2 09

German Gedächtnis

Die Europäisierung der deutschen Geschichte

September 2003

Editorial

Auch wenn die Bild ängstlich fragt: »Sind wir bald alle Afrikaner?«, wissen wir es doch eigentlich besser. Wir sind Deutsche. Auf uns lastet die Verantwortung. Und wir sind Europäerinnen, uns eint mit dem Rest Europa, gemeinsam das dunkle Kapitel Zweiter Weltkrieg durchgestanden und gelitten zu haben. Die deutsche Identität, sie wird gefeiert und konstruiert – allgegenwärtig. Weiter

Inhalt

Top Story

Phase 2 Leipzig

Die Europäisierung der deutschen Geschichte

Zum Schwerpunkt dieser Ausgabe

Wenn in New York das Licht ausgeht, dann geht den Deutschen eins auf. Endlich, und ganz ohne Wunderwaffe, zeigt sich eine Schwäche des Konkurrenten. Dass der »Spiegel« die »Weltmacht ohne Strom« zur Titelstory aufbauschte, beruhte weniger auf den Anforderungen des Nachrichtenjournalismus. Die Blattmacher ließen sich wohl eher vom »Prinzip Hoffnung« leiten. In Hamburg sah man das »Nervenzentrum der Vereinigten Staaten« getroffen und glaubte, die »Verwundbarkeit der selbstbewussten Weltmacht« entlarvt. Im Jargon der Kriegsberichterstattung spiegelte sich der Unmut über eine Weltordnung, in der man selber nur an zweiter Stelle das Sagen hat. So lange die zur Aufholjagd trommelnde Nation nur die deutlich kleineren Knüppel schwingen kann, sind die Missgeschicke des Gegners Balsam für die deutsche Seele. Wenn die Schwierigkeiten der USA, im Irak stabile Verhältnisse zu gewährleisten, beurteilt werden, spürt man die gar nicht so heimliche Freude. Aus diesem oder jenem Zeitungskommentar lässt sich der Wunsch nach einem zweiten Vietnam herauslesen.(1) Weiter…

Phase 2 Leipzig

German Gedächtnis – Das Konzept einer feindlichen Übernahme

Die Kerneuropäisierung des Shoah-Gedächtnis’ kommt der TäterInnengesellschaft ganz recht

Dass Erinnerung nicht nur die individuellen Spannungen zwischen Gedenken und Vergessen vermittelt, sondern vielmehr auch ein gegenwartsbezogenes und ideologisch-identitäres Konstrukt darstellt, hat Maurice Halbwachs, der Erfinder des heute überschwänglich zitierten kollektiven Gedächtnisses, bereits vor Jahrzehnten festgestellt. Das gegenwartsbezogene Arrangement von Vergangenheit ist die handlungsleitende Maxime von Gedächtniskulturen, so der Durkheim-Schüler. Hätte der 1945 im KZ Buchenwald ermordete Halbwachs geahnt, welche geschichtsumkehrende Wirkung der Begriff des Gedächtnis heute im Dunstkreis deutscher »Vergangenheitsauseinandersetzung« obliegen muss, er hätte seine theoretischen Fragmente des mémoire collective wohl in der Schublade behalten. Denn nicht nur die letzten knapp 60 Jahre bundesrepublikanischer Geschichtsentsorgung, sondern vielmehr die aktuellen Momentaufnahmen der Berliner Republik zeugen davon, dass die Erinnerungen an die Shoah, dem »Zivilisationsbruch der Moderne«, einen Paradigmenwechsel erfahren, die unter dem vorgeschobenen neuen Imperativ der weltbürgerlichen Versöhnung nur eines im Auge hat: In deutschen Täter-Landen wieder klar Schiff zu machen, oder besser, die olle Fregatte der negativ begründeten Nation wieder in den Wind zu setzen.   Weiter…

Phase 2 Leipzig

Anthropologisierung des Leidens

Interview mit dem Historiker Dan Diner

Dan Diner ist Professor für Geschichte an der Hebrew University Jerusalem und Direktor des Simon-Dubnow-Instituts für jüdische Geschichte und Kultur an der Universität Leipzig. Zu seinen letzten Veröffentlichungen gehören u.a. Feindbild Amerika. Über die Beständigkeit eines Ressentiments (München 2002) sowie der Sammelband Gedächtniszeiten. Über jüdische und andere Geschichten (München 2003).   Weiter…

Alexander Reutlinger und Christoph Schaub

Entleerung des Opferbegriffs

Über die erinnerungspolitischen Motive der Gruppe 47 als Symptom der Durchsetzung deutscher Normalität nach Auschwitz

