»Dieses Buch ist ein Experiment. Wie zwei korrosive Säuren, die man unter Laborbedingungen zusammenrührt, um eine chemische Reaktion auszulösen, sollen zwei Autoren miteinander in Verbindung gebracht werden, die bei aller scheinbaren Verschiedenheit zuerst die ätzende Schärfe ihrer Dekonstruktionen gemeinsam haben.« Keine treffendere Ouvertüre hätte Philipp Sarasin für sein jüngstes Werk Darwin und Foucault – Genealogie und Geschichte im Zeitalter der Biologie wählen können. Das Buch des Schweizer Historikers und Foucaultspezialisten Sarasin will aber nicht einfach nur einen Vergleich zweier bedeutender Persönlichkeiten leisten, sondern einen Dialog zwischen Kultur und Natur, zwischen Geisteswissenschaft und Biologie und schließlich zwischen Darwin und Foucault anberaumen. Diese stehen im Buch jeweils für zwei Pole, die, wie Sarasin herausstellen wird, keine gegensätzlichen sind. Dazu befreit der Autor die beiden Protagonisten aus ihren falschen Kronzeugenpositionen, »denn Foucault war kein Kulturalist« und »Darwin […] hat wesentlich kulturalistischer argumentiert, als das dominierende Verständnis der Evolutionstheorie uns bis heute glauben lassen will.« Der nächste Schritt, den Sarasin sehr gewissenhaft und mit äußerst ausführlicher Quellenarbeit begeht, besteht darin, Charles Darwin vom Darwinismus als politischem Konzept mit all seinen Folgen freizusprechen. Auch wenn Darwin nach der Lektüre des Buches weiterhin zum eurozentristischen Zeitgeist des viktorianischen Englands zu zählen ist, scheut Sarasin diesbezüglich keine Mühen. Das ist nicht überraschend, weil es dem aktuellen Trend der Darwin-Rezeption folgt. Und weil es notwendig ist für den angestrebten Dialog mit Michel Foucault, denn auch Sarasin weiß, »dass er [Foucault] sich immer und vollständig vom politisierten Darwinismus distanziert hatte.« Bis auf das Abschlusskapitel hält sich Sarasin vornehm zurück und überlässt den beiden Hauptprotagonisten des Buches auf brillante Art und Weise den Schauplatz der geistigen Auseinandersetzung, ähnlich einem Chemiker, der – einmal das Experiment in Gang gebracht – keinen Einfluss mehr auf den weiteren Verlauf des Versuches nehmen kann.
Nach und nach decken sich die Gemeinsamkeiten und Verbindungen zwischen Foucault und Darwin auf. Beide besitzen eine Vorstellung von ungeplanter Entwicklung, die geprägt ist von Diskontinuitäten, Zufällen und offenen Kräfteverhältnissen, ohne aber bestimmte Notwendigkeiten zu negieren. »Es gibt keinen Großen Plan«, wie Sarasin folglich bemerkt »und keine dialektische Synthese, durch die hindurch sich die Geschichte zu einem wie auch immer konzipierten vernünftigen Ziel hin bewegen würde.« Weder die Evolution der organischen Materie, noch die kulturelle Entwicklung der Gesellschaft seien zielgerichtet oder gradlinig. Was aber Foucault insbesondere mit Darwin verbindet, ist die genealogische Methode. Dieses Denkwerkzeug hat Foucault bekanntlich von Nietzsche übernommen, aber es stellt eben auch einen Verwandtschaftshinweis zu Darwin dar. Alle drei verbindet als Genealogen vor allem eins: »Was der Genealoge ins Säurebad seiner Kritik taucht, verliert sein prätendiertes Sosein und erweist sich als Zusammengesetztes, als Konstrukt, als Gewordenes; der Genealoge führt […] jedes Sein wieder dem Werden zu.« Das trifft auch auf Darwin zu, der zwar selbst fleißig klassifizierte, aber für die Schritte der Evolution vielmehr die individuellen Merkmale des Organismus als die der Art, Gattung oder Familie verantwortlich zeichnete. Anhand gängiger und neu erschlossener Schriften Michel Foucaults diskutiert Sarasin dessen Blick auf das Werk Darwins, die Evolutionstheorie und die moderne Molekularbiologie und kommt dabei zu einer auf der Umschlagseite des Buches provokant festgehaltenen These: »Foucault stammt von Darwin ab.« Das ist so natürlich absolut falsch formuliert, denn heißen muss es (und tut es im Buch auch) richtiger: »Ohne Darwin ist Foucault nur schwer zu verstehen.« Und überhaupt hätte Sarasin gut daran getan, die Verbindung zwischen Darwin und Foucault nicht allzu sehr zu strapazieren. Denn auch wenn der Einfluss Darwins und der modernen Biowissenschaft auf Foucaults Werk im Buch sehr sauber herausgearbeitet wurde, ist die darwinsche Theorie doch nur eine von vielen Inspirationsquellen Foucaults.
Die grundsätzliche Botschaft des Buches ist es dem/der LeserIn zu verdeutlichen, dass die Welt weder durch biologistische noch durch kulturalistische Erklärungsmuster gedeutet werden kann, bzw. dass die Verwobenheit von Natur und Kultur unausweichlich ist. Für die sich bisher gegenseitig ausgrenzenden Wissenschaftszweige entwickelt Sarasin hier einen guten Ansatzpunkt, angeblich bestehende Gesetzmäßigkeiten in Frage zu stellen und neu zu diskutieren. Richtig und wichtig daran ist vor allem, dass natürliche Verhältnisse auch durch kulturelle bestimmt werden. Dafür fügt der Autor verschiedenste Belege ein, z.B. die Damenwahl im Tierreich, bei der das weibliche Tier ohne erkennbaren physiologischen Nutzen seinen Paarungspartner nach optischen Kriterien auswählt und somit kulturellen Aspekten nach, wobei Sarasin den Begriff der Kultur hier bis an seine äußersten Grenzen treibt. Oder das Inzesttabu, welches als kulturelle Leistung des Menschen gilt, im Tierreich aber, wenn auch aus anderen Gründen, ebenfalls eines ist. Insgesamt ist das Buch ein sehr lebendiges, denn neben Darwin, Foucault und Nietzsche treffen sich die verschiedensten NaturwissenschaftlerInnen und PhilosophInnen des »Zeitalters der Biologie« in Sarasins Labor zum experimentellen Gesprächskreis. Philipp Sarasin hat ein vor allem stilistisch wunderbares Werk verfasst, das sowohl den Kulturalismus als auch den Biologismus dekonstruiert und mit bestehenden Sichtweisen bricht. Und gerade dafür sind vor allem ja zwei Personen bekannt: Darwin und Foucault.
~Von Bruno Berhalter.
Philipp Sarasin: Darwin und Foucault – Genealogie und Geschichte im Zeitalter der Biologie, Suhrkamp Verlag, Frankfurt M. 2009, 456 S., € 4,80.