»Wenn die nationale Borniertheit überall widerlich ist, so wird sie namentlich in Deutschland ekelhaft, weil sie hier mit der Illusion, über die Nationalität und über alle wirklichen Interessen erhaben zu sein, denjenigen Nationalitäten entgegengehalten wird, die ihre nationale Borniertheit und ihr Beruhen auf wirklichen Interessen offen eingestehen.«
Karl Marx, Die deutsche Ideologie
Der 3. Oktober bezeichnet das Ende einer Epoche. Mit dem Verschwinden der UdSSR formierte sich eine neue internationale Konstellation, in der Deutschland seine volle nationale Souveränität wieder erlangte und keiner alliierten Restriktion mehr unterliegt. Das neuerstarkte Deutschland schickt sich nunmehr an, einen Platz an der Sonne in der globalisierten Welt zu gewinnen. Während sich am 3. Oktober 1990 am Brandenburger Tor Hunderttausende feucht-fröhlich als endlich wieder vereinte Nation abfeierten, demonstrierten im Zentrum Berlins einige tausend Autonome unter dem Motto: »Deutschland halt’s Maul!«. Doch die Nation lässt sich ihren Spaß nicht verderben: Die Demo wird von der Polizei brutal auseinander geprügelt.
Kapital & Nation
Wird schon am Beitrittstag selbst jeder Einspruch gegen die Nation zensiert, wird in der Folgezeit deutlich, dass es am Ende der Geschichte kein »Jenseits der Nation« mehr gibt. Von der ideologischen Formation der Nation soll der grundsätzliche kapitalistische Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit aufgehoben werden. Der Einzelne wird aufgerufen, sich im Interesse des Allgemeinen zu verhalten und den Gürtel enger zu schnallen. Der Grundwiderspruch ist weggewischt: Regierung, Arbeitgeber und Gewerkschaften vertreten nicht »ihre« Interessen, sondern buhlen um den Titel des Bewahrers des »nationalen Wohls«. Jedes schnöde Interesse hat sich, bevor es artikuliert werden darf, vor dem vermeintlich im Staat verkörperten Allgemeininteresse zu rechtfertigen. Ein jeder ist aufgerufen, dem nationalen Kapital auch im eigenen Interesse – denn wer sonst sollte Arbeitsplätze garantieren – gegen den Druck der globalen Konkurrenz zur Seite zu springen. Angesichts dieser freiwilligen Unterordnung unter angebliche Sachzwänge ist es nicht verwunderlich, wenn erreichte soziale Errungenschaften fast widerstandslos abgeschafft werden können, auch wenn dem autoritären deutschen Sozialstaat nicht unbedingt eine Träne nachgeweint werden muss. Die Identifizierung mit der Nation im Sinne der Konkurrenz schlägt um in Hass auf Nichtdeutsche, insbesondere Flüchtlinge und andere aus dem Verwertungsprozess Ausgeschlossene, wie z.B. Arbeits- und Obdachlose.
Was deutsch ist
Die »deutsche Ideologie«, das »spezifisch Deutsche« entstand im 19. Jahrhundert als romantisches Gegenmodell in scharfer Abgrenzung zu den aufklärerischen, republikanischen Werten der Französischen Revolution. Der Kult um »Blut und Boden«, die Vorstellung eines metaphysischen »Volksgeistes«, das Ideal einer vollkommenen Verschmelzung von Staat, Nation und Gesellschaft, sowie ein besonders aggressiver, reaktionär-antikapitalistisch aufgeladener Antisemitismus sind von Anfang an für das Projekt einer deutschen Nation konstitutiv gewesen. Diese hat sich immer als Opfer begriffen und zur Tat gezwungen gesehen. Opfer deshalb, weil sie sich immer auf der Seite der Benachteiligten erblickt und sich fremden Mächten ausgeliefert fühlt – sei es gegenüber dem »Westen«, ob nun in Gestalt Frankreichs oder Englands, die Deutschland bei der Aufteilung der Welt zuvorgekommen waren, oder gegenüber der »jüdischen Weltverschwörung«, die angeblich sowohl für die kapitalistischen Krisen als auch für Arbeiterbewegung und Revolutionen verantwortlich sei. Dies fand seinen höchsten Ausdruck in dem Wahn der Shoa und des II. Weltkrieg und wurde 1945 vorerst entscheidend niedergeworfen und diskreditiert. Trotz dieses Bruchs von 1945 west die deutsche Ideologie bis heute fort und erlebt nach der Wiedererlangung voller Souveränität und territorialer Einheit 1990 eine Konjunktur.
