Seit Platons Politeia sind die Begriffe Politik und das Politische untrennbar in ihrer Bedeutung mit dem Staat, dem Staatswesen, dem Staatsverhältnis verbunden. Wenn das Wort »Politik« sich erst im 17. Jahrhundert im Zusammenhang mit der Entwicklung der modernen Nationalstaaten etabliert hat, schließlich »das Politische« als eigenständiger Begriff in die reaktionär-konservative Staatstheorie im 20. Jahrhundert von Carl Schmitt eingeführt wurde, sollte eigentlich nahe liegen, dass ein Begriff der Politik oder des Politischen ohne »emphatischen« implizierten Verweis auf den Staat gar nicht denkbar ist, erst recht nicht kritisch. Gleichwohl hat sich gerade in den links-politischen Diskursen der letzten vier Jahrzehnte sukzessive eine neue, positiv wird gesagt: eine »erweiterte« Sinnverwendung des Politischen ergeben: Politik und politisch ist jede Form linker Selbstverortung; alltagssprachlich sogar: jeder nicht-private Bezug auf Gesellschaft. Der Staat ist dabei nicht Gegenstand, sondern Gegensatz, spielt nur als das eine Rolle, was man nicht will. Dies wird nun seit einiger Zeit von Theorien untermauert, die diesem Politikverständnis nicht nur eine philosophische Grundlage zu geben beanspruchen, sondern auch eine neue Wendung: Es ist jetzt nicht mehr eine Kritik des Staates, eine anarchistische Politik als Staatsverneinung, also eine »diesseitige« Antipolitik gegen den Staat, sondern eine »jenseitige« Rehabilitierung des Politischen des Staates, die zum Staat zurückzukehren zu wollen scheint; und zwar zu einem Idealstaat, wie ihn die bürgerliche Theorie sich in ihrer revolutionären Hochzeit zu träumen wagte, wie man ihn aber in der bürgerlichen Wirklichkeit bislang noch nicht zu sehen bekam. Entscheidend für diese (vermeintliche) Neupositionierung der Politik und des Politischen ist ferner: einerseits der Abschied von der kritischen Theorie als Kritik der politischen Ökonomie, andererseits eine Rückkehr zur Philosophie. Das heißt einerseits: der Kapitalismus als soziales Produktionsverhältnis oder als produktives Sozialverhältnis kommen hier nicht mehr vor; das heißt andererseits – und vor allem: Es wird wieder philosophiert! Und zwar selbstbewusst-naiv, ohne Rücksicht auf Verluste, nämlich ohne Rücksicht auf die Geschichte – auf die Geschichte, an der die Philosophie selbst scheiterte. Die große Klammer dieser Theorien heißt neuerdings: Postmarxismus. Von Marx bleibt indes die radikale Geste, während historischer Materialismus und Dialektik über Bord geschmissen werden. Ein Theatrum philosophicum, wie Foucault es nannte, wird geboten: Eine Bühne, auf der von Schiller (Rancière), über Duns Scotus (Virno) bis zu Paulus (Badiou) alle ihren Auftritt haben. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass Simon Critchley in diesem philosophischen Trauerspiel jetzt noch Rousseau auftreten lässt, mit dem Critchley »die Idee […] eines bürgerlichen Glaubensbekenntnis erkunden« möchte (8). Es geht dabei um die Frage: »Ist Politik […] ohne Religion praktizierbar?« (12) Die Antwort ist Nein, auch wenn Critchley einräumt, jemand zu sein, »der für Religion […] nicht viel übrig hat« (14). Das Problem sei eine »gegenwärtige grässliche Situation« der »Verquickung von Politik und Religion« (14). Mit Rousseau will Critchley allerdings zeigen, dass die Fundierung des Politischen in der Religion gleichsam notwendig ist: Das Gesetz braucht, um die Gemeinschaft zu gründen, das »Faktum der heiligen Gewalt«. Durch den Staat soll das Volk zu sich selber kommen, zu Gott werden; es soll an sich glauben, es soll sich selbst Fiktion sein. Und dieser – nach Rousseau – »Katechismus des Bürgers« wäre Politik als »Akt des Zusammenschlusses ohne Repräsentation« (73), wie Critchley schließlich im Sinne Ernesto Laclaus demokratisch einlenkt.
