Sturm auf den liberalen Zeitgeist

Einige Thesen zur Aussenpolitik der USA und die unterschiedliche Wahrnehmung der Politik im transatlantischen Vergleich (1)

Einige Thesen. Sein letzter Besuch in der USA habe ihn derart deprimiert, teilte der sich selbst in der Tradition der kritischen Theorie begreifende deutsche Vorzeigephilosoph Jürgen Habermas kürzlich in der Frankfurter Rundschau mit, dass er sich anscheinend als einer der letzten Warner vor den unilateralen Machtbestrebungen der USA begriff. Denn – so sein Fazit – das »öffentliche Klima« dort bedrückte ihn, da die »Regierung den Krieg gegen den Irak auch in den Medien vorbereitete« und die Opposition fast völlig zum Verstummen gebracht worden war. Umso erleichterter schien er angesichts der Entdeckung des Manuskriptes eines »angesehenen englischen Kollegen«, welches »das Gerechtigkeitspathos eines alten Sozialdemokraten« ausstrahlte und »eine ganz andere Sicht zur Geltung brachte«(2). In der Sicht des »Moralphilosophen« Ted Honderich werden zwar die Anschläge vom 11. September 2001 nicht gut geheißen, aber durchaus im Kontext eines Kampfes für ein besseres Leben einordnet. So begründet er seine Ablehnung letztendlich damit, dass im Gegensatz zum »moralisch legitimen Recht« der palästinensischen Suicide Bombers, die Attentäter des 11.9. nichts zur Veränderung der Welt beigetragen hätten, außer die Verantwortung der USA an sozialem Unrecht offen zu legen. Vor lauter Entsetzen über ein Amerika, welches die »Moral des Völkerrechts« mit dem seiner Meinung nach »durch nichts zu rechtfertigenden« Sturz Saddam Husseins auszuhebeln schien, empfahl Habermas daraufhin Ted Honderichs Buch »Nach dem Terror« dem Suhrkamp-Verlag zur Publikation. Während er selbst nicht nur die Feuilleton-Seiten füllte, versuchte Habermas zusammen mit Jacques Derrida eine Initiative zu starten, die der »Hybris« der USA ein neu zu schaffendes Europa gegenüberstellte. In diesem solle Deutschland zusammen mit Frankreich die Rolle der Lokomotive übernehmen und dessen Ausgangspunkt stelle das gemeinsame Vertrauen in »die Organisationsfähigkeit des Staates«, sowie die Skepsis gegenüber der »Leistungsfähigkeit des Marktes« dar. Nicht zufällig erkoren sie die europäischen Friedensdemonstrationen vom 15. Februar dieses Jahres zum Ausgangspunkt der »neuen Bewegung«.(3)

Aus dem Streit, wie mit dem Irak unter Saddam Hussein umzugehen sei, ist eine grundsätzliche Auseinandersetzung geworden, die zunehmend auch alle nach dem 2. Weltkrieg geschaffenen Sicherungssysteme wie NATO, UNO und selbst die EU in Frage zu stellen beginnt. Mit Ausbruch der sogenannten Al-Aksa-Intifada, dem Anschlag des 11. September 2001 und vor allem vor Ausbruch des 3. Golfkrieges wurde offensichtlich, was seit langem sich ankündigte: der Konflikt zwischen Deutsch-Kontinentaleuropa und den USA (mit England an seiner Seite) ist weit mehr, als bloße innerimperialistische Konkurrenz. Er ist gleichzeitig Ausdruck einer wesentlichen Differenz der Wahrnehmung der kapitalistischen Vergesellschaftungsform, welche nur zeitweise von den festen Fronten des Kalten Krieges überlagert wurde. Während die einen eher den Kapitalismus in seiner Gesamtheit als »überhistorisches« Phänomen affirmieren, wird vor allem in Deutschland der »abstrakte Markt« mit Skepsis betrachtet, welcher durch den Souverän gemeistert werden soll.

Gemeinsam ist vielen links-liberalen wie konservativen Politikern, Intellektuellen und Redakteuren in den USA, die amerikanische Außenpolitik in Folge der Anschläge vom 11. September in die Kontinuität eines bürgerlichen Antifaschismus zu stellen. Aus der Sicht des ehemaligen Redakteurs von »The Nation« Christopher Hitchens hatten die USA diesen, zur Zeit des kalten Krieges weitgehendst aufgegeben, indem sie selbst jedes reaktionäre Regime unterstützten, solange es nur containment der SU versprach. Andere wiederum, wie der Konservative Victor David Hanson in der »National Review« sahen das Fortleben des US-amerikanischen Antifaschismus gerade in der Bekämpfung eines totalitären Systems wie der SU gewährleistet. Wenngleich auch mit fragwürdigen Mitteln, wie Hanson selbst einräumt, doch nun, nachdem die Zeit des containment endgültig überwunden sei, wäre es glücklicherweise nicht länger notwendig, den Prämissen einer Politik des kleineren Übels zu folgen.

