Prothetisierung und Sowjetmacht

Über das Reale in Queer, warum die Abschaffung des Kapitalverhältnisses noch keine Geschlechterverhältnisse revolutioniert und wie Sexualtechnologie dabei

Für TheoretikerInnen, deren Blick auf gegenwärtige Gesellschaften wesentlich durch die Marxsche Analyse des Kapitals strukturiert ist, ist der Umgang mit Geschlechterverhältnissen stets ein Problem. Während dem Kapitalverhältnis und den mit seinem Prozessieren notwendig einhergehenden Brutalitäten mit einem einfachen, fast realpolitischen ersten Schritt zu begegnen ist, nämlich mit der Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln und der Übergabe der Kontrolle über Produktion und Distribution an Räte, Sowjets, scheint erstens solch eine Umstrukturierung des Reproduktionszusammenhangs Geschlechterverhältnissen keinen Abbruch tun zu können. Zweitens ist auch kein anderer Ansatzpunkt in Sicht, von dem aus man den Geschlechterverhältnissen die Grundlage entziehen könnte. So etwas wie eine klare Grundlage der Geschlechterverhältnisse scheint es noch nicht einmal zu geben. In marxistischen Gruppen wird die queere oder nicht queere theoretische und praktische Arbeit gegen die gegenwärtigen Geschlechterverhältnisse deshalb häufig milde belächelt oder, auch wenn das heute nicht mehr so heißt, als Nebenwiderspruch abgetan, eben, weil sie immer mit den Erscheinungen kämpft und nicht gegen das Wesen. Noch häufiger allerdings wird solche Arbeit freundlich abgenickt und höflich begrüßt, weil man ja nicht sexistisch wirken will. Selber würde so ein Marxist das aber nicht machen, jedenfalls nicht, solange es sich nicht direkt auf das Kapital beziehen lässt.

Und getrennt vom Kapital sind Geschlechterverhältnisse ja nicht. Tatsächlich änderte sich auch hier mit der Vergesellschaftung der Produktionsmittel im progressiven Sinne Entscheidendes: Ungleiche Bezahlung für Frauen und Männer erledigte sich mit der Abschaffung der Lohnarbeit von selbst; der Konkurrenz um Arbeitsplätze und in Statusfragen, die dankbar Geschlechterverhältnisse als Kampfmittel aufnehmen kann, würde zumindest ihre notwendige Vermittlung mit der individuellen Reproduktion genommen. Auch der vielfach als strukturelle Grundlage der Geschlechterverhältnisse beschworenen Sphärentrennung von produktiver und reproduktiver Arbeit dürfte ihre materielle Basis entzogen sein, wenn das, was heute als produktive Arbeit gilt, nicht mehr als etwas auftaucht, das vom Kapital gewährt wird und wofür man dankbar zu sein hat, was also eine gesellschaftliche Auszeichnung darzustellen scheint, sondern als eine schlichte Notwendigkeit zur gesellschaftlichen Reproduktion.

Nun werden diese Verhältnisse heute, zuerst in den Metropolen, vom Kapital selbst modernisiert. Die alte Trennung von weiblich besetzter Reproduktion und männlich besetzter Produktion hat sich verdoppelt, so dass das zeitgenössische Singletum, das sich aufgrund von Flexibilisierung und Mobilisierung gar keine lebenslängliche Beziehung oder bürgerliche Kleinfamilie mehr leisten kann, sowohl die Lohnarbeit als auch den Haushalt zu bewerkstelligen hat. Besondere Kompetenzen, die dem Weiblichen zugeschrieben werden, dienen heute als Argumente zur Verschärfung der Konkurrenz um Arbeitsplätze, was die Konkurrenzposition von Frauen in manchen Bereichen relativ verbessert, das Lohnniveau aber für Männer und Frauen, also allgemein, senkt. Gerechter ist das schon, doch hier tritt zutage, was modernere Geschlechterverhältnisse von jeher auszeichnete, sie waren und sind nicht nur das Problem eines Geschlechts, sondern das Problem aller Menschen, die der Herrschaft unterworfen waren und sind, und dienten und dienen dem Kapital allein. Auch in der klassischen Trennung war niemandem damit geholfen, dass der Mann nach der Arbeit seinen Wunsch nach Glück vollständig in die wenigen Stunden zuhause vor dem Schlafen verschob. Damals wie heute scheiterte die Verschiebung des Begehrens in die Privatsphäre daran, dass diese mit ihrer Aufgabe, die Menschen wieder arbeitsfähig aufstehen zu lassen, schon mehr als genug belastet ist.

