung von außen, konnte man eben die rote Linie erkennen. 

Anstelle einer entsprechenden Courage machte ich eine andere Erfahrung. Als ich mit meinen vermeintlich Gleichgesinnten über die Hilflosigkeit unter Demokrat*innen angesichts der rechten Provokation diskutierte, wurde schnell ich selbst zum Problem gemacht. Wo ich die Grenzziehung einforderte, entgegnete man mir, ich wolle doch bloß auf eine ideologische Linie einschwören und meine Ansichten anderen aufzwingen. Und sei ich damit nicht schon auf dem Niveau derjenigen, die ich kritisiere, wenn nicht gar noch schlimmer, wenn ich sie ernsthaft ausschließen wollen würde? Wo bliebe da die Freiheit? Wo das liberale commitment, das so Leuten wie mir ihre Verbohrtheit erst gestatte? Und so stand ich da mit den Leuten, von denen ich wusste, sie würden im Zweifelsfall eher mich angehen. Es gibt keinen demokratischen Antifaschismus.

 

Freiheit

Das vor Augen geführt zu bekommen ist nicht dasselbe, wie es auch erklären zu können. Denn etwas Wahres ist ja dran: Ohne diese Freiheit, mit der man sich brüstete, würde es auch meine Vorstellung nicht geben, man müsse doch alle Verhältnisse verhindern, in denen der Mensch ein geknechtetes Wesen ist und so weiter. Resigniert sammelte ich also ein wenig Lektüre zusammen, die mir mit diesem Problem helfen würde. Ich erinnerte mich an Max Horkheimers Charakterisierung der liberalen Gesellschaft in seiner Kritik der instrumentellen Vernunft. Wie beiläufig erklärt Horkheimer für seine Zeit »die Tendenz des Liberalismus, in Faschismus umzuschlagen«. Dessen Vernunft meine nicht mehr einen Bezug zur Wahrheit, sondern ein zweckrationales Kalkül individueller Vorteile. Ist Vernunft einmal auf dieses bloße Eigeninteresse reduziert, »verbleibt kein wirksames, rationales Prinzip des gesellschaftlichen Zusammenhalts«, den sich die Menschen folglich als Wahnsinn herbeiphantasieren müssten. Aber dieser Wahn, diese »Idee der ›Volksgemeinschaft‹ kann am Ende nur durch Terror aufrechterhalten werden.« Max Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, in: ders., Gesammelte Schriften, Band 6: ›Zur Kritik der instrumentellen Vernunft‹ und ›Notizen 1949–1969‹, Frankfurt a.M. 1991, 41.

Es klingt zunächst danach, als sei Horkheimer jener Kulturkonservative, der den Werteverfall der Gesellschaft für deren Barbarei verantwortlich mache. Damals wie heute ist das ein beliebtes Motiv zur Erklärung politischer Regression, wenn die Abgehängten gegen die Zumutungen der Gesellschaft aufbegehren, die Politikverdrossenen zum Protest antidemokratisch wählen etc. Aber Horkheimers Diagnose zur Entwicklung der Vernunft ist weder ein solches Bejammern einer Verfallsgeschichte noch eine Geschichtsphilosophie, nach der moderner Fortschritt automatisch in den Faschismus münde. Sie ist der Hinweis darauf, dass etwas an dieser liberalen Freiheit ihren Anteil an der Unfreiheit trägt. Die konkrete Unfähigkeit zu einem antifaschistischen Bekenntnis ist kein Zufall oder die fehlende Courage kleinbürgerlicher Intellektueller, sondern eine Konsequenz der grundlegenden Errungenschaften der liberalen Gesellschaft selbst. Was Horkheimer als Entwicklung der Vernunft beschreibt ist ja ganz real Fortschritt gewesen: den Anspruch auf die Wahrheit und die daraus abgeleitete Autorität zu stürzen. Keine göttliche Lehre, kein Naturgesetz oder Philosophenkönig sollen das letzte Wort haben, wenn es um das Leben und Zusammenleben der Menschen geht. Das ist absolut vernünftig. Horkheimers Kritik zielt aber darauf ab, Vernunft nicht nur auf diese Relativierung von Wahrheit zu beschränken, denn so könne man gar keinen Begriff von Objektivität mehr anerkennen. Vernunft ist dann nur noch ein Prinzip, dem alle konkreten Inhalte beliebig werden müssen. Die Forderung der »Freiheit von der Herrschaft dogmatischer Autorität« geht mit der »Haltung der Neutralität gegenüber einem jeden geistigen Inhalt« Ebd., 40. einher. 

