Jakob Hayner
Cancel culture und Krise der Linken
Eine Polemik zum Streiten
Der Ablauf der üblichen Feuilletondebatte über cancel culture oder call-out culture sieht vor, dass im ersten Akt die für die gefährdete Meinungs-, Kunst- oder Wissenschaftsfreiheit Kämpfenden auftreten, deren Argumente im zweiten Akt von einer kritischen Linken als »rechtes Narrativ« enttarnt werden, und im dritten Akt die jeweilig Auftretenden sich in ihrer Ecke des Rings das verdiente Schulterklopfen im eigenen Kreis für die mutigen Worte gegen ihren Widerpart abholen. Dieser übliche Ablauf hinterlässt jedoch ein schales Gefühl, denn weder die eine noch die andere Seite redet über den Gegenstand, der wie alle geschichtlichen Tatsachen ein mehrdeutiger ist, beispielsweise reales Verhängnis und rechter Kampfbegriff zugleich. Wem an Meinungs-, Wissenschafts- oder Kunstfreiheit etwas liegt, dürfte von der Kommerzialisierung des Öffentlichen und des Wissens, der Macht der Medienmonopole, dem Elend der unabhängigen Presse, dem Wahnsinn der ökonomisierten Hochschulen, den Zwängen im durchökonomisierten Kulturbusiness, der brutalen Konkurrenz unter den Lohn- und anderweitig Abhängigen in all diesen Bereichen, also vom Kapitalismus, nicht schweigen. Doch statt sich der wahren Meinungs-, Wissenschafts- oder Kunstfreiheit zu verschreiben, von der Marx bekanntlich sagte, diese bestehe darin, »kein Gewerbe zu sein«, wird nur ein »Narrativ« zurückgewiesen und reflexhaft eine Gegenposition eingenommen, was sich als Kampf um Definitionen ausdrückt.
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