Ein die kulturpolitische Entwicklung der Bundesrepublik maßgeblich mitbestimmender Literat nach dem Zivilisationsbruch der Shoah in programmatischer Absicht: »Die deutsche Literatur hätte aus vielen sehr guten Gründen die Verpflichtung, sich aus dem Leerlauf ihrer Tradition zu lösen und wieder genauso kühn, so unvoreingenommen und unnachsichtig zu sein, wie sie es nach 1918 gewesen ist« (Hans Werner Richter, 1962). Im Herbst 2000 »zittert« Martin Walser wie als Antwort »jetzt wieder vor [dieser; Verf.] Kühnheit«: »Auschwitz eignet sich nicht dafür, Routine zu werden […]. Was durch Ritualisierung zustande kommt, ist von der Qualität eines Lippengebets. Aber in welchen Verdacht gerät man, wenn man sagt, die Deutschen seien ein ganz normales Volk, eine ganz gewöhnliche Gesellschaft?«(1). Welche Vorstellung von Täter-Opfer-Relationen bestimmen die Erinnerungsdebatte von derjenigen maßgeblichen Strömung, die von der Gruppe 47 ausging und welcher sowohl Richter als auch Walser angehörten? Wie muss diese Relation gedacht werden, wenn diese Protagonisten mit ihr unterstellen können, »dass die Intellektuellen, die [die unvergängliche Schande; Verf.] uns vorhalten, dadurch, dass sie uns die Schande vorhalten, eine Sekunde lang der Illusion, sie hätten sich, weil sie wieder im grausamen Erinnerungsdienst gearbeitet haben, ein wenig entschuldigt, seien für einen Augenblick sogar näher bei den Opfern als bei den Tätern«?(2)
I. Wohl erst in der Bewusstwerdung einer kategorisch zu setzenden Differenz zwischen dem »Juden« als imaginiertem Gegenstand antisemitischer Projektion und dem Individuum kann der in Auschwitz Ermordeten emanzipatorisch erinnert werden. Im Mechanismus der Projektion (also der Verlagerung von Regungen und versagten Wünschen aus dem Subjekt in ein Objekt, wobei diese Gegenstände der Verlagerung objektfremd sind) erscheint das einzelne Individuum lediglich als integraler Bestandteil eines Systems: als Exemplar einer projizierten »Gattung«, die konsequent aus der NS-Rassenideologie hervorgeht. In diesem Ressentiment gegen Juden kann es im Blick des Antisemiten kein außerhalb der hermetisch abgeschlossenen Gesamtheit der Gattung stehendes Individuum mehr geben, da dieses das Funktionieren des Ressentiments durch seine Widersprüchlichkeit zur konstituierenden Projektion stören würde. Darum muss die Projektion total sein. Nimmt man nun diese Totalität der Gattung als Begriff, der tatsächlich mit einer Person identifiziert wird, und nicht als Produkt der Projektion wahr, schließt sich die konkrete Erinnerung an den Einzelnen von selbst aus, weil das Einzelne in diesem projizierten Zusammenhang nicht mehr zu verorten ist. Denn die Gewalt der Vernichtung in den Lagern hat den projizierten, noch (und immer wieder neu) zu erfindenden Gegenstand des Antisemitismus geschaffen: die Millionen Opfer der Vernichtung starben nicht in ihrer Heterogenität als Personen, sondern als Exemplare einer Totalität. Mit der Vernichtung verhärtete sich die pathologische »Gattung der Juden« zur Realität, insofern sich die Täter im Akt der systematischen Ermordung der Wirkungsmächtigkeit ihrer Kategorien grausam selbst vergewisserten, da im Moment der Vernichtung »der Jude« auch körperlich zur »Realität« der Projektion geformt wird, indem er ermordet wird.
