In seinem Roman Solaris schildert Stanis?aw Lem die Forschungsreise dreier Wissenschaftler zum gleichnamigen Planeten. Auf der Suche nach nichtmenschlichem Leben stoßen sie dort auf einen rätselhaften Ozean, der die Gabe hat, die Erinnerungen der Forscher zu materialisieren. So tritt die verstorbene Frau Hari des Psychologen Kelvin als Gestaltung der vergangenen Schuld des Forschungsreisenden wieder auf. Anstatt sich der Erforschung des fernen Planeten widmen zu können, bleiben die Forscher gefangen im Zirkel ihrer Vergangenheit. Sie wollten einen unbekannten Planenten erforschen, erhalten aber allein den Spiegel der eigenen Vorstellungen. Als Hari bewusst wird, dass sie nur die materialisierte Erinnerung Kelvins ist, überwindet sie den Status der passiven Gestaltung. Sie gewinnt Eigenständigkeit durch das Bewusstsein, vom Ozean aufgrund der Erinnerungen Kelvins geschaffen worden zu sein.
Unschwer lässt sich der 1961 in polnischer Sprache erschienene Roman als Parabel auf die experimentelle Forschung lesen. Im Experiment wird etwas geschaffen, was sich auf den ersten Blick als unbedingtes Wissen darstellt, bei näherem Hinsehen jedoch als bedingt durch die tätigen Vorstellungen der WissenschaftlerInnen, deren soziale Praxis, erweist. Die experimentelle Anordnung stellt aus der Vorstellung, der Forschungshypothese, deren materielle Gestalt her. Als Befund wird sie sich am Ende verselbstständigen, den Charakter des Gemachten, aufwändig Hergestellten abstreifen und den des in der Natur bloß Vorgefundenen annehmen. In dieser Gestalt will Wissenschaft letztlich nichts anderes sein als ein Epiphänomen der Natur. Roy Bhaskar, Reclaiming Reality, New York London, 1989, 52.
Anders als in Lems Roman aber ist es hier die Blindheit und Unbewusstheit, welche die Verselbständigung des experimentellen Befundes ermöglicht und der gesellschaftlichen Herrschaft des Wissens den Weg bereitet. Positivismus zeichnet sich durch die Unterschlagung der Vermittlung, der Entstehungsbedingungen eines partikularen wissenschaftlichen Wissens aus. Wie das Kaninchen aus dem Zylinder des Zauberers präsentieren WissenschaftlerInnen regelmäßig ihre Ergebnisse, die wahlweise unser Verhalten oder die Einrichtungen der Gesellschaft ändern sollen
Die Hirnforschung etwa will uns erklären, warum Frauen weniger zu Gewalt neigten als Männer und bewegt sich dabei in eben dem Zirkel, der dem Positivismus eigen ist und der ihn letztlich unwissenschaftlich macht. So ist der Versuch, geschlechtliche Besonderheiten bei Gewalt und Aggression neurobiologisch zu erklären, einer zweifachen Fehlleistung geschuldet – die freilich auf eine gemeinsame Grundannahme verweist. Zunächst wird das Alltagsverständnis, Männer seien gewalttätiger als Frauen, mit dem Verweis auf die polizeiliche Kriminalstatistik bestätigt, wobei die Kriminalstatistik selbst nur den zirkulären Niederschlag eben dieses Alltagsverständnisses darstellt. In einem zweiten Schritt nehmen jene „Ergebnisse", die anders sich nicht erklären lassen, die starre Form eines Naturgesetzes an, welches durch das neurobiologische Experiment nachgewiesen worden sei. Wie dabei das normative Alltagsverständnis die Forschung leitet, zeigt folgende, einleitende Formulierung aus einer Studie zu den neurobiologischen Grundlagen der Gewalt:
»Der Geschlechtsunterschied bei Gewalt besteht vorwiegend darin, dass schwere Gewalttaten wie Mord, Totschlag, schwere Körperverletzung [...] nahezu ausschließlich von Männern begangen werden. Diese Geschlechtsspezifität verlangt eine Erklärung, die sich dann auch nur auf das männliche Geschlecht bezieht.« Monika Lück, Daniel Strüber, Gerhard Roth, Psychobiologische Grundlagen aggressiven und gewalttätigen Verhaltens, Oldenburg 2005, 61. Alle weiteren Zitate beziehen sich, sofern nicht anders angegeben, auf diesen Band.
