Weniger offene Fragen. Zur Dokumentation des Halle-Prozesses

Interview mit Linus Pook und Grischa Stanjek von democ.

Am 9. Oktober 2019 ereignete sich ein Terroranschlag auf eine Synagoge und einen nahegelegenen Imbiss in Halle (Saale). Der Prozess begann im Juli 2020 und der Attentäter wurde am 21. Dezember 2020 des zweifachen Mordes, versuchten Mordes zulasten von 66 Personen sowie weiterer Straftaten schuldig gesprochen und zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt. Der gemeinnützige Verein democ. Zentrum Demokratischer Widerspruch e.V. hat alle 26 Prozesstage begleitet, im Netz auf democ.de/halle dokumentiert und die Dokumentation Ende 2021 in dem 900-seitigen Band Der Halle-Prozess: Mitschriften herausgegeben. Mit den Vorstands- und Gründungsmitgliedern des Vereins, Linus Pook und Grischa Stanjek, sprach Phase 2 über das Projekt der Prozessdokumentation, Erkenntnisse aus der Arbeit und darüber, welche Bedeutung der Halle-Prozess hat. 

 

Könnt ihr uns zunächst mehr über den Verein und eure Arbeit erzählen? Was ist democ. und wie kam es zu eurem Engagement in dieser Form? 

 

Linus Pook: Grundsätzlich wollen wir die Erscheinungsformen antidemokratischer Kräfte und Tendenzen für eine möglichst breiten Öffentlichkeit dokumentieren. Wir achten dabei besonders darauf, wie man kommunikativ und visuell möglichst niedrigschwellig Menschen erreicht. Das spielt bei der Gestaltung unserer Inhalte eine große Rolle. Wir haben etwa umfangreich die Querdenken-Demonstrationen dokumentiert und dabei den Fokus unserer Arbeit auf Videos oder Fotos gesetzt. 

 

Grischa Stanjek: Viele von uns kennen sich schon aus anderen NGOs und hatten bereits zu den Themen Antisemitismus, Rechtsextremismus und Islamismus zusammengearbeitet. Ende 2019 haben wir entschieden, einen eigenen Verein zu gründen, um eine unabhängige Struktur und Plattform für unsere Arbeit aufzubauen. Der Verein ermöglicht es uns, unsere Arbeit selbst bestimmen zu können und nicht bloß in einem Lohnabhängigkeitsverhältnis zu stehen. Da es ein sehr junger Verein ist, haben wir viele Freiheiten und auch Motivation, unsere Projekte inhaltlich auszuwählen. Wenn wir abhängiger wären von Geldgeber:innen oder in einem Verhältnis zum Ministerium stünden, müssten wir uns wahrscheinlich mehr Gedanken machen, welche Projekte wir umsetzen können. Die umfangreiche Dokumentation zum Halle-Prozess ist auch ein Zeichen dieser Motivation – und zwar auch der Motivation, viel ehrenamtlich zu arbeiten – sie wäre in einem anderen Rahmen so nicht entstanden. Wir waren noch unverbraucht und fanden, es gibt Leerstellen, die wir füllen wollen, ohne uns zu fragen, von welchem Ministerium oder Geldgeber:innen wir jetzt welches Geld bekommen. Wir haben es einfach gemacht. Im Nachhinein würden wir wahrscheinlich einige Sachen anders machen. Rückblickend hatte das ganze Projekt einen Arbeitsumfang, den wir anfangs völlig unterschätzt haben. 

 

Warum habt ihr euch entschieden, den Halle-Prozesses so umfangreich zu begleiten und zu dokumentieren? 

 

Grischa Stanjek: Neben der Dokumentation von Querdenken-Demonstrationen war die Arbeit zum Halle-Prozess unser erstes größeres Projekt und wir haben entschieden, eine lückenlose Dokumentation des Prozesses zu ermöglichen und zu veröffentlichen. Aus unserer früheren Arbeit wussten wir, wie wichtig eine Prozessdokumentation für die Betroffenen, für zivilgesellschaftliche Aufarbeitung und für eine breite Öffentlichkeit ist. Wir hatten zuvor meist kleinere Prozesse beobachtet, auch da ist uns schon aufgefallen, dass es kaum Öffentlichkeit gibt, und dass selbst die Institutionen, die sich eigentlich zum Beispiel um Antiziganismus oder Antisemitismus kümmern, oft gar nicht im Detail mitbekommen, was in so einem Strafprozess passiert. Auch bei früheren Recherchen zu palästinensischem Terrorismus, vor allem in Westdeutschland, sind wir auf sehr viele Gerichtsverhandlungen gestoßen, zu denen es zwar Gerichtsakten gibt, die aber nicht öffentlich wurden. Es gibt in der Regel auch keine öffentlich zugänglichen Aufzeichnungen dazu. Entsprechend ist es sehr mühevoll, die Geschehnisse zu rekonstruieren. All das war unsere Motivation, den Halle-Prozess selbst lückenlos zu dokumentieren und möglichst schnell einer interessierten Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. 