Die einstmals real-existierenden Personen können der Projektion des Antisemiten nicht mehr durch ihr Leben und Handeln, ihr Erinnern widersprechen. In der Vernichtung findet also die im Begriff der Gattung angelegte gewaltsame Homogenisierung der Individuen ihre stärkste Form von »Realität«. Die dringliche Forderung an ein Erinnern der Opfer muss nicht nur das Bewusstsein an real-existierende Individuen einschließen, sondern eben unerlässlich auch den Mechanismus eines Denktypus offen legen, welcher die Kategorie »Opfer« gehaltvoll konstituiert. Dies bedeutete ein Erinnern, das die angeführte Differenz zu denken versucht. Wenn andererseits »mit dem geflügelten Wort, seine Partei sehe die ›historische Lektion‹ eines zentralen Denkmals gefährdet, wenn es den Holocaust zu sehr auf das Verhältnis von Tätern und Opfern reduziere‹«(3) sich eine Argumentation für das Mahnmal führen lässt, stellt sich die Frage, ob seine »steinerne Physiognomie« die beschriebene Differenz zu vermitteln vermag; im Steinernen des Mahnmals schriebe sich wohl auch schlussstrich-intentional der ungenügende Stand der bundesrepublikanischen Debatte um die Shoah fest, der den Vernichteten nur zwecks Einrichtung deutscher Normalität gedenken will. Neben der Frage also, ob das Denkmal eine adäquate Form des Gedenkens sei, schließt sich an diese Äußerung die Problematik an, wessen gedacht wird. Und: Welchen Gehalt besitzt der Begriff des Opfers in diesem Gebrauch, wo er nicht mit dem Komplement des Täters kontrastiert werden kann?
II. Im April 1966 hatte sich die Gruppe 47 anlässlich eines Treffens in Princeton versammelt. Zur gleichen Zeit fand an der Princeton University ein Treffen zum Vietnam-Krieg statt, an dem sich Peter Weiss entgegen der Gruppenlinie beteiligte, die vorsah, sich nicht in Angelegenheiten der USA einzumischen. In seinem Notizbuch findet sich folgender Eintrag: »Der Zusammenstoß im Hotelzimmer. Ich hätte mich in amerikanische Angelegenheiten nicht einzumischen. Mißbrauche die Gastfreundschaft. Und überhaupt: was ich denn für ein Recht hätte, auf diese Weise politisch Stellung zu nehmen. Hätte auch über deutsche Fragen schon zuviel gesagt. Wo ich denn während des Krieges gewesen wäre«(4).
Im Gegensatz zu den meisten Mitgliedern der Gruppe 47, die in der Wehrmacht kämpften, musste Peter Weiss ins Exil gehen. Peter Weiss ist Jude. Die scheinbare Option, in Deutschland bleiben zu können, impliziert zweierlei unterschlagene Annahmen:
1. Die allgemein unterstellte Möglichkeit der Wahl zwischen Exil und »innerer Immigration« des Intellektuellen verneint bereits das Opfer als projiziertes Gattungsexemplar.
2. Wenn das Individuum nicht Opfer der Projektion ist, müssen antisemitische Übergriffe anders erklärt werden.
Die Funktionsweise des Antisemitismus richtet sich dann in dieser Verkehrung auf das Individuum, dessen spezifische Eigenschaften in diesem Denken Anlass für seine Vernichtung geben. Auf die Frage nach dem Gehalt des Opferbegriffs antwortend, hat diese Verkehrung fatale Konsequenzen sowohl für das Gedenken wie auch für den reflektierten Umgang mit konkreten Angst- und Vernichtungserfahrungen. Das Opfer wird im Nachkriegsdeutschland zum Opfer in zweiter Potenz: die Bedrohung durch das Pogrom und die Vernichtung im Lager werden als zufällig und blind erlebt – als die Gewalt des Antisemitismus, welcher von den verschiedenen Prädikaten seiner Objekte absieht; Anwälte, Intellektuelle, Handwerker, Ärzte, politisch und apolitisch, religiös oder säkular: Der Begriff des »Juden« subsumiert gewaltsam gegensätzliche Bestimmungen, macht keinen Unterschied mehr.
