Für Intellektuelle galt lange Zeit, dass sie die Vernunft in einer Gesellschaft repräsentieren müssten, die noch nicht vernünftig eingerichtet ist. Auch wenn ein derartiges Selbstverständnis schon länger in Verruf geraten war, schaffte es 2016 ein Schriftsteller sowohl in der bürgerlichen als auch in der linken Öffentlichkeit zum Vorzeigeintellektuellen zu avancieren: der französische Soziologe Didier Eribon. Die deutsche Übersetzung von Rückkehr nach Reims wurde vor allem in den linksliberalen Feuilletons als treffende Gesellschaftsdiagnose gelesen und etwa in der taz als »das intellektuelle Buch der Saison« gefeiert. Doch worum ging es in dieser Rückkehr? Ein in Paris lehrender Professor kehrte zurück zu seiner Mutter und damit zur eigenen Kindheit und Jugend. In dieser Rückkehr konfrontierte er sich mit der eigenen sozialen Herkunft und wie die Abgrenzung dazu seinen Lebensweg beeinflusste. Die Welt der Eltern und seine eigene Welt schienen dabei unvereinbare Gegensätze zu bilden. Diese Entfremdung und Distanz zwischen dem linken Akademiker und den rechtswählenden Eltern aus einem Arbeiter:innenmilieu wurde insbesondere in der deutschsprachigen Diskussion genutzt, um die Wahlerfolge der AfD mit einer Schwäche der linken Bewegung und ihrer vermeintlichen Vernachlässigung der Lohnarbeit zu erklären. Als Frage nach dem Verhältnis zwischen Identitätspolitik und Klassenpolitik zieht diese Diskussion seitdem ihre Kreise.
Das Buch von Eribon wurde in diesen Debatten als Allegorie auf die Wiederentdeckung der Klasse gelesen. Diskutiert wurde daran umfangreich, ob die Linke den Klassenstandpunkt verraten habe, welche Schuld sie damit am Erstarken der Rechten trage und wie das Proletariat zeitgenössisch zu begreifen wäre. Eribon selbst zeigte sich irritiert über derartige Lesarten: »Hören Sie, ich weiß nicht, was ihr alle wollt. Ich habe ein Buch über meine Mutter geschrieben und jetzt soll ich Brexit, Trump und die Welt erklären.«»Wir müssen uns viel lauter einmischen«, in: Süddeutsche Zeitung vom 24. November 2016, https://bit.ly/3igHxh2. Statt von einem Verrat der Linken zu erzählen, betonte er die Bedeutung seines Bruchs mit dem Elternhaus für die eigene Entwicklung: »Mein Verrat war die Bedingung dafür, ein Schriftsteller zu werden, ein Wissenschaftler, ein Intellektueller, der Bücher schreibt und Vorträge hält.«Peter Rehberg, Interview mit Didier Eribon, in: Merkur 71 (2017), 17–26, hier 19. Rückkehr nach Reims könnte dann auch als ein Buch gelesen werden, das die Entstehungsgeschichte eines Intellektuellen erzählt, der notwendiger Weise die eigene soziale Herkunft hinter sich lassen muss. Anstatt mit dem Buch die gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte erklären zu wollen, scheint es eher geeignet, damit nach dem Status der Intellektuellen zu fragen. Der Beitrag begibt sich auf die Suche nach dieser Figur des Intellektuellen, für die in der gegenwärtigen Öffentlichkeit scheinbar immer noch ein Bedarf existiert, obwohl ihr Ruf recht zweifelhaft ist. Vielleicht sind die Intellektuellen diejenigen, die die Klasse der Arbeiter:innen verraten haben? Und falls ja, ist ein solcher Verrat notwendig, um Intellektuelle:r zu werden? Für solche Fragen lohnt es sich, an die modernen Anfänge dieser verschwundenen Figur zu erinnern, in denen sie zunächst als Korrektiv der bürgerlichen Politik in die Öffentlichkeit trat.