Der zitierte Band Psychobiologische Grundlagen aggressiven und gewalttätigen Verhaltens präsentiert sich als das Ergebnis einer zweijährigen Literaturstudie, die am Hanse-Wissenschaftskolleg in Delmenhorst unter der Regie des Vorsitzenden der Studienstiftung des Deutschen Volkes, Gerhard Roth, durchgeführt wurde. Die Autorin und die Autoren der Studie wollten dabei dem «krass ins Auge fallenden Unterschied zwischen den Geschlechtern im Hinblick auf Aggression und Gewalt» nachgehen. In der Einleitung wenden sie sich gegen die angebliche ablehnende Haltung vieler SozialwissenschaftlerInnen, »biowissenschaftliche Forschung« zur Erklärung von Gewalt heranzuziehen. Heute aber könne die große Bedeutung biologischer Faktoren «für das Verständnis von Aggression und Gewalt [...] nicht mehr geleugnet werden.« Zur Begründung führen die AutorInnen die deutlichen geschlechtsspezifischen Unterschiede von Aggression und Gewalt an, die »unter keinen Umständen durch gesellschaftliche Faktoren allein erklärt werden können.«
Das Kapitel der Studie, welches die geschlechtsspezifischen Besonderheiten schwerer Gewalt – »die in allen Kulturen der Welt auftreten« – darzustellen sucht, eröffnet mit folgender Behauptung:
»Bei kaum einer menschlichen Verhaltensweise scheinen die Unterschiede zwischen den Geschlechtern so deutlich zu sein, wie bei Aggression und ihrer schädlichsten Ausformung, der Gewalt. Das Ausmaß dieser Unterschiede lässt sich leicht an Kriminalstatistiken ablesen, die übereinstimmend zeigen, dass Gewaltdelikte überwiegend von männlichen Jugendlichen und jungen Männern begangen werden.«
Den Fehler, Kriminalstatistiken für bare Münze zu nehmen, hätten die AutorInnen angesichts der umfangreichen Literatur zu der geringen Aussagekraft von polizeilichen Kriminalstatistiken leicht vermeiden können. Die polizeiliche Kriminalstatistik, obschon ständig als Nachweis für beliebige Unbilden der Gesellschaft herangezogen, sagt kaum etwas über die tatsächliche Kriminalität, aber sehr viel über die selektive Arbeit der Polizei aus. Selektiv ist die Statistik, weil sie nur einen kleinen Bereich der Kriminalität ans Licht zieht. Der Soziologe Heinrich Popitz wies bereits 1968 in einem unter dem Titel Über die Präventivwirkung des Nichtwissens veröffentlichten Vortrag darauf hin, dass ein bestimmter Umfang an Nichtwissen als Bedingung eines sozialen Zusammenhalts notwendig sei, da »Verhaltenstransparenz jeweils nicht uferlos ausdehnbar ist, ohne bestimmte Formen des sozialen Zusammenlebens zu stören, ja zu zerstören.« Heinrich Popitz, Über die Präventivwirkung des Nichtwissens. Dunkelziffer, Norm und Strafe, Tübingen 1968, 7. Denn, so Popitz weiter: »Eine Gesellschaft, die jede Verhaltensabweichung aufdeckte, würde zugleich die Geltung ihrer Normen ruinieren. [...] Normbrüche sind unvermeidbar. Aber es ist vermeidbar – und es wird stets vermieden – daß sie alle ans Tageslicht kommen.« Popitz, Präventivwirkung, 9. Das Nichtwissen einer Tat affiziert die Norm indes weniger als der Verzicht auf Anklage oder Verurteilung. Die Dunkelziffer «ermöglicht ein Ausweichen, eine Entdramatisierung, – eine Unschärfe-Relation des sozialen Lebens, die letztlich ebenso der guten Meinung dient, die wir voneinander, wie der, die wir uns von unserem Normensystem bilden. Tiefstrahler können Normen nicht ertragen, sie brauchen etwas Dämmerung.« Ebd., 12.