Die konkrete Leiderfahrung als pathologisch Gleichgemachtes wird aber nicht zugelassen im Erinnerungsdiskurs (einem Diskurs, dessen Ziel die Herstellung unbefleckter deutscher Normalität nach der Shoah ist und der deshalb eine Differenz zwischen jüdischer bzw. jüdisch-deutscher und deutscher Erfahrung nicht anerkennen kann und will und in dem die Gruppe 47 als »›literarische(s)‹ Pilotunternehmen«(5) eine signifikante Rolle spielte, aus deren Analyse sich wohl, so unserer Anliegen, Aufschlüsse über die ideologische Fundierung heutiger Diskussionstopoi gewinnen lassen). Zugleich potenziert, das heißt verhärtet sich die Tätergesellschaft wiederholt auf zeitlich und qualitativ verschobener Ebene, indem sie das durch Projektion dem Individuum als fremd Aufgeprägte, nur in der Form einer wohl allgemeinen, aber real-personalen Leidensgeschichte erfasst. Wird aber der zynische Versuch unternommen, Antisemitismus in diese Weise funktional zu fassen, wird den Anklagen des Antisemiten Berechtigung zugesprochen. Das Opfer muss Merkmale tragen, welche das antisemitische Ressentiment greifen lassen: »›Das Schuldigsein gehört zum Dasein selbst.‹ [Walser zitiert M. Heidegger, Sein und Zeit; Verf.] Ich hoffe nicht, dass das gleich wieder als eine bequeme Entlastungsphrase für zeitgenössische schuldunlustige Finsterlinge verstanden wird.«(6)
Die unvermeidbare und erwünschte Konsequenz besteht in der Auflösung einer eindeutigen Täter- und Opferzuordnung. Das Opfer der antisemitischen Vernichtung wird zum Opfer in zweiter Potenz, weil die Ursache seines konkreten Leidens, die Projektion, zum grausamen Einzelschicksal herabgewürdigt wird. Der fortbestehende Bezug auf die projizierte »jüdische Gattung« bringt im Nachkriegsdeutschland den sekundären Antisemitismus hervor: die bloße Existenz eines »jüdischen Exemplars« ist unvereinbar mit der Einforderung deutscher Normalität und dem positiven Bezug auf »Deutschland«. Eine Strategie der Täter in zweiter Potenz bildet die Leugnung der Tatsache, dass das konkrete Leiden und der Tod den Vernichteten als »Exemplaren« widerfahren ist – und eben nicht aufgrund ihrer individuellen Charakterzüge. Operiert der sekundäre Antisemitismus mit dem Begriff der »Gattung«, deren Exemplare qua Existenz deutsche Normalität verunmöglichen, bildet unsere These, dass die Existenz der »Gattung« als Projektion in der Erinnerungspolitik der Gruppe 47 selbst abgestritten wird, eine qualitativ neue Strategie, eine Stunde Null einzufordern.
III. »Das Volk hungerte. Es lebte von Tausend Kalorien pro Tag und Person, aber es wurde sich des ›Büßens‹ nicht bewusst. Es hatte keine Zeit zu büßen. Es war täglich unterwegs, um die notwendigsten Lebensmittel für die nackte Existenz heranzuschaffen.« Denn: »Das Damoklesschwert der Kollektivschuld hing über allen. Das nicht denkende Volk, die anonyme Masse, war schuld, nicht nur jene, die dieses Volk verführt, betrogen und in den Abgrund gerissen hatten.«(7)
Hans Werner Richter, programmatisch tonangebendes Gründungsmitglied der Gruppe 47, leistet hier seine Opfer-Bestandsaufnahme in dreierlei Hinsicht: Das »deutsche Volk« erhält den Opferstatus zum einen durch die Entstehung zweier »Kolonialsysteme« (Richter) der Alliierten-Besatzung. Trotz einer lohnenden ideologiekritischen Betrachtung dieser ersten der selbsttätigen Opferzuschreibungen konzentriert sich dieser Essay jedoch auf die folgenden Typen der deutschen Opfer-Prädikationen: Der Opfer-Status der Täter lässt sich zum einen mit der Personalisierung der Verantwortung für den Nationalsozialismus in Form der verführenden Eliten konstruieren, zum anderen über die Erfahrung des konkreten Leidens aufgrund der Bombardements deutscher Städte und der aus dem verlorenen Krieg resultierenden Lebensbedingungen. Erst durch die Annahme der Schuld allein in Bezug auf die führenden Bevölkerungsschichten kann sich jenes »Gefühl einer vollkommen Voraussetzungslosigkeit« »vor allem bei der jungen Generation«(8), von dem Alfred Andersch schon 1948 spricht, einstellen, zeigt sich die Täterfrage doch auf diese Weise geklärt und von der eigenen Bezugsgruppe abgewendet.