Dennoch gehen Geschlechterverhältnisse heute kaum darin auf, dass sie Modi sind, die die Konkurrenz erzeugt und notwendig macht. Mit dem Kapital allein ist zum Beispiel ganz sicher nicht zu erklären, warum Männern ein Schauer über den Rücken läuft, wenn sie daran denken, dass ihnen ein Schwanz im Arsch steckte. Und daran hat sich auch in den progressivsten gesellschaftlichen Knotenpunkten, mit Schwulenparaden, Christopher Street Days, Darkrooms in hippen Clubs, schwulen Fernsehserien und homosexuellen Nachbarn noch fast gar nichts geändert. Das Kapital erklärt auch nicht, warum Männer ihre Liebe bedroht sehen, wenn ihre Lebensabschnittspartnerin mit einem anderen Typen ins Bett geht, aber Sex, den sie mit einer anderen Frau hat, tendenziell viel weniger bedrohlich finden. Und ganz sicher ist damit nicht zu erklären, warum Männer soviel Angst vor Transsexuellen haben: Sie gehen mit jemandem ins Bett, den sie geil finden und haben guten Sex – im Nachhinein zeigt sich, dass diejenige (um im heterosexistischen Feld zu bleiben) bei ihrer Geburt noch einen Penis hatte, und plötzlich ist der Ekel da. Natürlich sind diese Phänomene alle mit dem Kapitalverhältnis »vermittelt«, aber die Vermittlung ist so grobschlächtig (Status, Konkurrenz, etc.), dass das Insistieren darauf eher eine Ausrede als eine Erklärung liefert. Für den klassischen Marxisten gibt es also Erklärungsnot, die praktisch in die Hilflosigkeit mündet, den Geschlechterverhältnissen eigentlich nichts anhaben zu können.

Will man den Kampf gegen Geschlechterverhältnisse wirklich führen, so kann man sich nicht auf eine etwaige Grundlage wie das Kapital zurückziehen, die zu bekämpfen von der Beschäftigung mit den Geschlechterverhältnissen selbst dispensierte. Geschlechterverhältnisse müssen überall dort bekämpft werden, wo sie sich reproduzieren. Wie allerdings die jeweilige Praxis aussieht, hängt wesentlich davon ab, was man für die Reproduktion der Geschlechterverhältnisse hält und wo sie situiert ist.

Dispositiv

Wenn sich keine Grundlage für Geschlechterverhältnisse finden lässt, auf der anderen Seite aber – und das setze ich hier als Minimalkonsens voraus – klar ist, dass sie nicht natürlich sind, sondern je gesellschaftlich, dann fragt sich, warum sie sich immer wieder herstellen.