Dass mit dem Volk nicht das Volk gemeint ist, sondern die Leute, ist dann wenigstens in Unendlich fordernd festgehalten: eine »Mannigfaltigkeit«, ein »leerer Raum«, der »ungezählte demos« (155). In diesem Band, der sich nicht an der Religion, sondern an der Ethik – dem zweiten großen Theorieirrtum der Menschheit – orientiert, greift Critchley in die trüben Tiefen des Urschlamms der philosophischen Ideologie, nämlich in die Ontologie. Anders gesagt: Was in seiner Interpretation von Rousseau wenigstens noch originell war, ist nun, mit Levinas, Løgstrup (Theologe, 1905–1981), Lacan oder Gramsci, ein dürftiger Eklektizismus, der Halbwahrheiten und Binsenweisheiten mit einer Menge Quatsch zusammenmischt. Und das wird umso obskurer, je mehr Critchley sich nach seinem Entwurf einer »unendlich fordernden Ethik der Verpflichtung« in die politische Praxis des Widerstands vorwagt: »Wahre Demokratie« postuliert Critchley schließlich, wenn er Gruppen wie Ya Basta! oder die Rebel Clown Army für ihren Aktionismus lobt: »Durch eine Politik der Subversion übt die heutige anarchistische Praxis einen satirisch gefärbten Druck auf den Staat aus und zeigt so, dass andere Lebensformen möglich sind.« (149) Und dazu gehören auch Lebensformen von »kritischen, weltoffenen, gutgekleideten, metrosexuellen Postkantianern« (168), wie Critchley sich unvermittelt selbst beschreibt. Das ist indes wohl auch der Name, den zu finden Critchley als »politische Aufgabe« behauptete – ein Name, »um den herum ein politisches Subjekt aus den verschiedenen gesellschaftlichen Kämpfen unserer Gegenwart zusammengesetzt werden kann« (123). Und so ergibt sich auch ein Bild von der Welt, in der die Feindbilder klar sind, aber das Ziel verloren; in der die Übel dieser Welt wie Spielmarken in einem philosophischen Spiel ums Politische eingesetzt werden: Hier ein wenig Rassismus, dort ein bisschen Sexismus, hier Genmanipulation, dort George W. Bush und Osama bin Laden. Es bleibt bei der Illustration einer Haltung, die Critchley zum Ausgangspunkt seiner Theorie setzt, an die man sich aber nach der Lektüre wieder erinnert: »Philosophie beginnt nicht mit einer Erfahrung der Verwunderung, wie es von alters her heißt, sondern vielmehr mit dem, wie ich meine, unbestimmten, aber deutlichen Gefühl, dass ein Wunsch sich nicht erfüllt, eine enorme Anstrengung nicht zum Ziel geführt hat. Philosophie beginnt mit einer Enttäuschung.« (7) Tatsächlich ist es genau umgekehrt: Die Philosophie endet in einer Enttäuschung.
~Von Roger Behrens.
Simon Critchley: Der Katechismus des Bürgers. Politik, Recht und Religion in, nach, mit und gegen Rousseau, aus dem Englischen von Christian Strauch, diaphanes, Zürich und Berlin 2008, 80 S., brosch., € 8,00.
Simon Critchley: Unendlich fordernd. Ethik der Verpflichtung, Politik des Widerstands, aus dem Englischen von Andreas Stumpf und Gabriele Werbeck, diaphanes, Zürich und Berlin 2008, 182 S., brosch., € 19,90.