In den USA wird eine Demokratisierung des Nahen Ostens zum größten Teil befürwortet. Die Gründe dafür finden sich u.a. darin, dass man die Versprechungen seiner eigenen Staatswerdung beim Wort nimmt und versucht, die bürgerliche Freiheit des Individuums vor dem Staat zu schützen. Dass dies auch über die eigenen Grenzen hinaus geschieht, ist nicht zuletzt dem reinen Eigeninteresse geschuldet, zukünftig Anschläge auf die USA von Islamisten und reaktionären Regimen schon weitestgehend im Vorfeld verhindern zu wollen.

In den Augen deutscher und anderer »alt-europäischer« Politiker, Intellektueller und Medien schien jedoch der gewaltsame Sturz eines Despoten und der US-amerikanische Wille, den Nahen Osten zu demokratisieren, das »Überleben der Welt« in Frage zu stellen und damit zweifelsfrei zu beweisen, dass die USA endgültig zu dem »totalitären Regime« geworden seien, das Europa und die Gemeinschaft der Völker bedrohe.

Die Friedensbewegung kaprizierte sich vornehmlich auf das »Argument der Argumente: Öl als magischer Schlüssel zur Erklärung der Welt«(4). Hinzu kam die Gleichsetzung Bushs und Scharons mit Hitler und durch die reflexhafte Beschreibung Bagdads als neues Dresden die Verdeutlichung, welchen Frieden sie sich wünschten. Intellektuelle lieferten den Background, in dem sie versuchten zu belegen, die USA seien heute nicht mehr als eine »Rumpfdemokratie«, in der die Konservativen ähnlich den intellektuellen Rechten der 30er Jahre in Deutschland »zum Sturm auf den liberalen Zeitgeist« mittels einer konservativen Revolution aufriefen.(5) Dazu diente der Vorwurf, Amerika strebe eine unipolare Welt an und sei doch weiterhin als Hegemon nicht mehr als eine Nation, die nur dem Eigeninteresse folge und weniger denn je von Moral und universalen Idealismus geleitet werde. Die diesmal vornehmlich von Liberalen und Linken vertretenen Vorstellungen waren jedoch nichts Neues: bereits vorletztes Jahrhundert waren sie von den »Kulturpessimisten« und denen gezeichnet worden, welchen die Welt des »alten Kontinent« durch Modernisierung bedroht erschien.

Nicht nur in den Äußerungen von Regierungsmitgliedern, sondern ebenso bei Habermas und anderen führenden deutschen Intellektuellen, wie auch auf den Leserbriefseiten der Zeitungen und in der Linken spiegelt sich die Angst vor Veränderungen und das Beschwören des Status Quo wieder. Beispielhaft geschieht dies durch Warnungen vor zuviel Freiheit, die im kulturellem Niedergang münde, oder vor dem zu unvermittelt erfolgenden ökonomischen Wandel, der die Gemeinschaft zerstöre. Deutsche Politiker unter der Führerschaft des Kanzlers beschworen die Politik des Appeasement und Containment, da Gewalt immer nur Gegengewalt erzeuge und, wie der Kanzler in seiner Regierungserklärung »Mut zum Frieden« vorgab, die Containment-Politik gerade deshalb erfolgreich gewesen sei, da bei ihr nie »eine militärische Option auch nur zu Gebote gestanden hätte«(6)

Hatte Amerika seit seiner Staatsgründung den Hass aller alten Eliten auf sich gezogen, blieb dieser Hass, der sich zwar schon im 19. Jahrhundert zur Ideologie verfestigte, nichtsdestoweniger in dieser Zeit noch ein Phänomen der Reaktionäre, die der Modernisierung der Welt ablehnend gegenüberstanden. Während Amerika, mit der erfolgreichen amerikanischen Revolution verstärkt zur Projektionsfläche all der ohnmächtigen Sehnsüchte jener in der »Alten Welt« wurde, die sich nach einer besseren Zukunft jenseits von Armut und feudalistischen Zwängen sehnten. Denn diese versprach, dem interessengeleiteten Streben des Einzelnen mehr Gewicht beizumessen, als dem Wert von ›Gemeinschaft‹ oder anderen Kollektiven. So stand im Mittelpunkt der Überlegungen der Bill of Rights das Individuum, welches nicht nur vor dem Machthaber zu schützen sei, sondern dessen Rechte – ebenso wie die jeder Minderheit – gegen die »von Interessen geleiteten Kombinationen der Mehrheit« zu verteidigen seien. Als sich in Frankreich die Jakobiner zunehmend anschickten, eine moralische Republik zu schaffen, in der die freie Entfaltung des Einzelnen der neu zu begründenden Gesellschaft untergeordnet werden sollte, machte man sich in Amerika Gedanken, wie durch eine Balance of Power die jeweils unterschiedlichen Interessen der gesellschaftlichen Gruppen garantiert werden könnten.