 In der vor-postmodernen Linken war eine herrschaftskritische, aber doch recht kurzsichtige Variante der Erklärung, die bürgerlichen Institutionen verantwortlich zu machen. Kurzsichtig, weil es auf der einen Seite die Phänomene ja gibt: Ob Kirche, Schule oder Politikerreden, überall erscheint von offizieller Seite die Lobpreisung heterosexistischer Verhältnisse. Kurzsichtig, auf der anderen Seite, weil das Problem ist, dass die Exekutoren der Macht sich das, was sie verbreiten, nicht ausdenken, sondern selbst schon längst glauben, und es verbreiten, weil sie es für wahr und gut halten. Bürgerliche Institutionen können nicht als Urheber der gegenwärtigen Geschlechterverhältnisse bestimmt werden, sondern nur als entscheidende Knotenpunkte, durch die hindurch sich ihre Reproduktion vermittelt. Michel Foucault hat deshalb in diesem Zusammenhang von Dispositiven der Macht gesprochen: »Unter Macht verstehe ich nicht die Regierungsmacht, als Gesamtheit der Institutionen und Apparate, die die bürgerliche Ordnung in einem gegebenen Staat garantieren. ebensowenig [...] meine ich [...] ein allgemeines Herrschaftssystem, das von einem Element, von einer Gruppe gegen die anderen aufrechterhalten wird und das in sukzessiven Zweiteilungen den gesamten Gesellschaftskörper durchdringt. [...] Unter Macht, scheint mir, ist zunächst zu verstehen: die Vielfältigkeit von Kräfteverhältnissen, die ein Gebiet bevölkern und organisieren.« Michel Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt a.M. 1983, 93. Die Übersetzerinnen des Zitierten bestimmen Dispositiv als »die (materiellen) Vorkehrungen, die eine strategische Operation durchzuführen erlauben.« Foucaults Begriff des Dispositivs geht noch einen Schritt weiter, denn die Strategien selbst, nicht nur die ihnen entsprechenden Operationen, sind Wirkungen des Dispositivs. Die Institutionen, die Staatsapparate sind Verkörperungen der Strategien und insofern ebenso als Wirkungen des Dispositivs zu bestimmen. Andererseits gehen sie immer auch schon in die Kräfteverhältnisse mit ein und sind somit selbst Teil des Dispositivs.

 Bei Foucault bleibt das Dispositiv ein recht abstraktes theoretisches Konstrukt, dessen Wirksamkeit anhand von allerhand Beispielen dargestellt wird, dessen konkrete Struktur aber nirgendwo auch nur annähernd beschrieben ist. Judith Butler hingegen versucht für das Dispositiv der Sexualität, in ihren Worten: die heterosexuelle Matrix, genau das zu leisten, indem sie die verschiedenen Positionen bestimmt, die das Subjekt einnehmen kann, und diejenigen, die einzunehmen es in den Raum des gesellschaftlich nicht Repräsentierten, des nicht Erlaubten, des Verworfenen, nach Butler: des Abjekten, verbannt ist. Nach Butler ist es die Ordnung der erlaubten Positionen selbst, die sich dadurch, dass sie alles ihr nicht Gemäße verwirft, selbst wiederum erzeugt, der Grund der Verwerfung. Wie bei Foucault gibt es nicht den privilegierten Ort, von dem aus Macht wirkt, sondern jeder Knotenpunkt der Macht ist ebenso Wirkung wie er wirkend ist. Staatsapparate beispielsweise repräsentieren die sexuelle Matrix, die ihnen vorausgesetzt ist, und erzeugen sie dadurch erneut. Die Matrix ist dabei nicht beliebig, sondern dreht sich nach Butler vollständig um den Phallus als Repräsentant des Geschlechterverhältnisses: Der heterosexuelle Mann hat den Phallus, die heterosexuelle Frau spiegelt sein Haben wider (und »ist« dadurch für Butler der Phallus). Aber auch die ausgeschlossenen Positionen sind sämtlich auf den Phallus bezogen: »Männer, die begehren, der Phallus für andere Männer zu ›sein‹, Frauen, die begehren, für andere Frauen den Phallus zu ›haben‹, Frauen, die es verlangt, für andere Frauen der Phallus zu ›sein‹, Männer, die für andere Männer sowohl den Phallus haben wollen, als auch der Phallus sein wollen, [...] Männer, die der Phallus für eine Frau ›sein‹ wollen, die ihn ›hat‹, Frauen, die ›ihn haben‹ wollen für einen Mann, der der Phallus ist.« Judith Butler, Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Frankfurt a.M. 1997, 150.