Gegenüber dem unter den Hinweis auf entsprechende Kriminalstatistiken vermeintlich erbrachten Nachweis, dass nahezu ausschließlich männliche Jugendliche und junge männliche Erwachsene für Gewaltdelikte verantwortlich seien, lässt sich diese Grundannahme der Literaturstudie schlicht als Reproduktion des normativ geprägten Alltagsverständnisses von Gewaltkriminalität verstehen. Die Selektion erfolgt zulasten männlicher Jugendlicher, dem medialen Schreckgespenst, an dem sich der nicht zu befriedende Bodensatz der Gesellschaft symbolisch aufgeladen hat.
Die Arbeiten Barry Godfreys illustrieren diese Annahmen und zeigen, wie tief die Vorstellung von weiblicher Nichtkriminalität im kulturellen Gedächtnis des Westens sitzt. Für Neuseeland, Australien und England legt er dar, dass im Zeitraum zwischen 1880 und 1930 zahlreiche Mädchen aus der Arbeiterklasse zwar aktiv an gewalttätigen Auseinandersetzungen in street gangs beteiligt waren. Eine Festnahme eines Mädchens oder einer jungen Frau setzte indes den männlichen Polizeibeamten der Gefahr aus, sich gegenüber seinen männlichen Kollegen lächerlich zu machen – weshalb nur wenige der gewalttätigen Mädchen in den offiziellen Statistiken erschienen. Barry Godfrey, Rough Girls 1880–1930: The »Recent« History of Violent Young Women, in: Alder, Worrall (Hrsg.), Girls' Violence, Albany 2004, 32. Godfrey kommt zu dem Schluss: »it appears that police policy followed the public conception that males and not females posed an aggressive threat to public order.« Godfrey, Girls, 33.
Wie besessen von der drohenden Gefahr der Gewaltkriminalität männlicher Jugendlicher stürzen sich die AutorInnen der Literaturstudie in die Auswertung der überwiegend englischsprachigen Literatur zum Thema. Angeboten wird dabei grob folgende Erklärung für die zu keinem Zeitpunkt näher bestimmte Kategorie »Gewaltkriminalität«: Sie ist an neuropsychologische Entwicklungsstörungen gebunden, bereits in früher Kindheit angelegt, tritt sehr selten auf, hält lebenslang an und ist »nahezu ausschließlich im männlichen Geschlecht anzutreffen.« Insgesamt konnte ein starker Geschlechtsunterschied hinsichtlich der kognitiven und neurologischen Risikofaktoren nachgewiesen werden.
