German Gedächtnis – Das Konzept einer feindlichen Übernahme

Die Kerneuropäisierung des Shoah-Gedächtnis’ kommt der TäterInnengesellschaft ganz recht

Dass Erinnerung nicht nur die individuellen Spannungen zwischen Gedenken und Vergessen vermittelt, sondern vielmehr auch ein gegenwartsbezogenes und ideologisch-identitäres Konstrukt darstellt, hat Maurice Halbwachs, der Erfinder des heute überschwänglich zitierten kollektiven Gedächtnisses, bereits vor Jahrzehnten festgestellt. Das gegenwartsbezogene Arrangement von Vergangenheit ist die handlungsleitende Maxime von Gedächtniskulturen, so der Durkheim-Schüler. Hätte der 1945 im KZ Buchenwald ermordete Halbwachs geahnt, welche geschichtsumkehrende Wirkung der Begriff des Gedächtnis heute im Dunstkreis deutscher »Vergangenheitsauseinandersetzung« obliegen muss, er hätte seine theoretischen Fragmente des mémoire collective wohl in der Schublade behalten. Denn nicht nur die letzten knapp 60 Jahre bundesrepublikanischer Geschichtsentsorgung, sondern vielmehr die aktuellen Momentaufnahmen der Berliner Republik zeugen davon, dass die Erinnerungen an die Shoah, dem »Zivilisationsbruch der Moderne«, einen Paradigmenwechsel erfahren, die unter dem vorgeschobenen neuen Imperativ der weltbürgerlichen Versöhnung nur eines im Auge hat: In deutschen Täter-Landen wieder klar Schiff zu machen, oder besser, die olle Fregatte der negativ begründeten Nation wieder in den Wind zu setzen.
 

Erinnerungsursprung – gegen das Sinnverstehen

Die emphatische Konstatierung eines globalen Gedächtnis’ der Shoah hat der traditionellen deutschen Erinnerungsabwehr nicht nur den Rang abgelaufen, sondern ihr einen ernsthaften Rivalen zur Seite gestellt, dem es meilenweit besser gelingt, auch die »dunklen Seiten« des deutschen TäterInnenkollektivs ins Bewusstsein der wieder erstarkten Gemeinschaft zu integrieren. Ziel ist die Entstehung einer pluralen Erinnerungskultur, die via negativer Identitätsbildung eine Ethik des gleichberechtigten Gedächtnis’ von Opfern und TäterInnen favorisiert. Seitdem sind die Schlupflöcher groß genug, sich der Weltöffentlichkeit als eigentlicher Leidtragender des Nationalsozialismus zu präsentieren, sei es als Vertriebener, Bombenopfer, Widerstandskämpfer oder traumabelasteter Wehrmachtsoldat. Die einstige Unvereinbarkeit der unterschiedlichen Erinnerungen der TäterInnen und Opfer wird großzügig glattgebügelt – übrig bleibt das Leid.(1)

Geht man davon aus, dass der Ausgangspunkt des Gedenkens eine Durchdringung des Wesens des zu Erinnernden bildet, dann stößt man im Falle der Vergegenwärtigung der Shoah auf eine Reihe von Schwierigkeiten, die sich um den Konflikt zwischen Geschichte und Gedächtnis gruppieren. Die vereinheitlichende Gesamtheit des Weltgeschehens, wie sie der Begriff der Geschichte zusammenfasst, beruhte auf einigen grundlegenden Annahmen: Es ist zum einen das Bild des auf Gesetzmäßigkeiten beruhenden Verlaufs der Geschichte, zum zweiten die These einer geschichtlichen Vernunft und zum dritten die damit verbundene Methode einer einheitlichen Historiographie.(2) Geschichte steht für einen aus »Säkularisierung und praktisch gewordener Aufklärung entsprungenen Deutungszusammenhang.«(3) Sie gipfelt damit in einer universalen Geschichtsschreibung, deren Gegenstand – zumindest tendenziell, die Arbeiterbewegung soll hier die Ausnahme von der Regel sein – eine Weltgesellschaft ist und deren Nivellierungsdrang gegenüber den Unterschiedlichkeiten wenig Platz für Einzelgeschichten ließ.