 

Linus Pook: Wir sind in die umfassende Dokumentation ein bisschen reingeraten, würde ich sagen. Es gab erst die Idee, Kurzberichte und ein langes ausführliches Protokoll zu schreiben. Dafür hatten wir zunächst eine Online-Veröffentlichung im Sinn. Ich glaube, zu den ersten Prozesstagen hat es noch geklappt, ein ausführliches Protokoll oder eine Mitschrift innerhalb von ein bis zwei Wochen online zu stellen. Dann haben wir gemerkt, dass der Arbeitsaufwand dafür zu hoch ist. Kurz nach Prozessende haben wir darüber nachgedacht, wie wir mit dem gesamten Material umgehen sollen. Wir hatten zu dem Zeitpunkt viele kollaborative Dokumente, in denen wir während des Prozesses so schnell es ging, in Stichpunkten mitgeschrieben haben. Die Idee zur Buchpublikation entstand aus dem Wunsch heraus, dass wir nachhaltig dokumentieren wollten. Wir haben uns gewünscht, dass die Prozessinhalte vernünftig zitierbar werden und sie nicht nur auf einer Webseite von einem Verein stehen, den keiner kennt. Das ist vor allem wichtig, wenn man sich wissenschaftlich mit dem Halle-Prozess auseinandersetzen möchte. Wenn man in einem größeren Zeithorizont denkt, ist es wahrscheinlicher, dass es in 50 Jahren noch Bücher über diesen Prozess gibt, und den Verein und die Webseite vermutlich nicht mehr. Wir haben erst während der Arbeit an dem Buch gemerkt, dass es deutlich umfangreicher wird und eine intensivere Arbeit am Text bedeutet, als wir am Anfang gedacht haben. Wir konnten zu Beginn nicht absehen, wie lang der Prozess werden würde – und hätten wir es gesehen, hätten wir wahrscheinlich den Prozess nicht so beobachtet, wie wir das getan haben. Ich glaube, es waren ursprünglich 15 Verhandlungstage angesetzt, am Ende wurden es 26. Es gab Tage, da wurde nur zwei Stunden formal der Fortgang des Prozesses diskutiert und Tage, bei denen die Dokumentation um die 50, 60 oder 70 Seiten umfasst. Das habe ich vorher nicht so kommen sehen. 

 

Grischa Stanjek: Bevor dieses Buch entstanden ist, haben wir natürlich nie gedacht, dass es ein so langes und so großes Unterfangen wird. Wir hatten den Umfang auf grob 400 Seiten geschätzt, also weniger als die Hälfte, die es tatsächlich geworden sind. Wir haben uns da einfach übernommen. Gleichzeitig war bereits so viel Arbeit in das Projekt geflossen, dass wir gar nicht mehr anders konnten, als weiterzumachen. Das gesammelte Material einfach halbfertig online zu stellen, kam für uns nicht infrage. Letztlich sind dann auch ein paar Sachen ins Buch gekommen, die wir online nicht veröffentlicht haben. Wir hatten online zunächst mehr gekürzt, weil wir noch sehr unsicher waren, wie wir mit bestimmten Sachen umgehen, ob wir zum Beispiel die langen Aussagen des Angeklagten genau wiedergeben. Dazu gab es eine längere Diskussion, letztlich haben uns dann mit wenigen Ausnahmen dafür entschieden. 

 

Was würdet ihr sagen, ist das Wichtige an dieser Form der Prozessbeobachtung und -dokumentation? Geht es um Erkenntnis über den Täter? Geht es um Erkenntnisse über das Verfahren? Welche Erkenntnisse erhofft ihr euch von der minutiösen Prozessbeobachtung? 