»Offenbar besteht also der Hauptunterschied zwischen Jungen und Mädchen bezüglich der Ausprägung von Risikofaktoren für antisoziales Verhalten in Defiziten der neuro-kognitiven Entwicklung und Hyperaktivität.«
Die gängigen Diagnoseinstrumente sind allerdings auf das Problem der männlichen Gewalt und Devianz zugeschnitten. Aus dem Zwang zur Verteidigung der Gesellschaft, Existenzbedingung von Psychiatrie und Kriminologie, folgt gleichsam zwingend, das spezifisch Weibliche der »Soziopathie« genauer zu erfassen. In der wissenschaftlichen Diskussion werden entsprechend geschlechtsspezifisch modifizierte Diagnosekriterien für die so genannte »antisoziale Persönlichkeitsstörung« eingefordert, da es antisoziale Verhaltensweisen gebe, »die spezifisch für antisoziale Frauen sind.« So werde überlegt, »ob für eine adäquate Erfassung von Formen weiblicher Psychopathie spezielle Verhaltensweisen wie Promiskuität, das Schließen vieler nur kurz andauernder Ehen oder kriminelle Vielschichtigkeit anders als bei Männern gewichtet werden sollten.« Die Konzeption »Psychopathie« bzw. die synonym verwandte »antisoziale Persönlichkeitsstörung« dient auch in ihrer »adäquaten Erfassung« allein der Identifizierung der Trägerinnen sozial unerwünschten Verhaltens:
»Bei antisozialen Verhaltensweisen von Frauen geht es in der Regel um Drogen- und Alkoholmissbrauch, Gefängnisaufenthalte wegen Einbruchs und Diebstahls, häufig wechselnde, instabile Partnerschaften, Prostitution, Anwendung von Aggression zur Konfliktbewältigung, Inanspruchnahme psychiatrischer oder sozialer Dienstleistungen, Lügen und Schwierigkeiten in der Betreuung der eigenen Kinder.«
Auch in der Psychopathie wird endlich der nötigende Unterschied der Geschlechter fortgeschrieben: Aus der Nichterfüllung disziplinierender, normativer Erwartungen an Weiblichkeit wird zunächst ein polizeiliches Problem und schließlich die wissenschaftliche Diagnose geschlechtsspezifischer Soziopathie: Werden Frauen dennoch gewalttätig, dann zur Selbstverteidigung gegenüber gewalttätigen Partnern oder als Autoaggression in der Form von Suizidversuchen: In jedem Fall entsprechen diese Formen gewalttätigen Verhaltens nicht der ›räuberischen‹ Gewalt, wie sie Hare (2001) als typisch für Psychopathen beschreibt.«
Die eingangs aufgeworfene Fragestellung, nämlich dem »krass ins Auge fallenden Unterschied zwischen den Geschlechtern im Hinblick auf Aggression und Gewalt« nachzugehen, greifen die AutorInnen bei der Behandlung des Zusammenhangs zwischen dem Botenstoff Serotonin und Impulsivität bzw. dem weitgehend synonym verwandten Begriff des antisozialen Verhaltens wieder auf. Einschlägige Studien bestätigten diesen negativen Zusammenhang: Eine eingeschränkte Funktion des Neurotransmitters Serotonin führe zu Impulsivität, die wiederum in antisozialem Verhalten münde. In einer Studie sei sowohl bei Frauen als auch Männern der Zusammenhang »zwischen Serotonin, kriminellem Verhalten und Gewalttätigkeit« untersucht worden. Hier habe sich eine »spezifische Korrelation« zwischen Serotonin und Gewalttätigkeit ergeben:
»Interessanterweise trat dieser Zusammenhang nur bei Männern auf. Bei den gewalttätigen Frauen besaß der Serotonin-Spiegel im Blut keine Aussagekraft in Bezug auf ihr Verhalten. Damit stellt diese Studie einen ersten Hinweis darauf dar, dass weibliche und männliche Gewalt möglicherweise unterschiedliche biologische Korrelate haben.«
Neben der Deutung genetischer Defekte, die über Modifikationen von Serotonin-Rezeptoren dessen Haushalt beeinflussen, kann die Annahme, es gebe einen geschlechtsspezifischen Unterschied bei der Anwendung von Gewalt, durch den Verweis auf eine nur bei Frauen vorfindliche genetische Variante des Serotonin-Rezeptors unterstrichen werden:
»Hingegen wurde bei Patienten mit Zwangsstörungen, die besonders bei Frauen auch Formen aggressiver Besessenheit umfassen können, ein Zusammenhang mit einem Gen-Polymorphismus des 5-HT2A-Rezeptors gefunden, der jedoch nur bei Frauen nachweisbar war.»