Mit der Shoah, und den ereignisbezogenen Versuchen einer Reflexion und erzählbaren Darstellbarkeit, stürzte beschriebenes Gebäude endgültig zusammen: Weder in eine historische Gesetzmäßigkeit noch innerhalb einer übergeordneten Vernunft der Geschichte ließ sich die Vernichtung der Juden einarbeiten.(4) Weder die Charakterisierung als Prozess noch die Deutung über ein strukturelles Gesetz der Geschichte konnte den überlebenden Opfern das erklären, was passiert ist. »Die Welt, die an eine natürliche Zirkulation der Zeit [...] glaubt und an der Vorstellung eines Kontinuums der Geschichte weiterhin festhält, weiß nichts oder will nichts wissen von der Diskontinuität, der Erschütterung der zeitlichen Struktur, die der Geschichtsbruch der Shoah auslöst.«(5) Der Geschichtsbegriff barg somit ein Dilemma in sich und seine vermeintliche Objektivität kollidierte nunmehr mit den subjektiven Erlebnissen und Erinnerungen der wenigen jüdischen ZeugInnen, die seitdem die Anerkennung ihrer Zeitzeugnisse einfordern. »Für den Zweiten Weltkrieg, für Nazismus und Shoah gilt wie für kein anderes Geschehen, dass Erinnerung(en) und Geschichte ununterscheidbar sind – und das nicht nur, weil die unterschiedlichen Erinnerungen der Zeitzeugen und Überlebenden in kein einheitliches und homogenes Geschichtsbild zu integrieren sind.«(6) Die traumatischen Erfahrungen, die sich innerhalb dieser Zeugenschaft wiederholten, wurden zwar anfangs als »nicht zur historischen Faktenlage beitragend« klassifiziert, die amerikanische Holocaustforschung und der seit den achtziger Jahren einsetzende historische Trend zur Mikrogeschichte oder Oral History hat diese Widersprüche mittlerweile obsolet gemacht.

Die daraus resultierenden neuen Prämissen für Gedächtnis- und Erinnerungskulturen sind teilweise sogar einer regelrechten Konjunktur von Erinnerung gewichen, die oft fälschlicherweise als Ablösung der Geschichte verstanden wird. Insbesondere der Gedächtnistheorie Maurice Halbwachs’ ist diese Interpretation ungenauerweise angelastet worden. Die Oppositionsrolle gegenüber der Einbettung in die großen Geschichtserzählungen trifft allerdings genauso wenig zu. Exakter ließe sich das beschriebene Verhältnis dadurch kennzeichnen, dass Gedächtnis sich als zwangsläufige Reaktion gegen ein sinngebendes Verstehen des Holocausts – also gegen eine positivistische Suche nach dem Gesetz der Geschichte – begreift. Auch partikulares und einzigartiges Vergangenes erhält somit Relevanz.

 

Schuld als Schulden

In Deutschland war und ist die Frage der Erinnerung stets in Verbindung mit der der eigenen Schuldloslösung angelegt, die sich in regelmäßigen Schüben aufs Neue im deutschen Diskurssumpf festsetzt. Die Etappen und Nuancen – vom Beschweigen und Verdrängen der direkten TäterInnengeneration, der unvollständigen Anklage der 68er an die Väter, der Regression und identitätskonstruierenden Ansätze in den 80er Jahren, der Gleichzeitigkeit von moralisch intendierten Erinnerungsboom und Schuldabwehr seit der Wiedervereinigung bis hin zur modifizierten Schlussstrichforderung der Ex-Spontis – halluzinieren dabei eine Entwicklung, die keine ist. Gemein ist allen der fortdauernde Unwille, sich immer noch und immer wieder mit dem dunkelsten Abschnitt der eigenen Geschichte konfrontiert zu sehen. Gesiegt hat stattdessen die »vitale Vergesslichkeit« – die eingeschränkte Erinnerungsfähigkeit und der Ausfall von Mitgefühl.(7) Geblieben ist das antisemitische Ressentiment, das sich heute zwar weniger denn je als traditionelles manifestiert, dafür aber umso stärker in einem modernisierten Gewand – als »Erinnerungsabwehr« von »Abwehraggression« – entfaltet.