Die Entstehung eines Intellektuellen
Wenn Eribon von Intellektuellen als einem Vorbild spricht, mag es vor allem Jean-Paul Sartre sein, der ihn hierbei inspiriert. Sartre steht in einer Tradition von Intellektuellen, die sich durch die Berufung auf universalistische Werte in öffentliche Debatten einbrachten, um diese Werte der Gesellschaft als Maßstab vorzuhalten. Begründet wurde diese moderne Figur wohl von Emile Zola, der mit seinem öffentlichen Brief J’accuse in die Affäre um Alfred Dreyfus intervenierte. Im genannten Brief formuliert er »im Namen der Menschheit« eine Anklage gegen verschiedene Angehörige des französischen Militärs, um so der Wahrheit und Gerechtigkeit zu dienen. Zunächst als Diffamierung gemeint, wurde der Begriff Intellektueller bald zur offensiv genutzten Selbstbezeichnung von jenen, die ohne speziellen politischen Auftrag einer Partei als Stimme der Vernunft öffentlich auftraten. Diese Stimme der Vernunft sollte allein über die Kraft des besseren Arguments, also jenseits eines Kampfes um Machtpositionen, wirken und so helfen, die gesellschaftlichen Konflikte auf rationale Weise zu lösen. Eine solche Vorstellung motivierte wohl Eribon, denn mit seinem angestrebten Umzug nach Paris verband er zwei Hoffnungen: »ein freies schwules Leben zu führen und ein ›Intellektueller‹ zu werden«Didier Eribon, Rückkehr nach Reims, Berlin 2016, 223.. Die Abgrenzung vom sozialen Milieu der Eltern – durch die Hinwendung zur scheinbar höheren Sphäre der Vernunft – bedeutete für ihn zunächst also eine Befreiung. Erst in der Rückschau merkte er, wie sehr sein Weg durch die soziale Position seiner Eltern bestimmt war, er es also nur trotzdem schaffte. Sein Buch widmete sich diesem »trotzdem« – den Schranken, die es zu überwinden galt, den Widrigkeiten und den Transformationen, die Eribon sich selbst als Umerziehung auferlegte. Dabei spürte er »als Arbeiterkind […] die Klassenzugehörigkeit am ganzen Leib«Ebd., 91., ohne sie als solche zu begreifen. Während er sich von der konkreten Lebensrealität seiner Eltern entfernte, integrierte er aber die Rede vom Proletariat in sein Vokabular. Er vertiefte sich in das Sprechen über Klasse und damit schwand die Beziehung zu seiner eigenen. Mit der Lösung aus der Klasse seiner Eltern und dem gescheiterten Übergang in eine andere, befand sich Eribon schließlich, wie er sagt, im Exil. Er war nicht mehr in Reims zuhause, aber in Paris kam er nicht an. Täglich fuhr er mit dem Zug von einer Stadt zur anderen, so als würde er zwischen zwei Welten pendeln. Wenn sich mit Paris der Wunsch verband, ein Intellektueller zu werden, dann war jede Rückkehr nach Reims ein Rückschlag in diesem Vorhaben. Sein Dasein war ein Einstudieren der Distanz, die den jungen Studenten ganz real vom Milieu der Intellektuellen trennte.
Erst der Professor Eribon konnte schließlich zurückkehren, ohne dies als Bedrohung der selbstentworfenen Identität zu erleben. Als Professor erfuhr er die Anerkennung für die erworbene Bildung, welche ihn zunächst nur in eine Sackgasse geführt hatte. Denn nach dem Studium der Philosophie merkte Eribon, dass diese Art von Bildung ohne die entsprechenden sozialen Beziehungen nicht verwertet werden konnte. In einer akademischen Laufbahn tritt diese Situation nicht selten ein: Befristete Stellen laufen aus, Anträge auf Stipendien oder Projekte werden nicht bewilligt. Für diese Zwischenphasen gibt es keine institutionellen Förderungen, sodass darin vor allem jene bestehen, die das nötige Durchhalte-Vermögen besitzen. Eribon hatte es nicht und brach deshalb zwischenzeitlich seinen Versuch ab, sich als intellektuelle Stimme zu etablieren. Dies markiert einen Widerspruch in der Figur des Intellektuellen: Wenn ihre Position von Voraussetzungen abhängt, die nicht in der geistigen Fähigkeit allein gründen, wie kann diese Figur die Funktion der Korrektur erfüllen? Ist sie damit nicht selbst Teil des Kampfes um Machtpositionen, dem sie als Stimme der Vernunft ursprünglich enthoben werden sollte? Verweist dies nicht letztlich darauf, dass die Stimme auch einen Körper hat, den sie versorgen muss?
