Enzo Traverso stellt mit seinem 2008 erschienenen Werk Im Bann der Gewalt. Der Europäische Bürgerkrieg 1914–1945 seine Deutung der Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor. Er versucht darin, eine Erklärung für die Gräueltaten zu finden, die sich seit dem Beginn des Ersten Weltkrieges bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges auf dem europäischen Kontinent zugetragen haben. Dabei verortet er sich in aktuellen Debatten, gerade in Abgrenzung zu Ernst Noltes Der europäische Bürgerkrieg 1917–1945. (35) Traverso will den Begriff des europäischen Bürgerkrieges aus dem totalitarismustheoretischen Bereich lösen und stellt die Geschichte unter das Paradigma der omnipräsenten Gewalt. Im Gegensatz zu Nolte lässt er seine Darstellung bezeichnenderweise nicht im Jahr der Oktoberrevolution 1917 beginnen, sondern mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914. Der Fokus wird so von der Auseinandersetzung zwischen Kommunismus und Faschismus auf den latenten und offenen Kriegszustand gelenkt. Traverso will die unterschiedlichen Perspektiven dieser Zeit artikulierbar machen. Die Motivationen der Täter sollen dabei offen gelegt werden, ohne sie zu verteidigen. (11) Der antifaschistischen Tradition nachspürend, widerspricht er der weitverbreiteten Vorstellung, sie sei ausschließlich kommunistischen Ursprungs gewesen. Den Rahmen bilden die beiden Weltkriege, wobei schon der Erste Weltkrieg die Grenzen eines klassischen zwischenstaatlichen Krieges überschritten und damit Bürgerkriegscharakter erhalten habe. Der Zweite Weltkrieg, der als totaler Krieg geführt wurde, habe diese Überschreitung noch verschärft. Ferner bestünde der europäische Bürgerkrieg zusätzlich aus mehreren lokalen Bürgerkriegen, die Traverso wiederum in drei Phasen einteilt. Die erste begänne mit der Russischen Revolution und endete »symbolisch« mit dem gescheiterten Hamburger Aufstand 1923, als Ende der Hoffnung einer Revolution in Deutschland. Der Spanische Bürgerkrieg markiere die zweite Phase und die dritte wäre durch die lokalen Bürgerkriege innerhalb des Zweiten Weltkrieges bezeichnet. (55) Nach dieser allgemeinen und begrifflichen Hinführung zur Thematik teilt sich das Buch in zwei Schwerpunkte. Der erste interpretiert die historische Entwicklung durch den Topos des europäischen Bürgerkrieges, während der zweite sich mit der kulturellen Präsenz von Krieg und Gewalt sowie der zeitgenössischen Rezeption auseinandersetzt. In beiden Teilen wird auf die politischen und philosophischen Diskussionen der Zeit rekurriert und immer wieder werden Carl Schmitt und Leo Trotzki kontrastiert, die beide einen Bezugspunkt für das Denken Traversos markieren.
Abschließend stellt Traverso die Rezeption des Antifaschismus in Bezug auf Stalinismus und Holocaust dar. Dabei grenzt er sich erneut explizit von totalitarismustheoretischen Positionen mit dem Argument ab, dass der Kommunismus, trotz aller Verbrechen, auf einem universalistischen Anspruch basiere. Damit habe der Kommunismus ein völlig anderes Fundament als der Faschismus und diese könnten deshalb nicht gleichgesetzt werden. (301) Eine weitere Abgrenzung sei zwischen dem Antifaschismus und Stalinismus zu konstatieren. Der Antifaschismus gehe der Volksfrontpolitik der kommunistischen Parteien voraus und habe sich mit dem Kampf für den Frieden auf dem Kontinent identifiziert. (293)
Das Werk endet mit einem Ausblick über 1945 hinaus und wirft die Frage auf, warum der Holocaust bei so wenigen antifaschistischen Intellektuellen präsent war. (307)
Traverso hat eine Fülle von Informationen zusammengetragen, die neue Aspekte aufzeigen und damit zum Verständnis der historischen Entwicklung beitragen. Mitunter besteht allerdings die Gefahr, sich in dieser Fülle der Details zu verlieren, zumal die vielen Denker und Denkerinnen, die aufgeführt werden, nicht in der ihnen zukommenden Ausführlichkeit vorgestellt werden. Diese Beschränkung ist der Schwerpunktsetzung des Buches geschuldet, dennoch setzt Traverso bisweilen ein großes Kontextwissen voraus, um das spezifische Argument zu verstehen.
Ein weiterer Kritikpunkt ist der affirmative Bezug auf Carl Schmitt, der nicht umsonst der »Kronjurist des Dritten Reiches« war. Dem Buch mangelt es an einer Diskussion darüber, ob bzw. inwiefern aus einer linken Position heraus, eine Aneignung und Fruchtbarmachung von Schmitt überhaupt möglich ist.
Traverso stellt sich der Aufgabe, stalinistische und nationalsozialistische bzw. faschistische Verbrechen zu thematisieren, ohne in eine Totalitarismustheorie abzudriften. Das Changieren zwischen ideologischen Linien und lokalen Gewaltakten eröffnet dabei einen anderen Blickwinkel. Das Werk ist eine sehr interessante Deutung der Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die trotz der genannten Problematik den Horizont der historischen Interpretation erweitert.
~Von Inka Sauter.
Enzo Traverso: Im Bann der Gewalt. Der Europäische Bürgerkrieg 1914–1945, Siedler Verlag, München 2008, 399 S., € 24,95.