Die Wirkung dieses überlieferten und generationsübergreifenden Schuldgefühls lässt sich somit weniger in seiner Anerkennung als vielmehr in seiner Abwehr erkennen. Als aussagekräftigstes Beispiel für diese Annahme gilt nach wie vor die innerdeutsche Diskussion um die »Kollektivschuld« der Deutschen, die keinen Raum für eine Schuldanerkennung ließe, und die einhellige Ablehnung der selben aufgrund der Annahme, den »Kopf aus der Schlinge des Kollektivs ziehen«(8) zu können. Das diesbezüglich von Theodor Heuss zur Staatsräson erhobene Gegen-Modell der »Kollektivscham« beschrieb sich daher nicht nur in Abgrenzung zur allzu vereinheitlichenden Anklage, sondern suchte schon damals den strategisch-entlastenden Brückenschlag zu den Opfern: »Das Wort Kollektivschuld und das was dahintersteht ist aber eine simple Vereinfachung, es ist eine Umdrehung, nämlich der Art, wie die Nazis es gewohnt waren, die Juden anzusehen.«(9) Die hier entdeckte kathartische Wirkung – die Teilhabe an einer kollektiven Sühne unter der gleichzeitigen Befreiung von der Täter-Opfer-Auseinandersetzung – formierte somit bereits sehr zeitig zum Standbein kollektiver Erinnerungsverwaltung. Ein Element dieser Katharsis findet sich im, in den späten fünfziger Jahren geprägten, Begriff der »Ehrenschuld« wieder, die die eigene Verantwortung auf eine rein moralische Ebene zurückstuft und dabei eine direkte Trennung zwischen nationalsozialistischem und Nachkriegsdeutschland vollzieht. Wenn sich Bundespräsident Rau ein halbes Jahrhundert später zur Ratifizierung der Entschädigungszahlungen für Zwangsarbeiter zur »gemeinsamen Verantwortung und moralischen Pflicht, die aus dem begangenen Unrecht entstanden sind«, bekennt, dann bedient dies nicht mehr als die verklausulierte »Ehrenschuld«-Metapher von einst.

Darüber hinaus dient die Schuldfrage in Deutschland als Muster kollektiver Selbstverständigung und Selbstvergewisserung. Dass kennzeichnete nicht zuletzt die Debatte um Daniel J. Goldhagens Buch »Hitlers willige Vollstrecker«, das, wenn auch in abgewandelter Form, die Frage nach einer kollektiven Schuldhaftigkeit neu aufwarf. Letztlich kann heute allerdings jeder öffentliche Diskurs, der sich der Interpretation und Repräsentation des Nationalsozialismus und der Shoah bedient, zum Anlass genommen werden, die Verdrängungs- und Verleugnungsmechanismen der »ersten Schuld« durch die nachfolgenden Generationen zu bebildern. Der Hinweis auf den quasi prägenden Einfluss beschriebener Mechanismen auf die politische Kultur bis zum heutigen Tag implizit.