 

Linus Pook: Ich denke, es gibt zwei Ebenen. Zum einen haben wir den Anspruch, dass alles festgehalten wird, was für die Bewertung der Schuld des Täters von Bedeutung ist, wie es in der Strafprozessordnung heißt. Was das im Einzelnen ist, darüber können die Meinungen der Verfahrensbeteiligten recht weit auseinander liegen, wie man ja auch im Halle-Prozess gesehen hat. Aber an sich ist der Prozess das Versprechen, dass in der Verhandlung alles thematisiert wird und entsprechend alles, was im Prozess auftaucht, auch relevant zu diesem Thema ist. Alles was nicht festgehalten wird, geht später einfach verloren. Das liegt vor allem daran, dass die Hauptverhandlung im Strafprozess eben mündlich stattfindet und es dazu kein amtliches Protokoll gibt, worin die Aussagen später nachzulesen wären. Das war unsere stärkste Motivation – oder besser: unser erster Zugang zu dieser Prozessbeobachtung. Zum anderen, also die zweite Ebene, ist solch ein Prozess an sich von historischer Bedeutung. Dieser Aspekt hat vor allem durch die Rolle der Nebenklage während des Prozesses an Bedeutung gewonnen, denn hier zeigt sich besonders, wie eine Gesellschaft oder wie ein Staat auf solche Taten reagiert. Also konkreter: Wie ein Staat versucht, durch Strafe Rechtsfrieden herzustellen. Das ist am Halle-Prozess für sich genommen schon interessant, aber die Dokumentation ermöglicht den analytischen Vergleich mit anderen Verfahren in der Geschichte der Bundesrepublik. Und da bieten sich einige an, nicht zuletzt der NSU-Prozess. Für eben solche Vergleiche und Auseinandersetzungen, die auch Veränderungen in der rechtsstaatlichen Reaktion dokumentieren, ist das Buch sicherlich eine Hilfestellung. 

 

Ist euch in der Prozessbegleitung etwas an solchen Veränderungen aufgefallen, beziehungsweise gab es bestimmte Beobachtungen, die ihr als symptomatisch für ein bestimmtes Problem begreift oder die Euch besonders in Erinnerung geblieben sind? 

 

Grischa Stanjek: Es gab zum Beispiel die spannende Entwicklung der Vorsitzenden Richterin Ursula Mertens, die im Verlauf des Prozesses ihre Haltung und auch ihr Verständnis von Antisemitismus verändert hat. Mit der Dimension dieses Prozesses hatte sie vorher noch nie zu tun. Und man merkte, finde ich, sehr früh, dass sie kaum Ahnung von Antisemitismus oder von jüdischem Leben in Deutschland hatte. Sie schien davon auszugehen, dass alles, was sie wissen muss, durch Expert:innen und Sachverständige vorgetragen wird, sie so die gesamte Problemlage von Antisemitismus klären und schließlich ein Urteil fällen kann. Ich glaube diese Vorstellung hat sich im Verlauf des Prozesses verändert. Ein Beispiel dafür: Die Richterin schien zu Beginn des Prozesses eine Anhängerin der Idee zu sein, dass man Rassisten oder Antisemiten einfach nur mit dem konfrontieren müsste, wovor sie Angst haben und was sie daher hassen. Es ist die verkürzte Vorstellung, wie man sie auch in Ansätzen der Bildungsarbeit kennt, man müsste einfach nur mehr schwarze Menschen sehen, um kein Rassist mehr zu sein. Oder eben: Nach Kontakt mit Jüdinnen und Juden ist man kein Antisemit mehr. In diesem Sinne machte sie eine sehr schräge Bemerkung. Sie fragte den Angeklagten, warum er sich denn nicht einfach mal am Tag des offenen Denkmals die Synagoge von innen angeschaut hätte. Sie meinte das sicherlich positiv, als könnte er so die konkreten Individuen kennenlernen und müsste sie dann nicht mehr abstrakt hassen und umbringen wollen. Die mörderische Dimension von Antisemitismus schien ihr nicht bekannt zu sein. Im Verlauf des Prozesses änderte sich dieser Zugang der Richterin, sie wurde zum Beispiel zunehmend vehementer dem Angeklagten gegenüber. Es blieb aber weiterhin deutlich, dass sie viele der antisemitischen oder rassistischen Anspielungen des Täters nicht verstand, etwa den verwendeten Online-Jargon. Teilweise hat die Richterin diesen sogar wiederholt. Die Richterin so vorzuführen, schien ein Ziel des Täters gewesen zu sein. Er kicherte dann einfach. 

