Der Zusammenbruch der bilateralen Weltordnung nach 1989 und die EU-Integration hatten eine politische, wirtschaftliche wie auch soziale und gesellschaftliche Neuorientierung mittel- und osteuropäischer Länder und die Entstehung von Spannungsfeldern zwischen nationalen und supranationalen Normen, zwischen Tradition und Liberalismus zur Folge. Demokratisierung, zunächst wahrgenommen als »Normalisierung«, führte zu einer Retraditionalisierung der Geschlechterverhältnisse, einerseits durch das Wiedererstarken der katholischen Kirche, andererseits durch den Abgrenzungswillen von sozialistischen Politikkonzepten, in diesem Falle dem Gleichheitspostulat.
Anika Keinz untersucht in ihrer Dissertation, wie in Polen im Zuge der sogenannten Demokratisierung und Europäisierung seit 1989 bzw. 2004, die sie als umkämpfte Prozesse der Konstituierung der polnischen Nation beschreibt, Geschlecht und Sexualität als zentrale Gegenstände zur Konstruktion der nationalen Identität und damit einhergehen im Konkurrenzkampf verschiedener politischer AkteurInnen um die Deutungsmacht variabler, global zirkulierender Konzepte wie Demokratie, Gleichheit, Freiheit und Zugehörigkeit lokal und national eingesetzt werden. Ihre Studie betrachtet aus der Perspektive der politischen Anthropologie verschiedene, teils sich überlappende, kontrastierende Diskurse, Strategien, Rede-
weisen und Referenzrahmen der AkteurInnen in und außerhalb Polens, die an den Aushandlungsprozessen von Moralvorstellungen, Gesellschaftsentwürfen und der Rekonfiguration von Machtverhältnissen beteiligt sind und welche soziohistorischen und kulturellen Bezüge sich für diese jeweils als produktiv erweisen. Im Speziellen richtet Keinz in Anlehnung an Bourdieus Konzept des politischen Feldes ihre Aufmerksamkeit mittels Interviews und ihrer Anwesenheit im frauenpolitischen Milieu Warschaus vor allem auf polnische Frauen-NGOs, die in Polen als wichtigste Elemente der Zweiten polnischen Frauenbewegung ab 1993 gelten, wie auch auf informelle Netzwerke, die Regierung, politische Parteien und die katholische Kirche. Ihr Ziel ist eine an Clifford Geertz orientierte »dichte Beschreibung« der Machtverhältnisse im politischen Feld, der Geschlechterverhandlungen und der Wechselwirkungen zwischen verschiedenen politischen und gesellschaftlichen Ebenen, Akteuren, Interessen und Konzepten.
Der Titel mag problematisch erscheinen, deutet doch die Benennung als »die Anderen« darauf hin, dass die Autorin als westeuropäische Forscherin kräftig mitmischt bei der Konstruktion dieser »Anderen« in Polen. Umso genauer beschreibt Keinz die Herstellung ihres Feldes in Warschau und präzisiert den Begriff der »Anderen« im Kontext ihrer Arbeit, also diejenigen, die nicht in das Bild der »polnischen Frau« oder des heterosexuellen Menschen passen. Die Benennung als die »Anderen« deutet darauf hin, dass der nationale Identifikationsprozess, der die im sozialistischen Polen scharf getrennten Sphären von Staat und Nation wieder verbinden soll, nicht ohne die Konstituierung einer Alterität, eines anderen, fremden, explizit als nicht-polnisch oder gar anti-national gekennzeichneten Gegenstücks zur homogenen polnischen, katholischen Nation auskommt. Die Autorin fokussiert die Strukturierung des politischen Feldes und insbesondere die Orte und Momente, wo »die Anderen« sich sichtbar machen: ›Mich interessieren die Interaktionen und Interdiskursivitäten, die dort entstehen, wo jemand die Stimme erhebt, Einspruch einlegt, aufmerkt und damit die vorherrschenden Interpretationen von Nation, Demokratie und Zugehörigkeit in Frage stellt.‹(84)
Mit ihrer Studie knüpft Keinz unter anderem an Untersuchungen von Boena Chouj und Gesine Fuchs zur polnischen Frauenbewegung bzw. zur Bedeutung von Frauenorganisationen für die Entwicklung der Zivilgesellschaft, wie auch von Vlasta Jaluši, Eva Kreisky und Birgit Sauer zu einer ›Maskulinisierung der politischen und öffentlichen Sphäre in den neuen Demokratien Mittel- und Osteuropas‹ an. Während der Feminismus in Polen wie auch die sich wandelnden Machtverhältnisse, die Auswirkungen von Transformation, Demokratisierungsprozess und Europäisierung auf die Geschlechterverhältnisse und die Mobilisierung des frauenpolitischen Milieus bereits ausführlich, wenn auch nicht allumfassend untersucht wurden, bietet Keinz’ Arbeit eine produktive Erweiterung zu diesen Themenkomplexen. Anstelle einer theoretischen Rekonzeptualisierung von Demokratie zeigt die Autorin in einer gelungenen »dichten Beschreibung« auf, wie engagierte Frauen als ›Agentinnen des Wandels (134) agieren, gesellschaftliche Grundsätze ins Wanken bringen und neue Citizenship-Identitäten und Lebensvorstellungen kreieren. Insgesamt ein gut strukturierter Einstieg in die Thematik, wobei die Autorin viele Anregungen für eine weitere Auseinandersetzung gibt, etwa wenn sie abschließend fragt: Polens Andere oder Polens neuen Elite?‹ (257)
~Von Barbara Schnalzger.
Keinz, Anika, Polens Andere. Verhandlung von Geschlecht und Sexualität in Polen nach 1989, transcript Verlag, Bielefeld 2008, 276 S., € 28,80.