Aus Perspektive des Marxismus wurde dieser Verdacht derart formuliert, dass die Intellektuellen lediglich die Position des Kleinbürgertums vertreten würden. Da sie sich maßgeblich aus dieser Schicht rekrutierten, sei anzuzweifeln, ob sie in der Lage wären, sich von der eigenen sozio-ökonomischen Position zu lösen. Ein vergleichbarer Verdacht lässt sich aus feministischer Perspektive formulieren.Regina-Maria Dackweiler, Weiblich, feministisch, Intellektuelle: Paradoxie oder Tabu?, in: Gender 3 (2015), 12–30. Denn es ist auffällig, dass vor allem Männer sich berufen fühlen und entsprechend gehört werden, um die Gesellschaft an scheinbar allgemeingültige Werte zu erinnern. Die männliche Konnotation der Figur des Intellektuellen bringt die Frage auf, ob diese eigentlich nur die vorherrschenden patriarchalen Machtstrukturen reproduziert. Welcher Stellenwert kann den Intellektuellen nach diesen Verdachtsmomenten noch eingeräumt werden? Wäre es nicht naheliegend, sich von der Vorstellung zu verabschieden, dass eine spezifische Personengruppe intellektuell arbeitet? Entsprechend argumentierte der Marxist Antonio Gramsci, dass die intellektuelle Tätigkeit nicht das Alleinstellungsmerkmal der Intellektuellen sein könne, da schließlich jede Art von Arbeit einen Anteil an intellektueller Tätigkeit beinhalte. Vielmehr sind die Intellektuellen dadurch zu charakterisieren, dass sie in der Gesellschaft eine bestimmte Funktion ausüben.
Ein neuer Typus von Intellektuellen
Das Problem der traditionellen Intellektuellen ist, wie Gramsci in den Gefängnisheften ausführt, dass sie die Vorstellung ihrer Tätigkeit entlang früherer gesellschaftlicher Kategorien konzipieren. Sie würden annehmen, dass ihre intellektuelle Tätigkeit an eine Tradition des Geistes anknüpfe und sie als autonome Gruppe jenseits der gesellschaftlichen Verhältnisse stünden. Bestärkt wird diese Vorstellung von ihrer allgemeinen Distanz zur Produktionssphäre, aus der aber auch fehlendes technisches Verständnis resultiere. Die Intellektuellen zeigten sich zunehmend unfähig dazu, Orientierung in einer von technischer Produktion abhängigen Welt zu geben, sodass ihre Bedeutung schwinde und stattdessen die Nachfrage nach Wissenschaftler:innen und Expert:innen in bestimmten Bereichen steige. Die Erwartung an diese sei dadurch charakterisiert, dass sie sich auf klar umrissene Gebiete spezialisieren, was sie gerade nicht zur Reflexion auf die Gesellschaft befähige.
Ausgehend von der Kritik an den traditionellen Intellektuellen und ihrem zunehmenden Bedeutungsverlust versuchte Gramsci den Begriff des Intellektuellen anders zu fassen. Für Gramsci ist es nicht die geistige Tätigkeit an sich, die die Intellektuellen charakterisiert, sondern es ist die gesellschaftlich bedingte Möglichkeit, sich in dieser Tätigkeit spezialisieren zu können. Diese Spezialisierung sei es, die bei den traditionellen Intellektuellen zu der falschen Annahme führte, autonom zu sein. Gramsci betont hingegen, dass jede Intellektuellenschicht zunächst aus den sozio-ökonomischen Prozessen hervorgeht. Was Gramsci als organische Intellektuelle begreift sind dann jene, die aus einer gesellschaftlichen Gruppe gemäß den Erfordernissen der ökonomischen Produktion entstehen. Diese neuen Intellektuellen können dann entweder an die Tradition des Geistes anknüpfen, was zur Verkennung der eigenen spezifischen Stellung im Produktionsprozess führt, oder sie können sich dieser Stellung mitsamt den daran gerichteten Aufgaben bewusst werden. Um diese zu erfüllen, müssen die neuen Intellektuellen laut Gramsci nicht allein in der Beredsamkeit geschult werden – wie die traditionellen Intellektuellen –, sondern sie müssen auch eine technische Erziehung erhalten, die sie zur Organisation und Erziehung ihrer gesellschaftlichen Gruppe, also des Proletariats, befähigt.