 

Linus Pook: Ich habe mich auch manchmal gewundert – und das klingt jetzt vielleicht härter als ich das meine –, wie ungeniert unvorbereitet die Richterin inhaltlich in diesen Prozess gegangen ist, mindestens in Bezug auf Antisemitismus und Rassismus. Ich erinnere mich etwa an eine Situation, in der es um irgendwelche Dokumente des Angeklagten ging, aus denen englische Begriffe von einem Dolmetscher übersetzt werden sollten. Der Dolmetscher wollte eine Zeile nicht übersetzen und sagte stattdessen, dass dort das »N-Wort« zu lesen sei. Die Richterin hat nicht verstanden, was das bedeutet. Sie hat dreimal nachgefragt, warum das denn jetzt nicht übersetzt würde. Diese Unkenntnis über relevante Diskurse war für mich doch überraschend. Ebenso wie die gegenüber Hass im Internet. Als Vorsitzende Richterin eines Staatsschutzsenats am Oberlandesgericht hat sie dazu Fragen gestellt, bei denen ich dachte: Sie hat doch tausende Seiten Verfahrensakten im Vorfeld dieses Prozesses gelesen, warum hat sie nicht auch einmal irgendetwas Inhaltliches zu Incels und rechten Onlineforen gelesen, um sich wenigstens ein bisschen mit der Terminologie vertraut zu machen. Man bekam den Eindruck, dass sie nicht weiß, was überhaupt ein Imageboard ist; oder ein Posting, wo das dann erscheint etc. 

 

Diese Unkenntnis oder fehlende Sensibilität findet sich auch bei der polizeilichen Ermittlung wieder. Besonders im Rahmen des NSU-Prozesses gab es ja deutliche Kritik an der Polizei. Wie habt ihr das Verhältnis von Polizei und Gericht im Halle-Prozess erlebt? 

 

Linus Pook: Grundsätzlich muss man sagen, dass die Richterin der Nebenklage und den Betroffenen gegenüber sehr zugewandt war. Das war ein deutlicher Unterschied zum NSU-Prozess. Zum Beispiel ließ die Richterin jeden als Betroffenen sprechen, der aussagen wollte. Sie hat auch die Betroffenen ermutigt, ausführlich ihre Geschichte darzustellen, wie die Tat sie individuell getroffen hat oder welche Kontinuitäten von Antisemitismus sie und ihre Familien erfahren haben. Außerdem hat sie berichtet, dass sie telefonisch bei der Mutter der ermordeten Jana L. nachgefragt habe, ob sie wirklich nicht als Betroffene aussagen wolle. Das war schon etwas Besonderes und ich hatte auch das Gefühl, dass viele Betroffene und Nebenkläger:innen dies bemerkten. Diese Besonderheit zog sich leider nicht durch den gesamten Prozess. Die Richterin ist zum Beispiel immer sehr reflexartig für die Polizei in die Bresche gesprungen. Selbst wenn Nebenkläger:innen auch recht harmlos und nachvollziehbar die Polizei kritisiert haben, hat sie für die Polizei Wort ergriffen. Oder wenn Polizist:innen, die ermittelt haben, ein bisschen kritischer zu ihren Ermittlungen befragt wurden, hat sie die Befragung unterbrochen und das mit Zeitdruck begründet. Und letztlich hat sie dann auch im Urteil, wie ein rhetorisches Mittel, die Arbeit der Polizei an drei Stellen als heldenhaft beschrieben. Mit dieser Haltung hatte ich nicht gerechnet, denn es gab ja durchaus Spannungen zwischen den Nebenkläget:innen und der Polizei. Die Richterin hat da wohl zu vermitteln versucht. Damit hat sie aus meiner Sicht einfach ihre Rolle überschätzt. 

 

Wie wurde der Prozess öffentlich wahrgenommen? 

 

Linus Pook: In Deutschland war die Aufmerksamkeit vor allem am Anfang und Ende des Prozesses groß, da waren alle 44 Presseplätze besetzt. An manchen Verhandlungstagen, an denen durchaus Relevantes behandelt wurde, waren aber nur fünf, sechs Journalist:innen vor Ort. Einige Medien berichteten allerdings besser und intensiver, als wir gedacht haben, zum Beispiel gab es zu jedem Verhandlungstag ausführliche und kompetente Berichte des MDR. Aber um die öffentliche Wahrnehmung insgesamt beurteilen zu können, fehlt mir ein bisschen die Distanz. 