Deutschland denken 2003
Der Identifikation mit der deutschen Nation stand nach 1945 ein historischer Makel entgegen: Auschwitz. Während in der Kohl-Ära die Shoa noch verharmlost oder relativiert wurde, funktionierten Schröder und Fischer den Makel Auschwitz aber endgültig zum Qualitätssiegel um. Trotzdem erinnert die bloße Existenz der Überlebenden und ihres Staates Israel die Deutschen an ihre Vernichtungstaten und erschwert einen positiven Bezug auf die eigene Nation. Deshalb sind Juden und Israel in Deutschland Gegenstand antisemitischer Projektionen bzw. sekundär antisemitischer Schuldabwehr. Das erwachsene Deutschland fühlt sich von der historischen Schuld frei, da es ja seine Lektion gelernt habe und sich nicht mehr von »Auschwitzkeulen« einschüchtern lasse. Dies geht einher mit dem Wunsch nach einer Täter-Opfer-Umkehr wie er sich in den Debatten über die eigenen »Opfer« zeigt: Vertreibung, alliierter »Bombenterror« und deutsche Teilung. Die neue Dreistigkeit mit der sich Deutschland als geläuterte Nation versteht, fand ihren Ausdruck in Möllemann, der jede antisemitische Äußerung mit einem »Man wird ja wohl noch ...« einleitete, und in dem Anstieg des manifesten Antisemitismus der letzten Jahre. War Möllemann ein Held des Volkes, so zeigt sich an seinem Fall und seiner Landung, dass im Moment die Reißleine des Antisemitismus nicht gezogen wird, da ein entsprechendes Projekt weder benötigt wird noch international durchsetzbar wäre. Stattdessen bekennt sich die deutsche Bourgeoisie heute freimütig zur welthistorischen Bedeutung der Shoa, um Deutschland mit einer historischen Erfahrung auszuzeichnen, die es qualifiziert in allen weltpolitischen Fragen seine Stimme zu erheben, da man sich eine besondere Sensibilität zuspricht der Anfängen überall anderswo auf der Welt zu wehren.
Auf zu neuen Kriegen
Befreit von den Schandflecken der Vergangenheit rüstet sich Deutschland für eine neue Weltmachtrolle. Diese Bestrebungen vollziehen sich in sämtlichen Bereichen – wirtschaftlich, ideologisch, kulturell – und sind meist mit dem Projekt »europäische Vereinigung« verknüpft. Am Beispiel des ersten deutschen Angriffskrieges seit 1945 gegen Jugoslawien zeigt sich deutlich, wie Deutschland mit einer geschichtsrevisionistischen Argumentation – es gelte im Kosovo ein neues Auschwitz zu verhindern – einen großen Schritt hin zur vollwertigen Weltmacht tun konnte, indem es wieder eine militärische Option in seine Politik etablierte. Weil man doch trotz aller Bemühungen noch nicht mit der momentanen Welthegemonialmacht USA konkurrieren kann und allein auch nicht können wird, wird mit aller Eile die Aufrüstung der EU voran getrieben, während man im Konkurrenzkampf mit den USA momentan die Friedenstaube mimt, sich aber im eigenen Vorhof, wie z.B. in Moldawien, schon auf neue Kriege vorbereitet.
Fuck old Europe
Die Opposition des »old Europe« gegen den Irakkrieg auf Grund eigener Vorstellungen zur Ordnung des Nahen Ostens fand einen Widerhall in den sich zu Friedensdemonstrationen versammelnden Staatsbürgern Europas, die als verfassungsgebende Versammlung dem Projekt Europa die Legitimation gab, sich auf europäische Identität berufend die Hegemonialstellung der USA in Frage zu stellen. Die Europäer sehen ihre Identität geschmiedet aus den Erfahrungen des Faschismus und der Kolonialgeschichte, woraus sie soviel gelernt haben, dass Europa weltgeschichtlich verpflichtet ist, den geschichtslosen und somit die Welt in die Katastrophe steuernden Amerikanern das Ruder aus der Hand zu nehmen. Neben dieser außenpolitischen Alternative, die Europa präsentiert, drückt sich im Lob des sich auflösenden sozialen Sicherheitsstaats des Keynesianismus durch die europäischen Intellektuellen wie Habermas, in dem der Kapitalismus als an die Kette gelegt missverstanden wird, der Wunsch nach einem Gegenmodell zum »American way of life« aus. Die deutsche Nation fühlt sich durch den neoliberalen Kapitalismus bedroht, als dessen Sachwalter die USA identifiziert werden. Die Furcht vor »amerikanischen Verhältnissen« schafft den ideologischen Kitt für die Akzeptanz eben jener neoliberalen Beschränkungen, welche die USA symbolisieren.
Selbstverständlichkeit
Eine radikale Linke sollte – auch und gerade am symbolträchtigen 3. Oktober – die Unmöglichkeit aufzeigen, sich in dieser Gesellschaft jenseits der Zwänge von Kapitalverwertung und nationaler Vergemeinschaftung frei, gleich und solidarisch zu assoziieren. Daraus folgt: Deutschland abschaffen und die herrschenden Verhältnisse umwerfen, in denen der Mensch ein geknechtetes, ausgebeutetes und verächtliches Wesen ist!
Für den Kommunismus!
Berlin, Anfang August 2003
Informationen zu einer Demonstration am 3. Oktober in Berlin bieten:
Phase 2 Berlin