Die Tragweite dieser Relativierung ist gar nicht zu unterschätzen, denn die Formalisierung der Vernunft ist tatsächlich die Grundlage einer liberal-demokratischen Freiheitsvorstellung. In der politischen Philosophie wird diese oft als negative Freiheit bezeichnet, weil sie eben die Abwesenheit von Einschränkungen meint. Da wo keine objektive Bestimmung vorliegt, könne sich das Individuum schließlich selbstbestimmt entfalten. Die subjektive Vernunft ermöglicht diese freie Entfaltung als das Verfolgen eigener Ziele (egal, welche das auch immer sein mögen), gerade weil sie rein formal bleibt. In diesem Sinne meint Freiheit Autonomie, dass es also jenseits der eigenen Bestimmung keine Notwendigkeiten gibt. Das ist auch der Grund, warum Gesellschaft aus dieser Perspektive immer ein Problem darstellt: Die Freiheit des Einzelnen endet da, wo die der anderen beginnt. Daher geht das Autonomieversprechen in der bürgerlichen Gesellschaft im Begriff der Souveränität auf. Meint Autonomie die Unabhängigkeit, ist Souveränität die daran anschließende Fähigkeit zur Selbstverwirklichung. Wenn es also Einschränkungen gibt, so sollen diese wenigstens als Gesetze und Regeln dem eigenen freien Willen entsprechen. Das Volk soll der Souverän seiner eigenen Beherrschung sein, heißt ja Demokratie übersetzt.

Das sind natürlich Allgemeinplätze oder, wie es heißt, normative Leitideale der Moderne, die eher als Richtlinien und nicht als verbindlich gelten. Es gehört daher zum (mindestens sozialwissenschaftlichen) Selbstverständnis liberaler Demokratie, dass man nicht zu viel von ihr erwarten sollte. Das Problem besteht – wie Horkheimer schreibt – nicht in einem uneingelösten Versprechen der Moderne, sondern darin, dass zwar in dieser Gesellschaft »Gerechtigkeit, Gleichheit, Glück, Toleranz, alle die Begriffe […] noch Ziele und Zwecke [sind], aber es keine rationale Instanz [gibt], die befugt wäre, ihnen einen Wert zuzusprechen und sie mit einer objektiven Realität zusammenzubringen.« Ebd., 44. Ohne diese rationale Instanz, die gesellschaftliche Realität objektiv bestimmen kann, bleiben die Erfahrungen realer Ungleichheit, Ungerechtigkeit und des Unglücks nur eine Angelegenheit freier Individuen. Ihre Kritik bleibt subjektiv. Es gibt keine Wahrheit darüber zu sagen.

 

Ohnmacht

In einer der besagten Diskussionen über den Umgang mit der rechten Provokation begegnete ich dem Missverständnis, das darin am Werke ist. Dabei sah ich mich durch die Frage in die Ecke gedrängt, warum man denn überhaupt Kritik objektiv begründen solle. Sei das nicht autoritär und damit in letzter Konsequenz genau das Argument, um Kritik zum Schweigen zu bringen? Das ist eine Perspektive, die neben der Relativierung aller Wahrheit nur den Dogmatismus kennt, gegen den sie sich zu wenden hat. Dass aber der daraus entstehende Dualismus selbst ein objektiver Umstand ist, den es zu kritisieren gelte, bleibt unvorstellbar und damit unveränderbar. Solange nur die Wahl zwischen Dogmatismus oder Relativismus besteht, bleibt alles beim Alten. Die subjektive Kritik bedeutet deshalb zugleich Ohnmacht. Und zwar gegenüber jenen Verhältnissen, in denen scheinbar »keine andere Alternative übrig [bleibt], als entweder einer illusionären Vorstellung von Freiheit treu zu bleiben und damit die gesellschaftliche Realität zu leugnen, oder diese Realität anzuerkennen und die Idee der Freiheit abzulehnen. Das erstere ist die Schlußfolgerung der Liberalen, das letztere die der Faschisten.« Karl Polanyi, The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, Wien 1977, 317. 

So jedenfalls lautete Karl Polanyis Zusammenfassung des spezifischen Dilemmas, mit dem die liberalen westlichen Gesellschaften im Moment ihres Zusammenbruchs konfrontiert waren. Die reale Erfahrung der Unfreiheit, die gegenüber der Idee der Freiheit immer nur Lüge sein kann, muss sich gegen diese Idee selbst richten. Ähnliches stellten auch Horkheimer und Adorno im Antisemitismusaufsatz der Dialektik der Aufklärung heraus. Dieser beginnt mit einer Kritik am Liberalismus, der dem mörderischen Antisemitismus nur entgegenstellen könne, die Menschen seien doch aber der Idee nach alle gleich. »Indem aber die liberale These die Einheit der Menschen als prinzipiell bereits verwirklicht ansetzt, hilft sie zur Apologie des Bestehenden«, heißt es dann. Weil sie keinen Begriff der Wahrheit anzubieten hat, bleibt sie den Verhältnissen gegenüber ohnmächtig und »ihre Ohnmacht zieht den Feind der Ohnmacht an.« Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a.M. 1988, 177f.