Mit der nur bei Frauen auftretenden genetischen Abweichung eines Serotonin-Rezeptors (der Gen-Polymorphismus des 5-HT2A-Rezeptors) soll schließlich der Nachweis für die geschlechtsspezifischen Besonderheiten von Gewalt und Aggression geführt sein, die sich über die unzureichende Regulation des Serotonin-Spiegels vermitteln. Die verzweifelte Suche nach der Geschlechtsspezifität von Gewalt auf neurobiologischer Grundlage ist Bestandteil derjenigen Alltagspraktiken, die die jeweilige Geltung von Männlichkeit und Weiblichkeit erst konstituieren – und somit zirkulär die von Roth, Lück und Strüber in der Literaturstudie zugrunde gelegten sexistischen Annahmen.
Das normativ geleitete Alltagsverständnis weiblicher Nichtkriminalität strukturiert indes nicht nur die neurobiologische Forschung. Diese Normen werden selbst produktiv und streuen sich in das alltägliche Verhalten nicht weniger als in das Experiment. Um diesen Umschlag normativer Erwartungen sexistischer Rollenverteilung in kognitive Erwartungen und letztlich Handlungen zu untersuchen, führten die AutorInnen des Bandes Girls' Violence qualitative Interviews mit weiblichen Mitgliedern von street gangs in St. Louis, Missouri durch. Jody Miller, Norman White, Situational Effects of Gender Inequality on Girls' Participation in Violence, in: Alder, Worrall, (Hrsg.) Girls' Violence. Myths and Realities, Albany 2004 , 173. St. Louis wurde ausgewählt, da diese Stadt nicht nur eine der höchsten Mordraten in den USA aufweist, sondern zugleich »one of the most racially segregated cities in the United States, with considerable gaps between African Americans and whites in income, poverty, and unemployment rates« ist. Gewalt sei hierbei zu verstehen »as a means of explaining differences in women's and men's offending. Here, violence is described as a ›resource‹ for accomplishing gender – for demonstrating masculinity in a given context or situation.« Miller, White, Effects, 168.
Ein weibliches Gangmitglied gibt hierzu an:
»See, women, they won't really do nothing. They say, ›oh, oh, ok, here take this.‹ A dude, he might try to put up a fight.« Dementsprechend werde bei Überfällen auf Frauen die Verwendung von Schusswaffen als unnötig betrachten, während einfache körperliche Gewalt zur Anwendung gelangt: »We push 'em and tell them up to their shit, pushing 'em hard in the head. Couple of times we had to knock the girls down and took the stuff off them.« Ebd., 176.
Überfielen die jungen Frauen demgegenüber Männer, kämen fast immer Schusswaffen zur Anwendung, da die Täterinnen davon ausgehen, auf größeren Widerstand zu stoßen. Zudem seien »the circumstances surrounding female-on-male robberies differed as well. Young women's strategy for robbing men involved pretending to be sexually interested in their male victims.« Ebd. Die Täterinnen setzten zur Begehung der Überfälle also auf die Erwartung, Männer erwarteten von Frauen, diese »won't be armed, won't attempt to rob a man.« Ebd. Eine Befragte erklärt diesbezüglich: »They don't suspect that a girl gonna try to get 'em. You know what I'm saying? So it's kind of easier 'cause they like, she looks innocent, she ain't gonna do this, bit that's how I get 'em. They put their guard down to a woman...« Ebd., 177.