Es ist insbesondere diese Funktion der Organisation einer Gruppe, die in der gegenwärtigen Rezeption und post-marxistischen Interpretation mit der Figur des organischen Intellektuellen wiederbelebt wird. Nach Gramsci braucht es jene Figur, um an einer neuen Weltauffassung zu arbeiten, die ein Bewusstsein für die eigenen Interessen entwickelt und so zu politischer Einheit führen kann. Gramsci wird dabei heute vorgeworfen, er ginge noch von einer prästabilisierten ökonomischen Sphäre aus, in der sich feste Gruppen bilden würden, denen die Intellektuellen dann verschrieben sind. Eine solche Annahme weist der Post-Marxismus zurück und geht davon aus, dass jede Gruppe sich erst in den politischen Auseinandersetzungen um ihre kollektive Identität bildet und nicht als gegeben angenommen werden kann. In diesem Verständnis erlangen die organischen Intellektuellen eine fundamentale Bedeutung, denn sie sind die »zentrale organisierende Kraft hinter einem gegen-hegemonialen Kollektivwillen«Rahel Sophia Süß, Kollektive Handlungsfähigkeit. Gramsci – Holzkamp – Laclau/Mouffe, Wien 2015, 49.. Den organischen Intellektuellen kommt daher die Aufgabe zu, eine neue Weltauffassung zu erarbeiten, die einerseits bestehende Verhältnisse in Frage stellen kann und andererseits anschlussfähig ist für ein Identifikationsangebot, das eine Gruppe handlungsfähig macht. Aus den Versatzstücken des Alltagsverstandes und der Ideologie soll ein kollektiver Wille formuliert und organisiert werden. Organisch sind die Intellektuellen dann nicht mehr deshalb, weil sie mit den Produktionsprozessen und ökonomischen Entwicklungen verbunden sind, sondern weil sie sich in einem bestimmten Milieu »wie ein Fisch im Wasser«Marcus Hawel, Freie Radikale und Organische Intellektuelle im linken Mosaik, in: Ders./Stefan Kalmring (Hrsg.), Wie lernt das linke Mosaik? Die plurale Linke in Bewegung, Hamburg 2016, 40–61, hier 53. bewegen können: sie kennen die Sprache und die Geschichte der Gruppe, die sie organisieren und mobilisieren wollen.
Allerdings verlieren die Intellektuellen damit zugleich auch an Bedeutung, denn sie gehen tendenziell in der Figur des Organizers auf, wie sie etwa Jane McAlevey oder Eric Mann konzipieren. Ihre Aufgabe besteht dann darin, ganz in der Repräsentation der kollektiven Identität aufzugehen. In dieser Betonung der organisatorischen Bedeutung der Intellektuellen geht genau ihre intellektuelle Tätigkeit verloren, auf die sie sich spezialisieren sollten, und mit ihr jener machtkritische Impuls. Deswegen wird den organischen Intellektuellen noch eine zweite Figur an die Seite gestellt: die freien Radikalen.Ebd., 58f. Die Tätigkeiten der Intellektuellen werden also in zwei unterschiedliche Typen ausdifferenziert: Während die organischen Intellektuellen sich ganz dem Dienst an der Gruppe verschreiben sollen, werden die Radikalen freigestellt, um sich stärker dem gestalterischen Denken widmen zu können. Weil also die organischen Intellektuellen selbst zu den Organisator:innen in den politischen Machtkämpfen werden, wird die Kritik der Machtpositionen wiederum ausgelagert an die freien Radikalen. Damit wiederholt sich im Grunde aber nur jene Konstellation, in welcher die modernen Intellektuellen ursprünglich auftraten: Gegen die Kämpfe um Macht wird eine diesen Kämpfen äußerliche Instanz angerufen, die mit den Mitteln der Vernunft die Kämpfe beraten soll. Die Position, die mit dem Begriff der Intellektuellen mal bezeichnet wurde, wird also weiterhin angerufen und scheint noch immer notwendig.