Der Zwiespalt, der dem zugrunde liegt, lässt sich auch heute beobachten. Die Ideen der liberalen, demokratischen Gesellschaft stehen vielfach in krassem Widerspruch zur gesellschaftlichen Realität. Ein nicht unbeträchtlicher Teil der Menschen zieht daraus die Konsequenz, sich betrogen und belogen vorzukommen. Ist der souveräne Nationalstaat nicht schon vollends dem Druck der Globalisierung erlegen? Ist die parlamentarische Demokratie nicht einfach nur eine Vertuschung der geheimen Elitenherrschaft? Besteht die individuelle Freiheit nicht lediglich in einer Existenz als doppelt freie Lohnarbeiterin? Was momentan als rechter Populismus verhandelt wird ist nicht nur das regressive Aufbegehren gegen diese vermeintlichen Verfallserscheinungen, es ist das Aufbegehren gegen die Ohnmacht. Freilich nicht gegen die eigentlichen Grundlagen derselben, sondern gegen das, was als ohnmächtig projiziert wird. Das Versprechen der liberalen Demokratie soll also gar nicht mehr verwirklicht werden, denn es ist ja gerade der Ursprung jener Schwäche. Statt Freiheit und Souveränität soll es daher Autorität geben, die wenigstens irgendeine Ordnung »selbstbestimmt« gewaltsam durchzusetzen vermag. 

Genau darin kann der Autoritarismus sich zugleich als Gegner und Erfüllung der bürgerlichen Ideale darstellen und seinen Anschluss an die gesellschaftliche »Mitte« finden (nicht umsonst trägt Jürgen Elsässers Magazin Compact den Untertitel Magazin für Souveränität). Er hasst die Freiheit, aber nicht im Namen der Wahrheit, sondern in der Beanspruchung eines Wahns, den ihm nur die Freiheit gestattet. Die Phantasie der gewaltsamen Zerstörung aller Vernunft ist der liberalen Demokratie näher als der Dogmatismus, den sie mit dem Begriff Wahrheit assoziiert. Daher geht auch die Geißelung der zum Aufstieg der alt-right gehörenden alternativen Fakten und deren Kampfbegriff der fake news ins Leere. Es kommt den Agitatoren nicht auf den Wahrheitsgehalt an, da es aus deren Sichtweise heraus sowieso keinen verbindlichen Maßstab dafür geben könne, außer die offiziellen Lügen des Establishments. Dem kann schließlich nur entgegengehalten werden, dass es nie die Absicht gab, eine Wahrheit zu formulieren. Zwar wird etwa gegen Leugner*innen des Klimawandels oder der Pandemie die Autorität der wissenschaftlichen Erkenntnis bemüht. Doch wer würde ernsthaft auf die Idee kommen, Gesellschaftswissenschaftler *innen nach Wahrheit zu befragen?

Diesem Aufbegehren gegen Freiheit und Vernunft hat die liberale Demokratie nichts entgegenzusetzen. Im Gegenteil, ihr Beharren auf der abstrakten Idee und formalen Rationalität verstärkt die Wahnvorstellung, dass Liberalismus nur die Lüge sein könne, die die reale Herrschaft der Eliten verdecke. Der Versuch, mit Rechten zu reden; die Hoffnung, Regierungsämter würden disziplinierend auf Faschist*innen wirken; die Wette auf eine Vernunftgrundlage, die sich im politischen Diskurs durchsetzen würde – diese Phänomene sind Ausdruck jener Ohnmacht, die zum Wesen der liberalen Freiheit gehört. Denn »da die Zwecke nicht mehr im Lichte der Vernunft bestimmt werden, ist es auch unmöglich zu sagen, daß ein ökonomisches oder politisches System, wie grausam und despotisch es auch sei, weniger vernünftig ist als ein anderes« Horkheimer, Kritik der instrumentellen Vernunft, 51.. Denjenigen, die daran festhalten, dass eine autoritäre Ordnung »weniger vernünftig« ist, bleibt kein objektives Argument. Nazis das Wort zu verbieten wird zur Meinung und hat über eine subjektive Vernunft hinaus keine Gültigkeit. Wer sich dabei auf Wahrheit bezieht ist der liberalen Demokratie ein größerer Feind der Freiheit, als jene, die alles Lügen schimpfen. So bleibt nur die Hoffnung, dass es lediglich eine Diskursverschiebung nach rechts ist, ein Rechtsruck im schlimmsten Fall, dass all dies aber noch im Rahmen der demokratischen Freiheit auszuhalten sei.

