Es gibt Bücher, über die ärgert man sich, bevor man überhaupt die erste Seite gelesen hat. Der sehr großzügige Satz des Textes, dazu 12 Seiten, die allein den sechs Kapitelüberschriften vorbehalten bleiben, ein gerade mal 14 Titel umfassendes Literaturverzeichnis, von denen allein vier aus Wolfgang Leonhards Feder stammen: Man wird den Verdacht nicht los, dass da ein Verlag mit einem bekannten Autoren noch mal eben schnell was publizieren möchte. Lorbeeren werden es jedenfalls nicht sein. Handelt es sich doch bei Anmerkungen zu Stalin in einigen Teilen um einen Nachdruck jenes Buches, mit dem Wolfgang Leonhard nach seinem Bruch mit dem Stalinismus seit den fünfziger Jahren große Bekanntheit erlangte. Ganze Textabschnitte wurden hier übernommen, die sich zum Teil bis in den Wortlaut mit Passagen aus Die Revolution entlässt ihre Kinder decken.
Das ist für KäuferInnen nicht nur ärgerlich, weil sie das autobiographische, durchaus lesenswerte Buch in einer seiner vielen Auflagen für einen Bruchteil des Kaufpreises der Anmerkungen zu Stalin antiquarisch hätten erwerben können. Noch dazu ist Die Revolution entlässt ihre Kinder in etwa sechs mal so umfangreich und gilt als Klassiker der Kommunismusforschung. Der Autor hat sich und seinem guten Ruf mit diesem neuen Buch eigentlich keinen Gefallen getan.
Man muß ihm auf jeden Fall zugestehen, dass er zu den wenigen Linken gehört, die der neuerlichen Sympathiewelle für Stalin in russischen Meinungsumfragen ernsthaft Aufmerksamkeit schenken, aber da es hierzulande glücklicherweise keine ernstzunehmende positive Bezugnahme mehr auf Stalin gibt, stellt sich gleichzeitig die Frage nach der avisierten LeserInnenschaft.
Für einen guten Einführungsband ist der Umfang der Kapitel der Thematik eigentlich nicht angemessen, die Betitelung Anmerkungen zu Stalin trifft in diesem Falle durchaus zu. Die Tragödie, die der Stalinismus in erster Linie für seine Opfer und daraus folgend für das Image des Kommunismus bedeutet, lässt sich schwerlich auf 160 Textseiten fassen. Zumal in den letzten 20 Jahren eine ganze Reihe Bücher zur Stalinzeit erschienen sind, die im Gegensatz zum Schwarzbuch des Kommunismus auch ohne NS-Relativierung auskommen. Wer eines davon gelesen oder sich durch Solschenizyns Archipel Gulag gearbeitet hat, wird aus diesem Buch leider nicht viel Neues erfahren.
Außer vielleicht, dass Wolfgang Leonhards leiblicher Vater der Lenin-Vertraute Mieczyslaw Bronski war und nicht wie lange Zeit angenommen der Dramatiker Rudolf Leonhard. Ja, und? Ein Anliegen Leonhards ist nach wie vor die Ehrenrettung von Marx’ und Engels’ Kommunismusbegriff, mit dem Stalin nicht viel am Hut hatte. Zum einen brach Stalin mit der Verkündung der Doktrin vom »Sozialismus in einem Land« mit dem Internationalismus und der Idee von der Weltrevolution, die Leonhard bei Marx und Engels als wesentliche Prinzipien ihrer Revolutionsidee ausmacht. Entgegen dem Marxschen Gleichheitsideal spricht Stalin lapidar vom Ende der »Gleichmacherei«, etabliert damit eine neue, ihm hörige Privilegiertenschicht und führt aus dem Militarismus stammende Ränge in Partei und Wirtschaftsorganisation ein. Zu dieser militärischen Gesellschaftsstruktur passt die Umsetzung der Kollektivierung der Landwirtschaft. Die »Liquidierung des Kulakentums als Klasse« erfolgt willkürlich und mit brutaler Gewalt. Marx hätte sich angesichts dessen ebenso im Grabe umgedreht, wie bei der Verkündung des »verschärften Klassenkampfes«. In Anbetracht der Tatsache, dass es zu diesem Zeitpunkt faktisch keine Großgrundbesitzer oder kapitalistischen Unternehmer mehr in der Sowjetunion gab, hieß das in der Realität Repression gegen jegliche Dissidenz oder was als solche definiert wurde.
Für viele, die sich heute als antifaschistische Linke oder Antideutsche verstehen, bietet die Lektüre dieses Buches eine inhaltliche Grundlage, nach der sie ihre Formen symbolischer Politik auf den Prüfstand stellen könnten. Wer von den »Stalingrad 43«-T-Shirt-Tragenden oder am 8. Mai UdSSR-Fahnen-Schwenkenden weiß schon von Stalins Befehlen 270 (16.August 1941) und 227 (28.Juli 1942) Der eine verhieß für in gegnerische Kriegsgefangenschaft geratene Sowjetsoldaten den künftigen Status eines Verräters und Volksfeindes – inklusive angedrohter Repressalien für die Angehörigen. Der andere wies die Bildung von Spezialeinheiten an, die unter der Devise »Nicht einen Schritt zurück« auf rückweichende »unstabile Divisionen«, auf sogenannte Panikmacher und Feiglinge schießen mussten. Ungeachtet dessen, dass im hiesigen Kontext eine Alliiertenfahne aus anderen Gründen ihre Berechtigung hat, so kauft man sich in gewisser Weise die Verhöhnung der vielen armen Schweine, die sich quasi nur noch aussuchen konnten, von wem sie erschossen werden, immer mit ein. In dieser Hinsicht hat zumindest der Autor aus seiner Vergangenheit gelernt.
~Von Jens Winter.
Wolfgang Leonhard: Anmerkungen zu Stalin, Rowohlt, Berlin 2009, 187 S., €16,90.