Die AutorInnen deuten diese Strategien als Ausdruck der »clear gender hierarchy that exists on the streets. Young women are participating in a male dominated environment, and their actions reflect an understanding of this.« Ebd. Dabei werde ein brüchiger Umgang mit den jeweiligen geschlechtsspezifischen Erwartungen deutlich. Einerseits gehen die jungen Frauen, überfallen sie andere Frauen, davon aus, diese leisteten keinen Widerstand. Überfielen sie aber Männer, werden eben diese Stereotype, die sie selbst als handlungsleitend anwenden, praktisch dementiert, um die Schwachstellen männlicher Opfer auszunutzen. Letztlich reflektieren und benutzen die weiblichen Mitglieder der street gangs die an sie herangetragenen geschlechtsspezifischen und rassistischen Erwartungen auch im Umgang mit den Strafverfolgungsbehörden kreativ. Eine junge Frau beschreibt beispielsweise: »Like when we are in a car, if a girl and a dude are in a car, the police tend not to trip off it. When they look to see if a car been stolen, police just don't trip off it. But if they see three or four niggers in that car, the police stop you automatically, boom...« Ebd., 181.
Soll also erklärt werden, so die Schlussfolgerung der AutorInnen, wie, wo und wann die jungen Frauen zu Gewalt griffen, um ihre Interessen durchzusetzen, müsse der in der Anwendung von Gewalt mündende Entscheidungsfindungsprozess in den vorgängigen Bedeutungszusammenhang eingebettet werden, der auf den jeweiligen kulturellen Bestimmungen von Männlichkeit und Weiblichkeit fußt: »As we have described, in each case, girls' gendered techniques and actions represent practical choices they make while taking into account the gendered nature of their environments. [...] Gender also shapes and limits girls' use of violence in street gangs.« Ebd., 186.
Die qualitative Forschung zeigte gegenüber der experimentellen, dass noch vor den geschlechtsspezifischen Reaktions- und Selektionsvorgängen auf Kriminalität das kulturelle Geschlecht den möglichen Raum bestimmt, in dem sich die Geschlechter bewegen und Gewalt anwenden können, ohne gegen normative Erwartungen zu verstoßen. Wenn die befragten weiblichen Mitglieder der street gangs ihre Interessen mit konfrontativer Gewalt durchsetzen, dementieren und reproduzieren sie die in normativen Erwartungen verankerten sexistischen Strukturen. Dadurch ist zugleich deren Offenheit und Geschlossenheit aufgezeigt. Der blinde, positivistische Begriff von Gewaltkriminalität der experimentellen Forschung kann demgegenüber nur ordnungspolitische Vorgaben erfüllen: Als Gewalt ist allein sichtbar, was die gute Ordnung stört. Dass Statistiken als Ausfluss normativer Erwartungen einen großen Teil der Wirklichkeit der konfrontativen weiblichen Gewalt ausblenden, ist nicht allzu schwer nachzuweisen. Weiter führt es jedoch, die angeführte experimentelle Forschung und die spezifische Form der Straßengewalt der befragten Frauen gleichermaßen als Realisierung der normativen Ordnung zu verstehen: als soziale Praxis, die die insoweit produktive Norm namens »geschlechtliche Ordnung« materialisiert. Das Allgemeine bleibt so sehr der Fall, dass es (fast) nichts zuließe, was nicht der Fall wäre. Der naturwissenschaftliche »Nachweis« weiblicher Nichtkriminalität bestätigt so nicht den Vorrang der Natur, sondern den der Norm.
Dass und wie also die kulturelle Kategorie gender einem neurowissenschaftlichen Beschreibungssystem zugänglich sein kann, ist nur als über die stets vorgängige soziale Produktion von Geschlecht vermittelt abzusehen. Versuchen Roth, Lück und Strüber in der genannten Literaturstudie, den Nachweis zwischen dem Hormon Testosteron und zwingender männlicher Aggressivität dadurch herzustellen, dass sie darauf verweisen, nach einem Sportwettkampf oder Schachspiel zweier Männer sinke der Testosteronspiegel des Besiegten, steige hingegen der des Siegers, bleibt die Bedeutung der Niederlage stets vorrangig. Der als Bestätigung dieses »Befundes« formulierte Satz »Bei Frauen tritt dieser Effekt nicht auf« weist die produktive Kraft der Norm bis in die Körperchemie hinein auf.
~Von Stefan Krauth. Der Autor lebt in Berlin.