Entsprechend kann die Rezeption von Rückkehr nach Reims als Deutungskampf um die Stellung des Intellektuellen Eribons interpretiert werden. Im bürgerlichen Feuilleton wurde Eribon zur Erklärung der gesellschaftlichen Verwerfungen berufen, die zum Brexit oder zur Wahl von Trump führten. Damit war auch die Frage verbunden, wie die dahinter liegenden Probleme denn gelöst werden könnten. Als bürgerlicher Intellektueller sollte Eribon somit zur Verwaltung der gesellschaftlichen Widersprüche beitragen. Dagegen fragte eine linke Rezeption danach, wie treffend Eribon das Proletariat eigentlich begriffen hatte, von dem er schreibt – ob er also im Sinne eines organischen Intellektuellen mit diesem verbunden ist. Eribon wird hier als Intellektueller für die Artikulation eines kollektiven Willens in Anspruch genommen, indem er die Geschichte des Aufstiegs aus der Arbeiterklasse erzählt. Er selbst verweist dabei auf (ambivalente) Vorbilder wie Annie Ernaux oder Pierre Bourdieu. Ein solches Schreiben über die eigene Biographie als Kind aus einem proletarischen Milieu eröffnet Artikulationsmöglichkeiten und stellt daher auch in der Debatte um Klassismus einen wichtigen Bezugspunkt dar. Häufig verbindet sich damit eine Kritik des Bildungssystems. Lässt sich dies als die Formierung eines kollektiven Willens von jenen deuten, die die Hürden dieses Bildungssystems trotzdem überwunden haben, die nun auf diese Missstände aufmerksam machen wollen?
Zumindest besteht spätestens seit Eribon ein Interesse an ähnlichen Erzählungen, wie etwa die Erfolge der Bücher von Christian Baron oder Deniz Ohde zeigen. Jedoch scheint die Bezeichnung des kollektiven Willens hierfür insofern unpassend, als dass diese Geschichten gerade von der Entfremdung erzählen, die sich mit zunehmender Bildung im Verhältnis zum eigenen Elternhaus und dessen sozialem Milieu herstellt. Darin taucht stets auch das Moment der Isolation auf – oder des Exils, wie Eribon es nennt – also der Moment, in dem die Distanz zur eigenen sozialen Herkunft spürbar wird, während eine Ankunft in anderen Milieus verstellt ist, so dass die Erzähler:in auf sich allein gestellt ist. Bei Eribon manifestierte sich diese Situation geographisch. Er befand sich irgendwo dazwischen: weder Paris noch Reims. An beiden Orten ist er ein Außenseiter. Es ist ein derartiges Dazwischen und diese Position des Außenseiters, die auffällig mit Walter Benjamins Darstellungen von Intellektuellen korrespondieren. Ihm zufolge erwächst aus diesen Positionen eine gewisse Verantwortung, der sich die Intellektuellen stellen müssen, wenn sie revolutionär wirksam werden wollen.