Ein die kulturpolitische Entwicklung der Bundesrepublik maßgeblich mitbestimmender Literat nach dem Zivilisationsbruch der Shoah in programmatischer Absicht: »Die deutsche Literatur hätte aus vielen sehr guten Gründen die Verpflichtung, sich aus dem Leerlauf ihrer Tradition zu lösen und wieder genauso kühn, so unvoreingenommen und unnachsichtig zu sein, wie sie es nach 1918 gewesen ist« (Hans Werner Richter, 1962). Im Herbst 2000 »zittert« Martin Walser wie als Antwort »jetzt wieder vor [dieser; Verf.] Kühnheit«: »Auschwitz eignet sich nicht dafür, Routine zu werden […]. Was durch Ritualisierung zustande kommt, ist von der Qualität eines Lippengebets. Aber in welchen Verdacht gerät man, wenn man sagt, die Deutschen seien ein ganz normales Volk, eine ganz gewöhnliche Gesellschaft?«(1). Welche Vorstellung von Täter-Opfer-Relationen bestimmen die Erinnerungsdebatte von derjenigen maßgeblichen Strömung, die von der Gruppe 47 ausging und welcher sowohl Richter als auch Walser angehörten? Wie muss diese Relation gedacht werden, wenn diese Protagonisten mit ihr unterstellen können, »dass die Intellektuellen, die [die unvergängliche Schande; Verf.] uns vorhalten, dadurch, dass sie uns die Schande vorhalten, eine Sekunde lang der Illusion, sie hätten sich, weil sie wieder im grausamen Erinnerungsdienst gearbeitet haben, ein wenig entschuldigt, seien für einen Augenblick sogar näher bei den Opfern als bei den Tätern«?(2) I. Wohl erst in der Bewusstwerdung einer kategorisch zu setzenden Differenz zwischen dem »Juden« als imaginiertem Gegenstand antisemitischer Projektion und dem Individuum kann der in Auschwitz Ermordeten emanzipatorisch erinnert werden. Im Mechanismus der Projektion (also der Verlagerung von Regungen und versagten Wünschen aus dem Subjekt in ein Objekt, wobei diese Gegenstände der Verlagerung objektfremd sind) erscheint das einzelne Individuum lediglich als integraler Bestandteil eines Systems: als Exemplar einer projizierten »Gattung«, die konsequent aus der NS-Rassenideologie hervorgeht. In diesem Ressentiment gegen Juden kann es im Blick des Antisemiten kein außerhalb der hermetisch abgeschlossenen Gesamtheit der Gattung stehendes Individuum mehr geben, da dieses das Funktionieren des Ressentiments durch seine Widersprüchlichkeit zur konstituierenden Projektion stören würde. Darum muss die Projektion total sein. Nimmt man nun diese Totalität der Gattung als Begriff, der tatsächlich mit einer Person identifiziert wird, und nicht als Produkt der Projektion wahr, schließt sich die konkrete Erinnerung an den Einzelnen von selbst aus, weil das Einzelne in diesem projizierten Zusammenhang nicht mehr zu verorten ist. Denn die Gewalt der Vernichtung in den Lagern hat den projizierten, noch (und immer wieder neu) zu erfindenden Gegenstand des Antisemitismus geschaffen: die Millionen Opfer der Vernichtung starben nicht in ihrer Heterogenität als Personen, sondern als Exemplare einer Totalität. Mit der Vernichtung verhärtete sich die pathologische »Gattung der Juden« zur Realität, insofern sich die Täter im Akt der systematischen Ermordung der Wirkungsmächtigkeit ihrer Kategorien grausam selbst vergewisserten, da im Moment der Vernichtung »der Jude« auch körperlich zur »Realität« der Projektion geformt wird, indem er ermordet wird. Weiter…

Tobias Ebbrecht

Deutscher Rechtsfrieden

Die Ablehnung von Entschädigungsklagen vor deutschen Gerichten zeigt die Kontinuität der Ignoranz, mit der man in Deutschland den Forderungen von Überlebenden begegnet

Nach monatelanger Verzögerung meldete die deutsche Entschädigungsstiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft« im Juni den Beginn der Auszahlung der sogenannten zweiten Rate an ehemalige KZ- und Ghettohäftlinge in Tschechien.(1) Obwohl es bereits ein Hohn ist, dass sich die deutsche Stiftung als Schuldnerin selbst ein Ratenzahlungsverfahren ermöglicht, bezweckte die Herauszögerung der Zahlungen vor allem die Verlängerung des Spiels auf Zeit. Weiter…

Phase 2 Göttingen

Aus dem Innenleben der Abstammungsgemeinschaft

Sowohl in der Debatte um das DAS »Zentrum gegen Vertreibung« als auch im Wirken der »Gesellschaft für bedrohte Völker« spiegelt sich deutsch-völkischer Nationalismus

Die aktuellen Debatte um das erinnerungspolitische Projekt »Zentrum gegen Vertreibung« (ZgV) steht wie erwartet im Zeichen deutscher Revisionsansprüche der sogenannten »Volksdeutschen« und »Vertriebenen« gegenüber den ehemalig besetzten osteuropäischen Ländern und wird einmal mehr zum Indikator der politischen Potenz und Aktualität deutsch-völkischer Bestrebungen. Die Idee eines solchen Zentrums in Berlin wurde vom »Bund der Vertriebenen« (BdV) 2000 ins Leben gerufen und fand im vergangenem Jahr parteiübergreifende Zustimmung im Bundestag. Weiter…