Die anhaltende Wirkung der Schuldfrage auf das kollektive Gedächtnis der Deutschen hat sich somit wiederholt. Ebenso wiederholt hat sich die damit angegliederte obsessive Abwehr als Knotenpunkt der spezifisch deutschen Erinnerungsmentalität. Ganz konkret kennzeichnet sich diese Entwicklung in der diskursiven Praxis der sogenannten »Wiedergutmachungs- und Entschädigungsdebatten«: Unter Zuhilfenahme der ›wahren‹ Schuldigen – also der objektiven justiziell belangbaren TäterInnen – wird eine Nicht-Schuld für das Kollektiv erklärt, die nunmehr in Form einer moralischen Haftung auftritt. Zum einen gelangt man somit zu einer fremden Schuld, zum anderen löst sich das Verschulden vom Verbrechen. Somit entsteht die Diskursfigur der unverschuldeten Schuld, deren Tilgung wiederum möglich ist – durch einen angemessenen finanziellen Ausgleich. Erst an diesem Punkt treffen sich Schuld und Schulden, erst hier ist es möglich, das Unbezahlbare und Unmessbare auf dem Wege der Zahlung zu verhandeln. Dieses Verhandeln, die Vorstellung, dass Geld materielle und immaterielle Verluste kompensieren kann, ist nicht neu.(10) Die Konvertierbarkeit von Schuld in Schulden – also die Abgleichung der Schuld der Deutschen in Form einer finanziellen Bilanzierung – hat sich dabei von einer ehemals moralischen Verpflichtung in einen politischen und ökonomischen Zusammenhang gewandelt. Seitdem dominiert die Geldsymbolik das Gedächtnis, wobei insbesondere die Art und Weise der Adressierung und der Gabe, der Gewährung oder Forderung, der Instanzenbildung und des Procederes von Bedeutung ist.

Ein Hauptmerkmal ist die Asymmetrie, die innerhalb dieser ›Reparationsschuld‹ angelegt ist. Mit der Figur des symbolischen Tausches – Geld gegen Leid, Tod und Unfreiheit – wird ein Ausgleich impliziert, der die Bemessungsmöglichkeit des Schadens voraussetzt. Während sich nach dem Ausgleich bei den TäterInnen ein Moment der »ehrhaften« Wiederherstellung einsetzt, sind die Opfer weiterhin von Sprachlosigkeit geprägt. In den Instanzen von Geld und Gesetz schreibt sich somit das Opfer-TäterInnen-Verhältnis fort. Am institutionellen Rahmen wird dies besonders deutlich: Die Opfer firmieren in der Rolle des Antragstellers gegenüber einer juristischen Instanz oder Institution des Schuldners und nehmen – das hat die Traumaforschung wiederholt festgestellt – zum zweiten Mal die Position des Verfolgten ein.

Auf Seiten der TäterInnen lässt diese ökonomistische Variante der Wiedergutmachung hingegen die eigene Reflexion der Tat aus dem Spiel. Es stellt sich als falsch heraus, dass durch Geld- und Entschädigungszahlungen die Freiheit der Erinnerung gekauft werden könne. Im Gegenteil, lässt sich doch im Verhältnis von Schuld und Geld, wenn man die Generationswirkung betrachtet, eine Aufspaltungstendenz von Anerkennung und Herkunft des Schuldsymbols feststellen: »Hat die Schuld, die als uneigen, als fremd betrachtet wird, für die zweite und dritte Generation der Deutschen derart eine Zinsform angenommen, so etabliert sich darin eine Struktur des Symbolischen, in der die Schuld und das Fremde eine neuartige Verbindung eingehen.«(11) Die beständige Bemühung der Shylock-Figur oder die des »rachsüchtigen Geld-Juden« im Subtext der Diskurse illustriert diese Schuld(en)-Angst. Beispiele für die eindeutige oder codifizierte Verwendung dieser Ressentiments existieren zur Genüge – sie reichen von Konrad Adenauer, der im Kontext der Luxemburger Wiedergutmachungsverhandlungen 1952 auf die »große wirtschaftliche Macht des Judentums der Welt« hinwies, über den bis 1981 in Diensten der Bundesregierung stehenden Wiedergutmachungsexperten Ernst Feaux de la Croix, der sich in seinem ersten Leben als rassenterminologischer Völkerrechtler betätigte, bis hin zu Rudolf Augstein, der vor wenigen Jahren noch von »New Yorker Anwälten im Haifischgewand« palavern durfte.