Ganz unabhängig davon, was dieser Phallus nun wirklich bedeutet und was die Psychoanalyse damit zu erklären ermöglicht, zeigt sich in dem Repräsentanten Phallus eine mehrfache differentielle Struktur im Geschlechterverhältnis: Das begehrende Subjekt empfindet seinen Körper als männlich oder weiblich, mit Schwanz oder ohne, und zwar ganz unabhängig davon, ob der nun biologisch vorhanden ist oder nicht. Es begehrt seinen eigenen Körper als männlich oder weiblich, ganz unabhängig davon, wie es ihn empfindet. Es begehrt andere Körper als männlich oder weiblich, und es begehrt andere Subjekte als ihrerseits Männliches oder Weibliches begehrend. Darüber hinaus nimmt es ein Verhalten an, das es als männlich oder weiblich markiert (stark, schwach etc.) und begehrt bei anderen ein Verhalten, das männlich oder weiblich markiert ist, ganz unabhängig davon, wie die jeweiligen Körper markiert sind. Es mag Ausnahmen geben, es mag Menschen geben, die andere auf Grund von Merkmalen begehren, die nichts mit sexueller Differenz zu schaffen haben, aber im Regelfall, das heißt auch im Regelfall einer nicht der heterosexistischen Norm entsprechenden Sexualität, scheint mir die durchgehende Beziehung auf das mehrfach differenzielle Verhältnis durchaus gegeben zu sein.

Was bei Butler dabei verloren geht, ist, was bei Foucault zumindest anklang, nämlich die Darstellung der materiellen Wirksamkeit der Positionen. Bei Butler wird Wirksamkeit unter dem Label Performativität gefasst, die nichts anderes bedeutet als die fortlaufende Reproduktion des Geschlechterverhältnisses allein dadurch, dass es es gibt. Dass Butler von Materialisierungen redet, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Figur der Performativität die idealistische der Tautologie ist, in der das Mächtige dadurch mächtig bleibt, dass es mächtig ist. Nicht ohne Grund fällt Butler zur Begründung der hegemonialen Stellung des Heterosexismus nichts anderes ein als die Psychoanalyse, die die Machtstellung des Phallus theoretisch reproduziert. Was der Begriff des Dispositivs noch beanspruchte, nämlich »die Dualität von diskursiven und nicht diskursiven Formationen zu überwinden, [...] und zu erklären, wie die beiden Arten von Formationen sich aufteilen oder sich segmentweise verschränken«, geht dabei vollständig verloren und wird zurückgenommen in eine bloße Theorie des Diskurses.

Revolution

Die Beobachtung, dass der Phallus der strukturierende Repräsentant schlechthin ist, findet eine Grundlage in einem scheinbar ganz anderen Feld, nämlich in der Sorge um die gesellschaftliche Reproduktion: Ganz materiell ist jede Gesellschaft zu ihrer Reproduktion auf ein mehr oder weniger bestimmtes Verhältnis von arbeitsfähigen, noch nicht arbeitsfähigen und nicht mehr arbeitsfähigen Menschen angewiesen. Nimmt die Masse der nicht mehr Arbeitsfähigen disproportional zu, oder sinkt die Masse der noch nicht Arbeitsfähigen disproportional, ist die reibungslose gesellschaftliche Reproduktion gefährdet. Das ist das rationale Moment jeder Bevölkerungspolitik. Unter der Herrschaft kapitalistischer Produktionsweise tritt diese allgemeine Sorge aber in einer spezifischen Form zu Tage, in der sich der Zweck der Bevölkerungspolitik immer gegen Menschen wendet. So ist es für Volksökonomien nicht entscheidend, dass die demographische Entwicklung der Menschheit eine bestimmte Verhältnismäßigkeit aufweist, sondern entscheidend ist, dass Deutsche genügend deutsche Kinder haben. Außerdem sind Kinder mitnichten dazu da, dass ältere Menschen an mehr Produkte herankommen, sondern zunächst dazu, dass genügend deutsche Arbeitskraft und insbesondere eine Reservearmee für das Kapital vorhanden ist. Auch wird es nicht als bloße traurige Notwendigkeit verkauft, dass die demographische Entwicklung im Auge behalten werden muss, sondern Bevölkerungspolitik wird als positiver Zweck durchgeführt. Auf jeden Fall gab es in Gesellschaften und zuvor im kleineren Kreis in Familien immer die Notwendigkeit, biologische Geschlechter zu praktizieren, weil die Reproduktion der Menschen als Säugetiere nicht anders möglich war als durch Sperma, Eizelle und Gebärmutter hindurch. Bis heute wird das als dem Menschen wesentlich behauptet: Säugetier plus Vernunftbegabung, Penis oder Vagina plus Kopf. Selbst wenn es tausende Spielarten der Sexualität gäbe, hätte der Genitalverkehr von Frau und Mann in dieser Vorstellung doch immer eine Sonderstellung, als die einzige konkrete Spielart der Sexualität, die dem Menschen wesentlich und notwendig ist. Kein Wunder also, wenn von dieser Sexualität aus alle anderen Spielarten als Abweichungen, als Differenzen von dieser gesehen werden. Kein Wunder, wenn die jeweilige Stellung zum Phallus das Strukturierende in der gesamten Ordnung der Sexualitäten darstellt.