Stellte sich für linke und fortschrittliche Kräfte lange Zeit Amerika als »Land der Hoffnung« dar, schlug mit Beginn der Bombardierung Vietnams durch die US-Army die Begeisterung der Linken für Amerika um in eine Kritik, die innerhalb kürzester Zeit zum Ressentiment verkam. Es blieb einigen Wenigen, wie Max Horkheimer oder Theodor W. Adorno überlassen, vor Simplifizierungen und Gleichsetzungen zu warnen. Bei der Eröffnung der deutsch-amerikanischen Freundschaftswoche am Frankfurter Römerberg im Mai 1967, benannte Horkheimer »das Furchtbare« des Vietnamkrieges. Doch zugleich verwies er auf die lange Tradition Amerikas, welches »immer seine Arme geöffnet hat« für diejenigen, die »in Europa ihrer freiheitlichen Gesinnung willen verfolgt waren«(7) und verwies auf das Nationalgefühl, das sich in Deutschland »mehr aufs Vaterland, in Amerika mehr auf die »Constitution und die Bürgerrechte«´(8) beziehe. Der SDS sah sich daraufhin veranlasst, einen Brief an Max Horkheimer zu verfassen, in dem diesem erläuterte wurde, er habe mit seiner Stellungnahme »für den amerikanischen Krieg in Vietnam« Handgreiflichkeiten gegen ihn selbst provoziert. Die abschließende Analyse stellte heraus, »daß der Faschisierungsprozeß der amerikanischen Gesellschaft sich beschleunigt«(9).

In der daran anschließenden Auseinandersetzung zwischen Herbert Marcuse und Theodor W. Adorno zusammen mit Max Horkheimer, bei der Marcuse das Vorgehen der Studenten verteidigte, analysierte dagegen Adorno, dass immer im »Protest gegen die Amerikaner etwas Ideologisches« mitschwinge. Er warnte vor dem Umschlagen in den Irrationalismus durch den Verzicht auf eigene Vernunft zugunsten des Kollektivs. Horkheimer fügte erläuternd hinzu: der Freiheit, wie sie die USA über Jahrhunderte repräsentierte, und die Kritik erst ermögliche, sei »die Treue zu halten«, da ansonsten eben jene angeklagte Gewalt »zum fremden Sinn der eigenen Rede« werden könne(10).

Das Ende der Studentenbewegung und ihr Zerfall in K-Gruppen markierte dann endgültig den Beginn des deutschtümelnden Amerikahasses der Linken und korrespondierten nicht per Zufall mit einem rabiaten Antizionismus. Horkheimer, der bereits 1966 die Abgründe zwischen legitimer Kritik und blindem Antiamerikanismus analysierte, kritisierte im darauffolgenden Jahr wie auch Jean Paul Sartre und Jean Améry den Umschlag der Linken vom Philosemitismus in den Antizionismus und notierte: »Überall dort, wo der Anti-Amerikanismus sich findet, (macht) auch der Antisemitismus sich breit.«(11) Es dauerte dann nur noch zwei Jahre, bis pünktlich zum 31. Jahrestag der sogenannten »Reichskristallnacht« in der Berliner jüdischen Gemeinde von Linken eine Brandbombe deponiert wurde, da »aus den vom Faschismus vertriebenen Juden selbst Faschisten geworden sind«, die mit dem »amerikanischen Kapital« kollaborieren würden.(12) Obwohl die Linke fast jeden kapitalistischen Staat, manchen mehr, manchen weniger als faschistisch bezeichnete,(13) so erschienen doch seit Ende der 60er Jahre Israel und die USA als besonders faschistisch, da sie dem Bild, welches man von ihnen bis dahin hatte, nicht mehr entsprachen. Zunehmend verband sich der linke Antiamerikanismus mit jenem alten, der meint, Amerika stelle die Verkörperung einer Gesellschaft ohne Staat dar. Dieser wurde von offizieller Seite, nicht zuletzt durch die Konstellation des kalten Krieges bedingt, noch versucht zurückzudrängen. Inzwischen meinen auch Linke, sich über die Idee der Freiheit selbst empören zu müssen, wie auch über die Versprechungen von Menschenrechten, an denen doch trotz der Unmöglichkeit sie im Kapitalismus letztendlich wirklich einlösen zu können, unabdingbar festzuhalten ist, will man nicht der endgültigen Barbarei Vorschub leisten.