Die gegenläufigen Strategien, die Maßstäbe der Verantwortlichkeit vom deutschen, »nicht denkenden« Volke abzuwenden, finden sich in der Annahme der »Verschleierung der politischen Schuldverhältnisse [nämlich der Schuld der verführenden Eliten; Verf.] durch die Kollektivschuldthese der Alliierten« und der »Nichtanerkennung des deutschen Widerstandes«(9). Die Schuldzusprechung für die Bevölkerung wird also sowohl auf eine äußere Macht verschoben sowie als geschichtsrevisionistische, illegitime Generalisierung verworfen.
IV. Das Postulat der Stunde Null als dem »Jahr des neuen Anfangs, frei von allen Belastungen der deutschen Geschichte«(10), wie Richter noch immer 15 Jahre nach Andersch schreibt, lässt sich nur als gegenseitig bedingt mit einem Überschweigen der Shoah denken. So sticht in Anderschs dokumentarischen Momentaufnahmen und Richters detaillierter Retrospektive des Nachkriegsdeutschlands ein signifikantes Moment der Unterlassung heraus: alles und nichts findet Erwähnung, einzige Ausnahme: die Vernichtung in den Lagern. Obwohl die Konzentrationslager als geographische Orte Erwähnung finden, werden ihre Funktion und Spezifika bewusst ausgeblendet, eine intendierte Verweigerung gegenüber dem Eingedenken: »Millionen Flüchtlinge strömten in den folgenden Jahren nach dem Westen […]. Sie wurden in den leerstehenden, aber noch nicht abgerissenen Konzentrationslagern untergebracht. Das Lager, Sinnbild der Diktatur, bestand noch lange fort.«(11) Als Neuauflage der Auflösung von Opfer-Täter-Kategorien wird die Universalisierung der Shoah dazu instrumentalisiert, die Relation von Vernichtungsopfern und Vertriebenen zu nivellieren. Welche Funktion hat dann aber dieses abwegige Produkt der Verweigerung, die Lager als Ort des konkreten Leids der Vernichtung der europäischen Juden explizit und im Rahmen des Sagbaren mitteilbar zu machen?
Das literarische Projekt der Stunde Null, spezifisch für die Gruppe 47, und die bis heute tradierte Einforderung der deutschen Normalität stehen in unmittelbarem Begründungszusammenhang mit der begrifflichen Täter-Opfer-Auflösung. Das Überschweigen der Vernichtung erscheint als immanent notwendige Voraussetzung, um das Festhalten am »neuen Anfang« zu ermöglichen, wie umgekehrt der deutschen Normalität eine Thematisierung der Shoah mit einem der oben beschriebenen Differenz gerecht werdenden Begriff des Opfers im Wege steht.