Die Bestimmung des Menschen als Säugetier ist aber in Bezug darauf, dass es Geschichte gibt, so abstrakt, dass sie falsch wird. Zumindest soweit es darum geht, die Säugetierhaftigkeit als sein Wesen zu bestimmen. Menschen haben sich eben als die Spezies herausgearbeitet, deren wesentliche Bestimmtheit je in ihrer Gesellschaftlichkeit liegt und insofern nicht transhistorisch zu bestimmen ist. Die Produktivkraft ist so weit entwickelt, dass Invitro-Fertilisation längst möglich ist und die Entwicklung von Menschen ohne Mutterbauch zumindest am Horizont. Und das ist nicht akzidentell. Von der aktuellen Gestalt der Technik aus kann die Reproduktion über Geschlechtsverkehr und Schwangerschaft in keiner Weise mehr als privilegiert gesehen werden. Dass sie nach wie vor für die meisten Menschen die einzige Wahlmöglichkeit ist, muss von der realen Möglichkeit modernerer Reproduktionstechniken her vielmehr als Mangel bestimmt werden.

Dieser im Grunde marxistische Gedanke, die Kritik der Wirklichkeit nicht von irgendeinem Ideal oder einer Idee, sondern von den realen Möglichkeiten her zu führen, die die Wirklichkeit entwickelt, aber deren Aktualisierung sie systematisch verhindert, tauchte in Bezug auf das Geschlechterverhältnis implizit zuerst bei Donna Haraway auf. Deren Cyborgmanifest machte deutlich, dass die Wesensbestimmung des Menschen heute nicht mehr unabhängig von der technischen Gestalt der Gesellschaft gefasst werden kann, und dass insofern die Natur des Menschen heute die Durchdringung von Organischem und Maschinellem, der, oder nach Haraway: die Cyborg ist. Selbst den menschlichen Körper von dem abzutrennen, was zunächst als seine Umgebung erscheint, ist insofern schlecht abstrakt, als es so etwas wie einen sich erhaltenden Organismus, der Stoffwechsel mit der Natur betreibe – wie noch Marx es formuliert hat – schlicht nicht gibt. Alles, womit Menschen Stoffwechsel betreiben, ist das Produkt, nicht ursprüngliches Material. Der menschliche Körper auf der anderen Seite ist ebenso Produkt: von Medizin, von Wellnessfarmen, von Sport und was auch immer. Die Grenze, die mit den Umrissen des Körpers gesetzt wird, ist deshalb nicht erst da falsch, wo es um Herzschrittmacher und künstliche Darmausgänge geht, sondern in jedem Fall ragt das scheinbar Äußerliche in den Körper hinein und vice versa. Die Welt ist, wenn man so will, Prothese, Teil des Körpers und nicht Teil des Körpers zugleich, auf jeden Fall aber etwas, was Handlungsfähigkeit und Genuss einschränkt, wenn der Zugriff auf die technischen Möglichkeiten fehlt.