 

Ihr habt zumindest die Kurzberichte auf eurer Homepage ins Hebräische übersetzt. War das eine Reaktion auf ein besonderes Interesse in Israel? Habt ihr eine Einschätzung, wie der Prozess in Israel wahrgenommen wurde? 

 

Grischa Stanjek: Es gab erstaunlich wenig Aufmerksamkeit und Öffentlichkeit in der hebräisch-sprachigen Presse. Zum Beginn und Ende des Prozesses erschien je ein Bericht in einer Tageszeitung und einmal gab es ein Interview mit uns für eine israelische Zeitung. Ansonsten fand das Thema, soweit ich weiß, wenig Beachtung. Auf unserer Website wiederum wurden die hebräisch-sprachigen Berichte häufiger aufgerufen als die englischen, weil sehr viele Israelis, die in Deutschland leben, auf Hebräisch gelesen haben und auch sehr dankbar waren über diese Berichte. Aber in der breiteren israelischen Öffentlichkeit wurde der Prozess wenig wahrgenommen. 

 

Wie nehmt Ihr die linke Auseinandersetzung zum Attentat in Halle wahr? 

 

Grischa Stanjek: Ich kann vielleicht über einen kleinen Umweg etwas dazu sagen. Ich habe mir in meiner Masterarbeit die künstlerisch-aktivistische Auseinandersetzung mit rechtem Terror in den letzten 30 Jahren angeschaut und dabei natürlich auch die Reaktionen auf Halle oder auf Hanau. Mein Eindruck bezieht sich daher weniger auf eine breite Öffentlichkeit als auf eine künstlerische, aktivistische oder auch linke Öffentlichkeit – ich weiß nicht, wie man es am besten nennt, da sich nicht alle dort verorten. Jedenfalls ist mir dabei aufgefallen, dass sich zum Antisemitismus fast nur Betroffene verhalten, also meistens Jüdinnen und Juden. Im Falle von Rassismus scheint das anders zu sein, da finden breitere Auseinandersetzungen und Reaktionen statt. Dieses Phänomen lässt sich in den letzten 30 Jahren beobachten, aber auch jetzt bei Halle oder Hanau. Natürlich hat Hanau eine andere Dimension in Bezug auf das Leid, die Anzahl der Opfer und Betroffenen. Aber die künstlerischen Aktionen in Reaktion auf Halle kamen fast nur von Jüdinnen und Juden beziehungsweise Überlebenden selbst, wie zum Beispiel Talya Feldmann. Es geht mir nicht darum, beide Ereignisse – oder besser: Terrorakte – gegeneinander aufzurechnen. Aber was mir auch für einen breiteren Teil des öffentlichen Diskurses auffiel, ist, dass Halle und Hanau auf eine Art zusammengewachsen sind und dabei eben häufig nicht mehr getrennt werden. Halle und Hanau stehen für etwas, aber es wird nicht mehr so genau darüber gesprochen, wofür eigentlich. Was ist der Unterschied in den Taten beziehungsweise was ist eigentlich wo genau passiert? Die Begriffe sind zum Synonym für einen rechten Terror geworden, was diesen gleichzeitig unspezifisch werden lässt. Rechter Terror ist zwar Klammer, aber damit hat man noch nicht die Ideologie begriffen, um die es dabei geht. Es bleibt an der Oberfläche. Gleichzeitig bleibt natürlich die Hoffnung, dass die Auseinandersetzung damit einfach ein bisschen Zeit braucht. Beim NSU hat sich gezeigt, dass etwa zehn Jahre später – vor allem im künstlerischen Rahmen – viel mehr passiert ist. Die Frage aber bleibt, und da habe ich im Fall von Halle Zweifel, ob das hier auch passiert. Mir scheint es tatsächlich so, dass sich dazu weniger verhalten wird, weil es eben um Antisemitismus geht. Warum das genau so ist, da könnte ich jetzt nur spekulieren.  