 

Oral History – der Worte wegen

Guido Knopp hat populärhistorisch vorgemacht, was Günther Grass mit der Wilhelm Gustloff literarisch »bewältigte« und Jörg Friedrich gar zu einer Anklage gegen den guten Sir Arthur Harris schlussfolgern ließ – wir Deutschen haben auch Erinnerungen, ja, auch wir sind Opfer. Der derzeitige Diskurs um die Aufrechnung der Leiden der durch warmherzige Erzählungen auf sich aufmerksam machenden »Vertriebenen« und die anhängende Überlegung eines mahnenden Denkmals, wahlweise auf tschechischem Gebiet oder in der »Reichshauptstadt«, versucht wortwörtlich verlorenes Terrain wiederzugewinnen. Nebenprodukt des grenzüberschreitenden Erinnerungseinfalls ist auch hier die Abwiegelung von kausalen historischen Zusammenhängen, Schuld- und Verantwortungsspezifik.

Diese Entwicklungen sind augenscheinlich und der Argumentationsstrang der Projektion shoahspezifischer Kategorien der aufgezählten Tabubrecher ist nicht neu. Bereits in den frühen Fünfzigern wies der damalige Verkehrsminister Seebohm auf »die sittliche Wiedergutmachungspflicht gegenüber den deutschen Heimatvertriebenen hin« ehe »die Juden« drankämen. Neu indes ist die Vehemenz und das hohe Maß an identitätsstiftender Intention, die dem deutschen Vorpreschen in Sachen Geschichtsklitterung voranschreitet.

Konnte man sich früher doch halbwegs sicher sein, dass Ausbrüche dieser Art zumindest in die Nähe des Tabubruchs oder fehlender Moralität gerückt wurden, stellen heute nicht wenige die selbstsichere Frage, wem denn die Erinnerung gehöre? Unterstützt wird diese Fragestellung durch eine Entwicklung von unten – dem unbarmherzigen Fortschreiten der Oral History, ursprünglich ein Instrument der Holocaust-Studies, aus den Sphären der Geschichtswissenschaft hinaus ins bunte Treiben der semiprofessionellen Ansätze und Trivialliteratur. Diese spezifisch deutsche Variante der Oral-History-Forschung hat unter dem Label der authentischen Erinnerung in den letzten Jahren das Erinnerungsinterview als Forschungsinstrument entdeckt ohne die darin gewonnenen Daten und auch die Methode selbst, historisch zu verifizieren. Im Speziellen auf die TäterInnengeneration angewandt, wird sie nicht nur unangemessen, sie hebt die nötige Trennschärfe der historischen Betrachtung aus den Angeln, indem sie auf der Basis des Leides gleichmacht. Die Tradierung der Leiden der Opfer erfolgt zumeist über die Funktion der »Wechselrahmung«. Wie sonst sollte man die »schöpferische« Aneignung des Viehwagon-Bildes verstehen, dessen sich rückkehrende »Kriegsgefangene« und »Vertriebene« bedienten, um darauf hinzuweisen, dass »Hitze, Durst und brutale Bewachung« für einige keine Rückkehr ins Reich ermöglichten. Hinter dieser Analogisierung der Opfer- und TäterInnengenerationen steht, so ist es zu vermuten, ein Begehren, dass politisch zweckmäßig ist: Von der eigenen (TäterInnen-) Rolle abzulenken und die eigenen psychischen Traumata denen der Opfer gleichzustellen. Günther Jacob verwies bereits vor einigen Jahren auf diese Form ›feindlicher‹ Übernahme der Methoden von Oral History, wenn er die Markenzeichen der neuen, ursprünglich den Holocaust-Studies anhängenden, deutschen Traumaforschung deutet. Die von ihm konstatierte »Abgrenzung von der angeblichen ›Gerechtigkeit‹ der ›Achtundsechziger‹ und [das] Einfühlen in die Tätergeneration«(12) ist genauso ein Markenzeichen wie die »Verlagerung des Interesses von den Verfolgten zu den Verfolgern [...] mit dem Blick auf die kulturellen Verluste«(13) und »die Abgrenzung gegen die ›Opfer/Täter-Dichotomie‹[...].«(14)