 

Wahrheit 

Diese Hoffnung hat aber nichts mit einer souveränen Position zu tun. Sie ist bereits jene Hilflosigkeit, für die abstrakter Idealismus und falsche Konkretheit nur unterschiedliche Formen der Verdrängung sind. Das scheinbar große Dilemma darin ist – kurzgesagt – ein Universalismusproblem. Denn jede ewige und allumfassende Wahrheit widerspricht dem Umstand, dass die Welt veränderbar ist. Aber die allumfassende und ewige Veränderbarkeit widerspricht dem Umstand, dass es Wahrheit gibt. Zwischen diesen Positionen entspinnt sich die Geistesgeschichte der Moderne: von Hegels Weltgeist zu Marx’ Philosophie der Praxis, vom ökonomischen Determinismus der Zweiten Internationale zur Dialektik der Kritischen Theorie und zur radikalen Kontingenz des Poststrukturalismus. Alles schwingt zwischen der Behauptung der Wahrheit und der Forderung der Freiheit. Es gehört zum Wesen dieses Dualismus, dass es in diesem Streit nichts zu gewinnen gibt. Weder hatte Hegel noch Marx einfach Recht. Im Gegenteil, jeder Versuch der Auflösung dieses Konflikts verfällt sofort in das Dilemma der Wahrheit zurück. 

Die Ausweglosigkeit scheint denjenigen Recht zu geben, die vor den Konsequenzen eines antifaschistischen Bekenntnisses zurückschrecken, weil es ihnen zu sehr nach der Negation der Freiheitsbedingungen klingt. Sie spüren freilich, wie ungenügend diese Position ist, aber wissen nicht, was sie sonst machen können. Ich teile diese Ambivalenz, ganz praktisch, weil ich mich ebenso in Situationen befand, in denen mich keine Idee weitergebracht hat. Auch nicht das gute alte Credo, dass man Widersprüche eben aushalten müsse. Bei Adorno, im letzten Satz der Erziehung zur Mündigkeit, fand ich schließlich noch einen Hinweis dazu: »Wer ändern will, kann es wahrscheinlich überhaupt nur, indem er diese Ohnmacht selber und seine eigene Ohnmacht zu einem Moment dessen macht, was er denkt und vielleicht auch was er tut.«  Theodor W. Adorno, Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Helmut Becker 1959–1969, Frankfurt a.M. 1971, 147.

Was Adorno meint, ist etwas ganz anderes als seine eigenen Grenzen zu reflektieren, Demut oder neuerdings awareness. Die Ohnmacht zu einem Moment des Denkens machen bedeutet, den Dualismus zwischen Wahrheit und Freiheit nicht zum Ausgangspunkt des Denkens zu nehmen, sondern beides in einen bestimmten Zusammenhang zu stellen. Das Dilemma ist selbst Ausdruck der Verhältnisse, die es zu erkennen gilt. Die Fähigkeit zu dieser Erkenntnis wiederum ist die große Errungenschaft der Moderne, wenn man so möchte, aus der sich überhaupt die Idee von Freiheit entwickeln konnte. Marx’ Bewunderung für das Potential der Bourgeoisie, »sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren« Theodor W. Adorno, Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Helmut Becker 1959–1969, Frankfurt a.M. 1971, 147., speiste sich daraus, dass diese allumfassende Veränderung die Verhältnisse als durch Menschen gemachte und veränderbare durchsichtig machte. Freiheit meinte in diesem Sinne mehr als eine Idee, deren Verwirklichung vielleicht durch eine bürgerliche Gesellschaft in Aussicht zu stellen sei, nämlich den ganz realen Umstand, dass Menschen ihre Gesellschaft gemeinsam einrichten. Nur aus dieser Freiheit entspringt überhaupt das Universalismusproblem, das heute etwa zwischen liberalem Establishment und regressivem »Volksaufstand« verhandelt wird. 

In diesem Sinne ermöglichen die Erkenntnis und Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse eine Wahrheit, die nichts mit dem Dogmatismus zu tun hat, den der liberale Einspruch fürchtet. Sie ist zugleich das Einzige, das gegen Autoritarismus, zur Weltanschauung verdichtete Formen rechten Denkens und schließlich Faschismus als grundlegend falsche Auflösungen gesellschaftlicher Konflikte in Stellung gebracht werden kann. Sie sind falsch, weil sie hinter die moderne Errungenschaft jener Freiheit zurückfallen (und nicht weil sie einer anderen Idee folgen). Wenn es daher eine demokratische Konsequenz aus jener modernen Freiheit gibt, dass die Menschen sich ihre gesellschaftlichen Verhältnisse selbst einrichten, dann dass die Menschen gleich an ihr sind. Ich bleibe also dabei, unverrückbar an dieser Gleichheit der Menschen festzuhalten und zu denjenigen, die diese bestreiten, eine rote Linie zu ziehen.

 

Alex Struwe 

Der Autor ist Gesellschaftstheoretiker, in der festen Annahme, dass das überhaupt noch möglich ist.