V. Die Spezifizität der industriellen Vernichtung der europäischen Juden um ihrer Vernichtung willen muss in der Antisemitismustheorie der Gruppe 47 mit einem vorgeblichen Opferbegriff gedacht werden, welcher einzelne Personen nicht als Produkt einer paranoiden Projektion bezeichnet: Der Begriff des Opfers hat aber zur hinreichenden Bedingung die Schuldlosigkeit, das zufällige Betroffensein einer Person. Und die Schuldlosigkeit drückt sich eben in der Projektion objektfremder Eigenschaften durch den Antisemiten aus. Ist diese Bedingung der Schuldlosigkeit nicht erfüllt – dies ist wie dargelegt bei Richter und Andersch der Fall –, dann ist der Begriff nicht anwendbar. Bestimmt er dennoch positiv eine Debatte, dann verschiebt sich ebenfalls der Komplementärbegriff: der des Täters. Der Gehalt beider Begriffe ist zum Unsinn entstellt worden, weil die Abgrenzung zwischen Gegensätzen nicht mehr möglich ist. Vor einem solchen theoretischen Hintergrund ist die Differenz zwischen Individuum und Produkt antisemitischer Projektion notwendig eingeebnet. »Der Jude« ist dann nicht mehr einfach nur unschuldiges Opfer, sondern indem er den »ganz gewöhnlichen Deutschen« in ihrem Opfersein zur Seite gestellt wird, dient er der Rechtfertigung von deren Opferstatus. Wird im Rahmen dieser verwischten Begriffe unzweifelhaft zugegeben, »dass der Antisemit im Unrecht ist, so will er [hier: das Subjekt, das sich dieser Begriffe bedient; Verf.] wenigstens, dass auch das Opfer schuldig ist.«(12) Im Rekurs auf die Anklage gegenüber Peter Weiss, nicht in Deutschland geblieben zu sein, bestätigt sich dieser Befund, und es entwickelt sich die theoretische Konsequenz der deutschen Normalitätseinforderung vom semantischen Unsinn zu einem offen geschichtsrevisionistischen Topos.
VI. Martin Walsers Friedens-Preis-Rede und sein Tod eines Kritikers, Enzensbergers Spiegel-Artikel über den geschundenen Deutschen, Grass’ literarische Konzentration auf konkretes Leid von Deutschen im Krieg und Stränge der Mahnmaldebatte sind Beiträge, welche die Wahrnehmung des Nationalsozialismus und Antisemitismus in der deutschen Öffentlichkeit mitbestimmen. Nicht nur, weil alle diese Autoren an der Gruppe 47 partizipierten, sondern auch weil die Gruppe 47 als »Gewissen der Nation« die Wahrnehmung des Nationalsozialismus maßgebend prägte, ist die Erschließung ihres erinnerungspolitischen Projekts von Bedeutung, um gewisse Aspekte der gegenwärtigen Debatte zu verstehen. Ist diese Debatte aber – wie herausgestellt – von einem sinnentstellten, in der Gruppe 47 (zumindest) mitgenerierten Täter- und Opferbegriff geprägt, so läuft zum Beispiel die spezifische Diskussion um ein Mahnmal der Vernichtung Gefahr, diesen kategorialen Rahmen zu adaptieren und mit ihm denjenigen Ausfall von Reflexion in Bezug auf die eigenen Begrifflichkeiten, welcher antisemitisches Denken mitkonstituiert. Um die geschichtsrevisionistische Konsequenz eines solchen »Gedenkens« zu bannen, gilt es den Opferbegriff kritisch wiederherzustellen, was bedeutet, auf der Differenz zwischen jüdischer Vernichtungs- und deutscher Tätererfahrung zu beharren, die einer Relativierung jüdischen Leids zugunsten und in Zusammenhang mit der gleichmacherischen Aufwertung deutschen Leids im Wege steht.
Stark zu machen sind also Stimmen, die darauf beharren, dass von einer »vollkommenen Vorraussetzungslosigkeit« nach der Shoah – gerade für Deutschland – nicht die Rede sein kann, dass Versuche, einen Schlussstrich unter die deutsche Vergangenheit zu ziehen, nicht nur antiemanzipatorisch sind, sondern das Leid der Opfer der Shoah verkennen. Allein die Betonung der Individualität der Opfer ist jedoch, wie gezeigt, noch nicht als emanzipatorisch zu sehen, wenn sie nicht die vermittelte Differenz von individuellen Personen und projizierten »Juden« zu denken vermag.