Politisierung der Intelligenz
Für Benjamin sind die Intellektuellen maßgeblich durch eine spezifische Proletarisierung bestimmt. Diese zeige sich zuerst in Frankreich, wo entsprechend die Figur des modernen Intellektuellen ursprünglich auftrat. Benjamin gesteht den Intellektuellen zu, dass sie in der Zeit des Aufstiegs des Bürgertums durchaus eine revolutionäre Position eingenommen haben. Als Teil der Offensive des Bürgertums halfen sie dessen Werte von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit zu realisieren und somit auch zu gesellschaftlichen Verbesserungen beizutragen. Mit der voranschreitenden Kapitalisierung sei das Bürgertum jedoch selbst in die Defensive gekommen. Es sei nicht mehr die aufstrebende Klasse des 19. Jahrhunderts, sondern müsse zunehmend die erlangten Privilegien verteidigen – sowohl gegen die nun aufsteigende Konkurrenz als auch gegen die großen Monopole. Davon sind ebenso die Intellektuellen betroffen, die ihre eigene Arbeitskraft verkaufen müssen: »Der Untergang der freien Intelligenz ist, wenn nicht allein, so doch entscheidend, wirtschaftlich bedingt.«Walter Benjamin, Zum gegenwärtigen gesellschaftlichen Standort des französischen Schriftstellers, Gesammelte Schriften (GS) 2/2, 776–803, hier 783. Diese Notwendigkeit des Verkaufs der eigenen Arbeitskraft verbinde die Intellektuellen mit dem Proletariat. Aber diese Proletarisierung sei insofern besonders, als dass die Intellektuellen die eigene Bildung anstatt der Körperkraft verkaufen. Mit dieser Bildung besäßen die Intellektuellen ein Privileg, das sie von der »Frontexistenz des wahren Proletariats«Walter Benjamin, Ein Außenseiter macht sich bemerkbar, GS 3, 219–225, hier 225. befreit und das sie potentiell zum individuellen Vorteil einsetzen können, indem sie sich in den Dienst des Bürgertums stellen. Gleichwohl gefährlicher als dieser bewusste Dienst am Bürgertum sei aber jene intellektuelle Position, die die Situation als geistige Produzent:in nicht erfasst. Dann nämlich wird die ambivalente Position aus Proletarisierung einerseits und fortbestehender Verbindung zum Bürgertum andererseits als Indiz dafür genommen, nicht zwischen den Klassen, sondern »über den Klassen zu stehen«Benjamin, Standort des französischen Schriftstellers, 789..
Entsprechend gilt es für Benjamin diese Ambivalenz der Intellektuellen zu thematisieren, indem er die produzierten geistigen Güter darauf befragt, welche gesellschaftliche Stellung die Intellektuellen sich darin zuschreiben. Diese Reflexion könne dann zur politischen Praxis werden, wenn sie sich an die »spezialisierte Öffentlichkeit der literarischen Intelligenz«Bernd Witte, Walter Benjamin – Der Intellektuelle als Kritiker. Untersuchungen zu seinem Frühwerk, Stuttgart 1976, 163. richtet und so jene anspricht, die vom Problem der Stellung der Intellektuellen selbst betroffen seien. Darin liege kein Elitismus, so als würde Benjamin nur jenen ein Verständnis der verhandelten Probleme zugestehen. Vielmehr betrachtet Benjamin es als politische Funktion seines Schreibens, zur Bewusstseinsbildung und Organisation der Intellektuellen beizutragen. Dafür rezensiert er etwa in den 1920er und 1930er Jahren zahlreiche Bücher, in denen er das sich darin ausdrückende Bewusstsein herausarbeitet und es in Verbindung zur sozialen und politischen Situation stellt, in der es rezipiert wird. Das heißt, Benjamin plädiert gerade nicht dafür, sich unmittelbar mit dem Proletariat zu organisieren, sondern er betont die Sonderstellung der Intellektuellen zwischen Proletariat und Bürgertum, von welcher aus sie zur Befreiung beitragen können. Die Intellektuellen dürften sich folglich nicht umstandslos der proletarischen Bewegung anpassen oder gar der Parteidisziplin unterwerfen. Ihre Aufgabe bestehe darin, die politische Auseinandersetzung in der Sphäre des Geistes zu führen. Dies würden sie leisten, indem sie herausarbeiten, zu welchen politischen Schlussfolgerungen und Konsequenzen bestimmte intellektuelle Positionen führen.