Was sich bei den Friedrichs, Knopps und Grass’ bereits manifestiert und sich auch in der neuen deutschen Oral-History-Forschung andeutet, ist der Hinweis darauf, dass Erinnerung an sich nicht in jedem Falle den therapeutischen Gestus inne hat, den sich beispielsweise Adorno in seinem Aufsatz Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit erhoffte, sondern die Erinnerung an die Vergangenheit vielmehr auch »zu ihrem Zerrbild, dem leeren und kalten Vergessen, ausartete.«(15) Authentizität von Geschichte via uneingeschränkter und nicht differenzierter Zeugenschaft führt hier zu einer neuen Variante von Hegemonie, die die der traditionellen Geschichte nur ablöst. Die Parallelisierung der Zeitzeugenberichte, zeigt nur noch Leere und Objektlosigkeit, sie führt letztlich zur Derealisierung und hebt die Unterschiede der Leiden auf. Das spezifische Moment der Shoah wird somit geleugnet.

Die Frage, wer arrangiert, ob dies den Verlauf der historischen Wahrheit beeinflusst und zu welcher Rechtfertigung dies geschieht, hat somit ihre ursprüngliche Bedeutung verloren – anstelle den Opfern ein Instrument der Traumabewältigung zur Seite zu stellen, wird dieses durch die Täter weggetreten und selbst angeeignet. Im Angesicht einer deutschen Erinnerungskultur, die zunehmend bestrebt ist, einen universellen Charakter von Gedächtnis herzustellen, erscheint die Warnung Fritz Sterns, Erinnerung als Ersatz von Geschichte anzunehmen, deshalb durchaus angebracht: »Erinnerung und Historie sind verwandt und doch tief verschieden. Erinnerung klammert sich an symbolhaltiges Geschehen, ein Bild aus der Vergangenheit haftet in uns. Erinnerung mag mächtig und kann doch ungenau sein, sie hält uns wach, aber führt nur an die Schwelle von historischem Verständnis. Erinnerung ist keine erforschende Rekonstruktion der Vergangenheit. Es könnte sein, dass eine nur erinnerte Vergangenheit als Ersatz-Vergangenheit ein ahistorisches Zeitalter in ihrem Bann hält [...].«(16) Im Kontext eines auf Opfer-Gebaren angelegten Gedächtnis vermag dies nur eines zu bedeuten: Für eine Erinnerung der VerfolgerInnen kann es keinen legitimen Platz geben.

 

Deutsch-Europe

Wirkt die Auflösung von Opfer- und Täter-Verhältnis im Kontext von Oral History, authentischer Kriegsberichtsliteratur und Bomber-Gruselmärchen in seiner identitäts- und zusammengehörigkeitsstiftenden Konnotation eher nach Innen, so findet sich davon auch das außenpolitische Double.

Unfreiwilliger Steigbügelhalter ist auch hier die Holocaustspezifische Gedächtnisforschung, die im Zuge der »Kosmopolitisierung des Holocaust«(17) einen moralischen Imperativ aufgestellt sieht, der die Shoah weiterhin als singuläres Ereignis, allerdings nunmehr mit universellem Gestus und als »Code des Bösen« deutet. Die Shoah wird zum »Schlüsselereignis für eine neue Erinnerungsform, nämlich für die Herausforderung einer neuen Schicksalsgemeinschaft.« Nicht zuletzt die Beendigung des Kalten Krieges, die zunehmend auch mit einer neuen Erinnerung an Auschwitz – anstelle des atomaren Genozids – einherging, und das damit verbundene Aufbrechen verschiedener osteuropäischer Gedächtnisse fördere den kosmopolitischen Dialog der Erinnerungen.