»Grundsätzliches zur Gruppe 47«
Benannt nach ihrem Gründungsjahr entstand die Gruppe 47 zwei Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs aus »Der Ruf«, einer der ersten literaturpolitischen Zeitung im Nachkriegsdeutschland. Sich explizit als links verstehend, ging es ihr um die Verbindung humanistischer und sozialistischer Ideen und um die Wiederbildung literarischer Tradition in Deutschland nach dem Nationasozialismus, gerade in Bezugnahme auf den sogenannten literarischen Widerstand im Dritten Reich, wozu mit Abstrichen selbst Ernst Jünger gezählt wurde. Die Gruppe 47 umfasste einen »inneren Kreis«, zu dem u.a. H.W. Richter, Raddatz, A. Andersch, G. Grass zählten. Zu ihren Treffen luden sie andere SchriftstellerInnen (wie u. a. P. Celan, P. Weiss, H.M. Enzensberger) der Verbreiterung und Einflussnahme wegen ein. Bemüht war die Gruppe 47 vor allem auch um die Definition von Zugehörigkeit zu ihrem Verbund, was Celan trotz einer Einladung, die entsprechend der kulturpolitischen Bedeutung der Gruppe 47 viel galt, auf einem ihrer Treffen zu lesen, bald schmerzlichtst erfahren musste. An den Namen schon ist der Einfluss der Mitglieder auf die geistesgeschichtliche Entwicklung der BRD abzulesen, den die Einzelnen auch nach dem Ende der Treffen 1969 und dem faktischen Ende der Gruppe wahrnahmen.
Fußnoten:
(1) Vgl.: Martin Walsers Dankesrede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels in der Frankfurter Paulskirche, in: Junge Freiheit, Nr. 43, 16.10.1998. Beifall fand Walser jedoch nicht nur bei Rechtsradikalen, sondern vor allem auch in der bürgerlichen Presse, die seine Position breit und affirmativ rezipierte.
(2) ebd.
(3) Klaus Brigleb: Mißachtung und Tabu. Berlin/Wien 2003,
S. 63. Wem genau dieses Zitat zugeschrieben ist und zu welcher Partei dieser gehört, konnte aus dem Text nicht ermittelt werden. Es stammt aber von 1988 und im Text ist lediglich von einem »bald regierende(n) Politiker« die Rede. Es geht aber wohl mehr darum, dass es gesagt wurde, und nicht, wer genau es sagte.
(4) Peter Weiss: Notizbücher 1960-1971. Frankfurt/Main 1982, S. 491ff. Wer genau die zitierten Worte zu Peter Weiss sagte, geht weder aus seinem Notizbuch noch aus der Sekundärliteratur hervor. In letzterer wird aber vermutet, dass es sich um enge Vertraute Hans Werner Richters oder diesen selbst handeln muss.
(5) Brigleb, a.a.O., S. 59.
(6) Martin Walsers Friedenspreis-Rede, a.a.O.
(7) Hans Werner Richter: Zwischen Freiheit und Quarantäne. in:
ders. (Hg.) Bestandsaufnahme. Eine deutsche
Bilanz 1962, München/Wien/Basel 1962, S. 12f.
(8) Alfred Andersch: Deutsche Literatur in der Entscheidung.
in: Gerd Haffmans (Hg.): Das Alfred Andersch Lesebuch, Zürich 1979, S. 129.
(9) Richter, a.a.O., S. 15.
(10) Richter, a.a.O., S. 18.
(11) Richter, a.a.O., S.17.
(12) Theodor W. Adorno/Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt/M 2000, S. 203.
Alexander Reutlinger und Christoph Schaub
Berlin