Unbehagen von Gewicht
Einleitung zum Schwerpunkt
Queere Bewegungen verzeichnen seit den neunziger Jahren starken Zulauf. Sie haben eine für viele Menschen attraktive Praxis entwickelt, die an traditionell linke Konzepte anknüpft und sich zum Teil mit linken Räumen und Bewegungen überschneidet. Zugleich hat sich mit den akademischen Gender-Studies und den verschiedenen Ausprägungen dekonstruktivistischer Theoriebildung auch eine Form der Gesellschaftskritik etabliert, die ebenfalls Schnittmengen mit linker, also im weitesten Sinne marxistischer, kritischer Theorie aufweist. Beiden geht es um die Analyse der Konstitution menschlicher Gesellschaft und ihrer Herrschaftsmechanismen - und in der Folge um die Wiederherstellung der Souveränität der Menschen über die Strukturen, die ihr Leben ordnen und ihnen, im Kapitalismus wie im System der Zweigeschlechtlichkeit, als natürlich entgegen treten wollen. Nicht zuletzt gibt es zwischen linken und queeren Bewegungen auch personelle und praktische Überschneidungen. Feministische Positionen und die Kämpfe von Schwulen und Lesben fanden lange Zeit in der Linken eine Heimat, in der nicht nur die Idee der radikalen Veränderbarkeit des Zusammenlebens bereits vorgedacht war, sondern auch Praxismodelle von Freiraumpolitik, solidarischer Aktion und Alltagskämpfen in der bürgerlichen Gesellschaft entwickelt wurden. Zugleich galt aber der Linken die Diskriminierung aufgrund von Geschlecht und sexuellem Begehren bestenfalls als »Nebenwiderspruch«, als sekundäres Problem also, das auf die Ausbeutungsverhältnisse im Kapitalismus zurückzuführen sei und zusammen mit diesen zwangsläufig auch verschwinden müsse. Solange aber die Überwindung des Kapitalismus noch auf sich warten ließ, blieb die Teilung von Produktion und Reproduktion (oder jargonbefreit formuliert: zwischen Hausarbeit und Demo-Abenteuern) ein Problem. Der Verdacht gegenüber FeminstInnen und schwul/lesbischen AktivistInnen, durch die Konzentration auf solche »Nebensächlichkeiten« den revolutionären Kampf zu schwächen, und die oft fehlende Selbstkritik in der Linken angesichts von Homophobie und Sexismus in der eigenen Praxis markierten die Spannungen zwischen beiden Bewegungen vor der Ausformulierung queerer Konzepte am Ende des letzten Jahrhunderts. Weiter…