Mag das Gedächtnis in vielerlei Hinsicht aus dem nationalen Container befreit sein – im Land der TäterInnen stabilisiert sich die deutsche Variante der Erinnerung zunehmend. Walser und Möllemann, Wehrmachtsausstellung und Holocaustmahnmal, ZwangsarbeiterInnenentschädigung und Goldhagen – keiner dieser gesellschaftlichen Diskurse bietet Anlass für eine Verweichung nationaler Identität. Vielmehr beläuft sich der »Mehrwert der Erinnerungsdiskurse« auf die Genese des deutschen Selbstbewusstseins und die Herausbildung einer neu erstarkten deutschen Ideologie als Basis für außenpolitische Aktivitäten. Konnte man bei Joschka Fischers Heranziehen von Auschwitz zur Rückkehr ins militärische Geschäft Deutschlands noch vereinzelt ein intellektuelles Grummeln über die nunmehr vollzogene Befreiung der »Täter von einst« vernehmen, so stimmen im Zuge des europäisch-amerikanischen Kultur-Clashs zunehmend alle ein. In Abgrenzung zur »Neuen Welt« Amerika fanden sich jüngst europäische Intellektuelle, allen voran Jürgen Habermas, zusammen, um die Wiedergeburt Europas zu zelebrieren. Die deutsche Friedensbewegung, die zuvor, ganz leiderprobt, Dresden und Hamburg anführte, um auf alliierte Militärinterventionen und deren vermeintliche Analogien zum Irak-Krieg aufmerksam zu machen, war ihr Stichwortgeber. Die Forderung von Habermas und Co. »das avantgardistische Kerneuropa [...] muss – wie so oft – die Lokomotive sein« lässt nicht nur 100 Jahre Adorno blass aussehen, sie lässt vor allem frösteln, wenn man ahnt, dass die Diesellok der angestrebten Reanimierung des »alten Europas« Deutschland heißt. Dessen Erinnerung an Auschwitz war beileibe keine »selbstkritische Auseinandersetzung über die Vergangenheit«, soll aber nunmehr soweit genesen sein, um aktiv »einer erhöhten Sensibilität für Verletzungen der persönlichen und körperlichen Integrität« beizustehen. Klare Bedenken hegen auch die mittel- und unmittelbaren Nachbarn des zukünftigen kerneuropäischen Hegemons. So führt der polnische Philosoph Krasnobelski aus, dass die politische EU-Einbindung seines Landes nicht meinte, »dass Peter Struck auf gleiche Augenhöhe mit Donald Rumsfeld« kommen sollte. Genauso darf bezweifelt werden, dass es wohl ohne die kerneuropäisch-intellektuelle Gebrauchsanweisung kaum die schleichende und tendenzielle Auflösung der Benes-Dekrete geben könnte, wie sie sich im Zuge der aktuellen Debatte um ein »Vertriebenendenkmal« andeutet.

Die europäischen Intellektuellen haben tief in der Mottenkiste gewühlt und Deutschland ist hineingeplumpst. Mitnichten hat sich damit die Kosmopolitisierung von Erinnerungen an die Shoah erfüllt, die jenseits nationaler Identitäten funktioniert. Stattdessen hat die wohlgemeinte »Entortung« von Gedächtnis ein regressives Element mehr erhalten und ist in die Nähe des chauvinistischen Großmachtprojekts von einst aufgestiegen. Der spezifisch deutschen Erinnerung kommt dabei eine besondere Rolle zu. Sie agiert innerhalb eines »Dialoges der Generationen«, der sich von einer »Verleugnungsgemeinschaft« zu einer vermeintlichen »Erinnerungsgemeinschaft« änderte, in Wirklichkeit die warmen Worte des Gedenkens dafür benutzt, die politischen Kräfteverhältnisse in der Form zu modifizieren, dass die eigenen Bestrebungen wieder frei und ungehemmt walten können.