 

Linus Pook: Was Grischa zu dem Synonym sagte – dass letztlich rassistische und antisemitische Taten zusammengeworfen werden und dabei wichtige Unterschiede verlorengehen –, das gilt auf jeden Fall für Halle und Hanau. Wenn man dann noch den NSU dazu nimmt, dann hat man teils wirklich nur noch Buzzwords, die durch die Öffentlichkeit wabern. Natürlich gibt es Gemeinsamkeiten dieser Taten – die Unterschiede verbieten es aber, die Namen, die für diese Taten stehen, nur noch als austauschbare Schlagwörter in der politischen Debatte zu nutzen. Das zeigt sich zum Beispiel in der Diskussion, ob denn der Angeklagte ein Einzeltäter sei oder nicht. Letztlich konnte man im Fall von Halle gar nicht wissen, ob der Angeklagte diese Tat nun konkret allein geplant und durchgeführt hat – vor allem weil die Ermittlungsarbeit der Polizei in diesem Bereich sehr schlecht war. Da die Einzeltäterthese oft eine entlastende Funktion hat, wurde im und um den Prozess zurecht darauf hingewiesen, dass die Taten etwas mit der Mehrheitsgesellschaft zu tun haben: der Täter nutze zur Legitimation seiner Taten, dass die Mehrheitsgesellschaft rassistisch, antisemitisch und frauenfeindlich sei. Deshalb dürfe man ihn jetzt nicht als Einzeltäter missverstehen. Aber wenn eine solche Auseinandersetzung mit der Diskussion um den NSU zusammengeworfen wird, »der NSU war nicht zu dritt«, und dann auch in politischen Forderungen gleichgesetzt wird, entsteht ein falsches Bild. Das hat mich doch irgendwann sehr geärgert. Denn wir haben auf der einen Seite den NSU, bei dem es einfach erwiesenermaßen ein Unterstützer:innen-Netzwerk von vielen Dutzend Menschen gibt, von denen sich viele auch juristisch wohl schuldig gemacht haben. Und auf der anderen Seite hat man einen Täter, dessen Motive und Einstellungen irgendwie aus der Mehrheitsgesellschaft kommen. Das wird dann beides subsumiert, dass es eben keine Einzeltäter gewesen seien, beziehungsweise im Falle des NSU eben nicht nur drei Täter:innen. In diesem Diskurs habe ich oft das Gefühl, dass diese schlagwortartigen, dem Anspruch nach vielleicht sogar linken, Reaktionen oder Verarbeitungen eines solchen Anschlags der Sache selbst nicht gerecht werden. Das gilt auch in Bezug auf die Prozessführung oder die Reaktionen auf die Polizei. Man kann der Richterin sicher verschiedene Sachen vorwerfen, was wir ja eben auch thematisiert haben. Aber es ist doch offensichtlich, dass das nicht einfach dasselbe ist, was man beim NSU-Prozess gesehen hat. Weder wird man der Aufarbeitung der Anschläge gerecht, noch tut man der Sache einen Gefallen damit, wenn alles nur noch auf wenige Schlagworte reduziert wird. Das führt nicht weiter. 

 

Gab es denn in Hinblick auf eine solch undifferenzierte Betrachtung ein wissenschaftliches Interesse an dem Prozess und an der Aufarbeitung? Gerade im Raum Thüringen oder Sachsen gibt es ja große wissenschaftliche Akteure, die auf die Erforschung von Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus abzielen. Ich denke da etwa an das Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ) in Jena oder auch das Leipziger Kompetenzzentrum für Rechtsextremismus- und Demokratieforschung mit ihrer Mitte-Studie. Das wirkt zumindest erst einmal so, als gebe es gute Möglichkeiten für Vernetzung und Kooperation. 

 

Linus Pook: Ich wüsste jetzt aus dem Stehgreif nicht von solchen Projekten, aber man weiß natürlich nicht, was da noch kommt. 

 

Grischa Stanjek: Also das IDZ hat sich mal auf unsere Berichterstattung und auf Protokolle berufen, aber es gibt keinen wirklichen Austausch oder direkte Zusammenarbeit. 

 

Linus Pook: Vielleicht liegt das auch mit daran, dass der Prozess zunächst mehr Antworten hat und Betroffene auch in der rechtsstaatlichen Reaktion sichtbarer werden konnten, als dies etwa nach den Taten des NSU oder dem Terror von Hanau der Fall war. Es drängen sich womöglich erstmal weniger offene Fragen auf. Ich gehe davon aus, dass Wissenschaft und Zivilgesellschaft mit etwas zeitlichem Abstand dann noch einmal andere Zugänge zu und Fragen an diese Hauptverhandlung haben werden. 

 

Vielen Dank für das Gespräch.