Aus dieser Perspektive widerspricht Benjamin vehement einer direkten und unmittelbaren Gleichsetzung mit dem Proletariat, wie auch einer Beratung oder gar Führung durch die Intellektuellen. Letzteres verkenne die Eigenlogik der Politik. Der Umkehrschluss liegt für Benjamin aber nicht darin, sich vom politischen Betrieb fernzuhalten und durch die Distanz der Annahme zu verfallen, über ihm zu stehen. Statt der Vorstellung, die Intellektuellen sollten im politischen Betrieb selbst wirksam werden und sich den darin herrschenden Dynamiken unterwerfen, plädiert Benjamin dafür, die erlernte Spezialisierung ernst zu nehmen und darin die Frage des eigenen gesellschaftlichen Standorts aufzuwerfen. Dies erfordere es, auf der Position des Außenseiters zu beharren und von dort aus an der »Politisierung der Intelligenz«Benjamin, Ein Außenseiter macht sich bemerkbar, 225. zu arbeiten, das heißt zu ihrer Bewusstseinsbildung beizutragen. Nur mit diesem Bewusstsein könnten die Intellektuellen die ihnen zur Verfügung stehenden Produktionsmittel auf deren revolutionäre Tendenz hin befragen.
Es ist gerade dieses Bewusstsein, das in der Debatte um Eribon fehlt. So selbstbewusst Eribon sein Dasein als Intellektueller als Ziel ausgibt und genau dafür angerufen wurde, so diffus bleibt diese Position. Es wäre also zu diskutieren, ob sich der kritische Gehalt der Figur aktualisieren lässt. Aus den vorgelegten Überlegungen folgt zumindest ebenso wenig ein Plädoyer für die Intellektuellen, wie ein Abgesang auf sie. Die Perspektive von Intellektuellen stößt weiterhin auf eine (schlecht bezahlte) Nachfrage, ihre Position bleibt in der bürgerlichen Öffentlichkeit bestehen und hat sich in den letzten Jahrzehnten doch grundlegend gewandelt. Es bräuchte zuerst eine Wiederaneignung, einen selbstbewussteren Umgang mit der Position. Letztlich handelt es sich um die Frage, wie Theorie hergestellt wird. Mit der Figur der Intellektuellen kann diese in ihrer Doppeldeutigkeit bearbeitet werden: als Frage, wie sich die Intellektuellen reproduzieren und als Frage, wie sie Theorie (re-)produzieren. Während ersteres auf die sozialen, kulturellen und ökonomischen Existenzbedingungen abzielt, fokussiert die zweite Dimension auf die Frage der schriftstellerischen, sprachlichen und theoretischen Mittel der Wirkung. Die kritische Praxis des Intellektuellen liegt dann darin, das Verhältnis dieser beiden Aspekte zu untersuchen, um so Einsicht in die sozialen und theoretischen Produktionsbedingungen zu erhalten, mit denen die Intellektuellen gesellschaftliche Veränderungen erwirken können. Mit Benjamin kann dies wie folgt verstanden werden: Anschließend an die Vorstellung der bürgerlichen Intellektuellen braucht es eine Perspektive, die nicht unmittelbar im Auftrag einer politischen Partei, Gruppe oder Bewegung schreibt und somit eine gewisse Distanz zum politischen Betrieb aufweist. Doch anstatt sich deshalb als eine Stimme zu verstehen, die den gesellschaftlichen und politischen Konflikten enthoben ist, gilt es insbesondere jene geistigen Produkte der Kritik zu unterziehen, die solche Unabhängigkeit von sich behaupten. Die in ihnen formulierten Denkweisen sind dann als Ausdruck eines gesellschaftlichen Standorts darzustellen. Indem so über den Zusammenhang von Bewusstsein und Gesellschaft aufgeklärt wird, kann stets die Frage mitverhandelt werden, wie die Autor:innen selbst ihr Wirken verstehen. Anstatt sich also in klugen Ratschlägen für diese oder jene Bewegung zu ergehen, könnten diese schreibenden Intellektuellen damit zunächst ihr eigenes Wirken einer kritischen Revision unterziehen, um so eventuell zu einer entscheidenden Kraft zu werden.
Markus Hennig
Der Autor lebt in Leipzig und arbeitet dort u. a. an einer Promotion zum Zusammenhang von Erfahrung und kollektiver Handlungsfähigkeit. Zwischendrin fragt er sich gelegentlich, wozu das gut ist.