Regierungen und Bevölkerung im alten Europa erscheint Amerika als omnipotenter Fadenzieher, der einem ausgeklügelten Masterplan folgt und zugleich nicht in der Lage ist, ein Land wie den Irak zu befrieden. Diese Vorstellung beruht letztendlich auf dem selben Weltbild, wie die vom feigen Juden, der zugleich die Geschicke der Welt lenkt. Währenddessen rufen antisemitische Islamisten oder Panarabisten zum Djihad gegen den »kleinen und großen Satan« auf. Für einen Großteil der Menschen im Nahen Osten beinhaltet die Rede von »Freedom and Democracy«, im Gegensatz zur Meinung von Habermas, die Hoffnung auf ein besseres Leben und auf Überwindung unmittelbarer Zwangsherrschaft. Gerade 11% der Iraker wünschen sich laut Umfragen eine Rückkehr Saddam Husseins oder eine rein islamistische Herrschaft(14), während die meisten, ebenso wie z.B. die iranischen Studenten, der repressiven Gleichheit des Zwangskollektivs die Befreiung in den Markt unbedingt vorziehen.

Wer also neue Verschwörungstheorien über die USA oder deren Ölinteresse lesen möchte, dem kann das demnächst erscheinende Buch »Amerika dich haßt sich’s besser« nicht empfohlen werden. Wer allerdings etwas über die Außenpolitik der USA, insbesondere in Bezug auf den Nahen Osten und einige Kommentare von amerikanischer Seite lesen will, sowie etwas über die Wahrnehmung der USA in Deutschland und Projektionen auf die USA in den letzten zwei Jahrhunderten und darüber hinaus etwas über die Diskussionen nach dem 11.9 und dem Sturz Saddam Husseins in Israel, Syrien und dem Iran erfahren will, sollte einen Blick in dieses Buch werfen.

 

 

Fußnoten:

(1) Die folgenden Thesen beruhen weitestgehend auf Überlegungen, die dem demnächst erscheinenden Sammelband: Thomas v.d. Osten–Sacken/Thomas Uwer u.a., Amerika dich haßt sich’s besser. Hamburg 2003, zugrunde liegen.

(2) Alle Zitate aus: Jürgen Habermas, Hemdsärmliges Pamphlet in: FR vom 6.8.2003.

(3) vgl. Jacques Derrida/Jürgen Habermas, »Unsere Erneuerung – Nach dem Krieg, die Wiedergeburt Europas«, Zit. n. FAZ vom 31.5.2003. S.33ff.

(4) Natan Sznaider, Amerika, du machst es besser, in: Die Zeit 5/2003.

(5) Heinrich August Winkler, Wenn die Macht Recht spricht. in: Die Zeit 26/2003.

(6) zit. n. FAZ 14.2.2003 S. 6.

(7) Max Horkheimer, Briefwechsel 1949-1973. Gesammelte Schriften. Bd.18. Frankfurt/Main 1996. S. 646.

(8) ebd. S. 651.

(9) Vgl. Offener Brief an Max Horkheimer in: ebd. S.644f.

(10) ebd S. 645 ff.

(11) Max Horkheimer, GS, Bd. 14, nachgelassene Schriften 1949-1972 Frankfurt/Main 1988.

S. 408.

(12) Schwarze Ratten/Tupamaros Westberlin, zit. n.: Bommi Baumann, Wie alles anfing, Frankfurt 1976, S. 67.

(13) »Wenn sowohl Mussolini als auch Léon Blum, Franklin D. Roosevelt, Franco und José Antonio, Coldreanu, Pilsudski, Henri de Man, Joseph McCarthy und Charles de Gaulle als Faschisten bezeichnet worden sind, was kann das dann für einen Gattungsbegriff noch aussagen?« Zeev Sternhell: Faschistische Ideologie, Berlin 2002, S. 12.

(14) The Voice of Baghdad in Spectator vom 7.7.2003.

Andrea Woeldike
Die Autoruin hat das Buch »Freiheit und Wahn deutscher Arbeit« mitverfasst