Radikalisiert wird der Gedanke bei Beatriz Preciado, die nicht nur die Notwendigkeit der Reproduktion von der Sexualität vollständig trennt, sondern die Sexualität selbst vom Stand der Produktivkraft aus bestimmt. Wie überall auf der Welt ist auch der Sex ohne Technik heute nicht als das Eigentliche oder Echteste, sondern im Gegenteil nur als Mangel zu bestimmen. Der Penis muss, sobald es den Dildo als industrielles Produkt gibt, als mangelhafter Dildo, als schlecht funktionierende Prothese bestimmt werden: weniger flexibel, weniger abtrennbar, nur temporär einsetzbar etc. Das, was der Mann als seine besondere Bedeutung in der Schöpfung sehen konnte, wird von Preciado mit einem Rundumschlag beseitigt. Die Welt braucht kein Sperma, die Welt braucht keinen Schwanz. Damit ist – theoretisch – die gesamte heterosexistische Ordnung aus den Angeln gehoben.

 Das Problem ist nur: Reale Möglichkeit ist nicht gleich Wirklichkeit. Es ist nicht so, wie Antonio Negri und Michael Hardt es sich vorstellen, dass man einfach nur die Scheuklappen entfernen müsste, und sofort würde sich innerhalb der Gegenwart zeigen, dass die Emanzipation schon da ist. Statt dessen gibt es, wie es einen Doppelcharakter der gesellschaftlichen Reproduktion überhaupt gibt, auch einen Doppelcharakter der Sexualität. Selbst wenn innerhalb gegenwärtiger Zusammenhänge die Trennung von Reproduktion und Sexualität durchgesetzt würde, selbst wenn Invitro-Methoden weiter reichenden Einsatz fänden, hieße das eben nicht, dass Menschen dadurch das Leben erleichtert werden sollte. Im Gegenteil gibt es schon heute eine Tendenz, Frauen aus gehobeneren Schichten von der Reproduktionsnotwendigkeit zu entbinden, und statt dessen Unterschichtfrauen als Gebärmaschinen einzustellen. Zwar mag das Kapital, was die Sexualität angeht, ständig reale Möglichkeiten der Emanzipation erzeugen, es verhindert die Emanzipation aber auch gleichzeitig und nutzt die gleichen Möglichkeiten für seinen eigentlichen Zweck, seine Akkumulation. »Die Lösung der technischen Frage erübrigt nicht die der sozialen«, schreibt Dietmar Dath in diesem Zusammenhang. Dietmar Dath, Maschinenwinter. Wissen, Technik, Sozialismus. Eine Streitschrift, Frankfurt a.M. 2008, 68. Und das ist das Problem, dass weder Haraway noch Preciado wirklich sehen. Stattdessen existiert »Geschichtlichkeit [...] hier nur noch im Aufsaugen derjenigen technologischen Ersetzungen der Körper, die der kapitalistische Fortschritt im Stande der Industrie bereitstellte«, Christiane Ketteler/Kerstin Stakemeier, Positively Nasty II, in: Phase 2.27, 72. ohne irgendeine Vorstellung der die Geschichte strukturierenden Zwecke und als reine Affirmation, wie Ketteler und Stakemeier schreiben.

Was also bleibt ist: Die Idee ist richtig. Durch eine zu angemessenen Zwecken eingesetzte Technik muss das Wesen des Menschen materiell neu bestimmt werden, fernab von dem Bezug auf Reproduktion durch Genitalverkehr. Worum es gehen muss, ist nicht Diskursverschiebung, sondern der Kampf um den Zugriff auf das längst Mögliche. Dieser Kampf geht keineswegs auf in dem Kampf um eine neue Verfügungsmacht über die Produktionsmittel, er setzt ihn allerdings voraus. Eine vernünftige Umgehensweise mit Sexualtechnologie wie mit jeder anderen Technologie setzt voraus, dass nicht das Kapital den Zweck vorgibt. Queere Kämpfe, die das Geschlecht abschaffen wollen, und antikapitalistische Kämpfe, die die Verfügungsmacht über die Technik in die Hände der Menschen legen wollen, müssen also in der Konsequenz zusammengehen. Die Parole für zeitgemäße queere Theorie wäre insofern: Prothetisierung und Sowjetmacht!

~Von Oliver Jelinski.