Alexander Reutlinger und Christoph Schaub
Entleerung des Opferbegriffs
Über die erinnerungspolitischen Motive der Gruppe 47 als Symptom der Durchsetzung deutscher Normalität nach Auschwitz
Ein die kulturpolitische Entwicklung der Bundesrepublik maßgeblich mitbestimmender Literat nach dem Zivilisationsbruch der Shoah in programmatischer Absicht: »Die deutsche Literatur hätte aus vielen sehr guten Gründen die Verpflichtung, sich aus dem Leerlauf ihrer Tradition zu lösen und wieder genauso kühn, so unvoreingenommen und unnachsichtig zu sein, wie sie es nach 1918 gewesen ist« (Hans Werner Richter, 1962). Im Herbst 2000 »zittert« Martin Walser wie als Antwort »jetzt wieder vor [dieser; Verf.] Kühnheit«: »Auschwitz eignet sich nicht dafür, Routine zu werden […]. Was durch Ritualisierung zustande kommt, ist von der Qualität eines Lippengebets. Aber in welchen Verdacht gerät man, wenn man sagt, die Deutschen seien ein ganz normales Volk, eine ganz gewöhnliche Gesellschaft?«(1). Welche Vorstellung von Täter-Opfer-Relationen bestimmen die Erinnerungsdebatte von derjenigen maßgeblichen Strömung, die von der Gruppe 47 ausging und welcher sowohl Richter als auch Walser angehörten? Wie muss diese Relation gedacht werden, wenn diese Protagonisten mit ihr unterstellen können, »dass die Intellektuellen, die [die unvergängliche Schande; Verf.] uns vorhalten, dadurch, dass sie uns die Schande vorhalten, eine Sekunde lang der Illusion, sie hätten sich, weil sie wieder im grausamen Erinnerungsdienst gearbeitet haben, ein wenig entschuldigt, seien für einen Augenblick sogar näher bei den Opfern als bei den Tätern«?(2) I. Wohl erst in der Bewusstwerdung einer kategorisch zu setzenden Differenz zwischen dem »Juden« als imaginiertem Gegenstand antisemitischer Projektion und dem Individuum kann der in Auschwitz Ermordeten emanzipatorisch erinnert werden. Im Mechanismus der Projektion (also der Verlagerung von Regungen und versagten Wünschen aus dem Subjekt in ein Objekt, wobei diese Gegenstände der Verlagerung objektfremd sind) erscheint das einzelne Individuum lediglich als integraler Bestandteil eines Systems: als Exemplar einer projizierten »Gattung«, die konsequent aus der NS-Rassenideologie hervorgeht. In diesem Ressentiment gegen Juden kann es im Blick des Antisemiten kein außerhalb der hermetisch abgeschlossenen Gesamtheit der Gattung stehendes Individuum mehr geben, da dieses das Funktionieren des Ressentiments durch seine Widersprüchlichkeit zur konstituierenden Projektion stören würde. Darum muss die Projektion total sein. Nimmt man nun diese Totalität der Gattung als Begriff, der tatsächlich mit einer Person identifiziert wird, und nicht als Produkt der Projektion wahr, schließt sich die konkrete Erinnerung an den Einzelnen von selbst aus, weil das Einzelne in diesem projizierten Zusammenhang nicht mehr zu verorten ist. Denn die Gewalt der Vernichtung in den Lagern hat den projizierten, noch (und immer wieder neu) zu erfindenden Gegenstand des Antisemitismus geschaffen: die Millionen Opfer der Vernichtung starben nicht in ihrer Heterogenität als Personen, sondern als Exemplare einer Totalität. Mit der Vernichtung verhärtete sich die pathologische »Gattung der Juden« zur Realität, insofern sich die Täter im Akt der systematischen Ermordung der Wirkungsmächtigkeit ihrer Kategorien grausam selbst vergewisserten, da im Moment der Vernichtung »der Jude« auch körperlich zur »Realität« der Projektion geformt wird, indem er ermordet wird.
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