 

 

Fußnoten:

(1) Vgl. auch »Anthropologisierung des Leidens«, Interview mit Dan Diner in

diesem Heft.

(2) Günther Jacob, Dialektik des Authentischen, in: Konkret, 09/1999, S. 45.

(3) Dan Diner, Gedächtniszeiten. Über jüdische und andere Geschichten, München 2003, S. 7.

(4) Ebd. S. 9.

(5) Birgit R. Erdle, Das Gedächtnis der Geste, in: Sigrid Weigel/Birgit

R. Erdle (Hrsg.), Fünfzig Jahre danach. Zur Nachgeschichte des Nationalsozialismus, Zürich 1996.

(6) Weigel/Erdle (Hrsg.), Fünfzig Jahre danach, S. IX-X.

(7) Margarethe und Alexander Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens, München 1968, S. 42.

(8) Theodor W. Adorno, Schuld und Abwehr, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 9.2, Frankfurt/Main 1997, S. 189.

(9) Zit. nach Ralph Giordano, Die zweite Schuld oder von der Last Deutscher zu sein, München 1990, S. 269.

(10) Insbesondere in den letzten Jahren hat sich, parallel zur Kosmopolitisierung des Gedächtnis’ eine internationale Theorie der Wiedergutmachung herausgebildet, die dadurch intendiert ist, eine neue globale Moral in Bezug auf Gerechtigkeitsstandards schaffen zu wollen. Die globale Wiedergutmachung am jüdischen Volk wird hier als Präzedenzfall für andere Globalentschädigungen aufgeführt. Das angestrebte Ziel dieses Ansatzes, eine Annäherung und Vermittlung zwischen Täter- und Opferperspektive herzustellen, also einen gemeinsamen deutsch-jüdischen Narrativ aufzubauen, darf allerdings bezweifelt werden. Vgl. auch Elazar Barkan, The Guilt of Nations, Düsseldorf 2002.

(11) Sigrid Weigel, Shylocks Wiederkehr, in: Weigel/Erdle (Hrsg.), Fünfzig Jahre danach, S. 182. Anmerkung: Der »hartherzige« Shylock ist ursprünglich eine literarische Figur aus Shakespeares »Kaufmann von Venedig«. In ihm vereint sich das vermeintliche Bild eines Menschen, der über eine große Affinität zu Geld verfügt, sein Vermögen höchstwahrscheinlich nicht redlich erwarb und vor dessen heimtückischer Finesse man sich generell vorsehen muss. Die Shylock-Figur ist seitdem eines der beliebtesten antisemitischen Motive und tritt als Ressentiment sowohl traditionell als auch codifiziert auf.

(12) Günther Jacob, Stille Post II, in: Konkret, 03/1999, S. 56ff.

(13) Ebd.

(14) Ebd.

(15) Theodor W. Adorno, Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit, in: ders.: Gesammelte Schriften, Band 10/2, Frankfurt/Main 1977, S. 566.

(16) Aus der Dankesrede Fritz Sterns anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels am 17. Oktober 1999 in der Frankfurter Paulskirche; dem Ort, an dem Martin Walser ein Jahr zuvor von »der Vergangenheit, die nicht vergehen will« gesprochen hat. Zit. nach: Zeitschrift für Kulturaustausch, 49 (1999) 4, S. 47.

(17) Natan Sznaider/Daniel Levy, Erinnerung im globalen Zeitalter: Der Holocaust, Frankfurt/Main 2001.

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