Seit Beginn der Pandemie kommt aus etlichen Ecken die Mahnung, dass man nicht nur die gesundheitlichen, sondern auch die sozialen und politischen Langzeitwirkungen der Pandemie nicht aus den Augen verlieren dürfe. Dieser Text beleuchtet den blinden Fleck auf der Liste der Langzeit- und Nebenwirkungen – die ideologischen.
Die Verkehrung des Verständnisses von Autoritarismus
»Leben wir in einer Gesundheitsdiktatur?« Eine Antwort könnte lauten: Wenn ja, müssten die knapp zwei Millionen europäischen Toten, wenn schon nicht als Opfer der Pandemie und damit staatlicher Entscheidungen, immerhin als Widerstandskämpfer ernstgenommen werden. Bei aller Freude, über diesen rechten Unsinn zu spotten, zahlt sich die Erforschung seines Ursprungs aus. Denn in abgemilderter Form ist er bis heute nicht nur in protofaschistischen Zirkeln zu finden: zum Beispiel bei der Rede davon, dass Virologen doch nicht alles bestimmen könnten, da sie von gesellschaftlichen Fragen ja nichts verstünden; bei der medial tausendfach verbreiteten Freude über die wiedergewonnene Freiheit, wenn der Handel wieder aufsperren darf; bei dem in Leitartikeln und von Parteien genährten Verdacht, diese Maskenpflicht und jene Schulschließung müssten doch einen Verfassungsbruch bedeuten. Beim Aufspüren der Ursachen solcher Vorstellungen wird man an einer Frage nicht vorbeikommen: Warum wird nicht das reale Weiterlaufen des kapitalistischen Normalvollzuges als autoritär empfunden, sondern die im Grunde nur befürchteten Versuche, zum Zweck des Gesundheitsschutzes in ihn einzugreifen? Zugegeben, es sind Anekdoten aufzutreiben, die sich in den falschen Händen in Indizien für die steile These der Gesundheitsdiktatur verwandeln lassen. Aus Griechenland ist zu hören, dass die dortige Polizei übers Meer kommenden Flüchtlingen fallweise eine Strafe von mehreren tausend Euro auferlegte, wenn sie keinen gültigen PCR-Test vorweisen konnten. In manchen österreichischen Gefängnissen war zu Beginn der Pandemie 2020 sogar der Scheibenbesuch verboten, bei dem eine Ansteckung unmöglich ist. In Göttingen wurde ein ganzes Hochhaus, in dem vorwiegend »sechsköpfige Roma-Familien« unter »prekären Verhältnissen« (FOCUS online) leben, nach einem Corona-Ausbruch mit einem Zaun komplett abgeriegelt. Weiteten sich diese Methoden, die wie üblich zuerst an den sogenannten Schwächsten getestet wurden, auf die ganze Bevölkerung aus? Es ist nicht überliefert, dass Staaten zahlungskräftige Touristen ohne gültige Testergebnisse massenhaft nach Hause schickten. Auch hörte man nichts von einer Absperrung großer Werkshallen, in denen hunderte Personen starke Belegschaften unter prekären Verhältnissen arbeiten müssen. Niemand muss sich also vor einer Hygienediktatur fürchten. Gar nicht so wenige aber vor einer Verschärfung des Rassismus und des Sozialchauvinismus im Namen der Hygiene.
Die beschriebene autoritäre Gängelung der Schwachen wird verschärft durch die antiautoritär-liberal motivierte Stützung von herrschenden Verhältnissen, unter denen eben sie sich todsicher häufiger mit Corona infizieren als andere. Wie viele Coronaausbrüche hätten verhindert werden können, wenn Flüchtlinge nicht in engen Lagern und Heimen, sondern in den leerstehenden Hotels versorgt worden wären? Und wie viele Ausbrüche hätten verhindert werden können, wenn in den Gefängnissen nicht das Konzept der Gemeinschaftsquarantäne entdeckt worden wäre – ein polemischer Name für eine Praxis, die die österreichische Gefangenengewerkschaft beschreibt –, oder sich zumindest die Gefängnisausbrüche gehäuft hätten? Wie vielen Infektionen hätten vorgebeugt werden können, wenn die betroffenen Familien aus dem Göttinger Hochhaus in Quarantänehotels gratis versorgt worden wären, anstatt eine Durchseuchung des ganzen Hauses zu riskieren? Gängelung und Laissez-faire-Praxis unterlaufen sich nicht gegenseitig, sondern ergänzen einander: Mit irrational strengen Regeln gegenüber ausgewählten Gruppen wird eine staatliche harte Hand bewiesen, die als eine schützende aber nur der Normalbevölkerung gilt – und ihr dabei hilft, die Faustschläge der anderen Hand bereitwilliger einzustecken; und mit der durch die benannten Verhältnisse erzeugten höheren Inzidenz unter »Gastarbeitern«, Obdachlosen, Flüchtlingen und anderen Armen wird der Boden für die Hetze gegen die willkommenen Sündenböcke bereitet.
Eine ideologische Langzeitwirkung liegt also in der Verkehrung des Urteils darüber, was autoritär ist: Die weltweiten Entscheidungen zu Schutzmaßnahmen werden von Befürwortern oft als starke Geste und großer Eingriff der Regierenden propagiert – aber auch von Gegnern ähnlich missverstanden –, obwohl sie einer pandemischen Notwendigkeit folgen. So kommt vielen gerade die tödliche kapitalistische Normalität, in die angeblich eingegriffen wird, geradezu natürlich vor. Diese einfache Verwechslung führt zu einer Kuriosität: Der Charakter des normalen kapitalistischen Funktionierens liegt zwar offen wie sonst nicht; zu einem Zeitpunkt, da der Terror des profit over people fast nicht mehr unbemerkt bleiben kann – hie und da wurde offen zugegeben, dass zur Gesundung des Wirtschaftswachstums Maßnahmen zurückgenommen werden mussten –, ist das irrationale Wirtschaftssystem aber unangreifbar wie zuvor. Um einen Einwand vorwegzunehmen: Einzelne haben in Folge der Pandemie sicher ein gravierendes Umdenken vollbracht, schwören zum Beispiel der Schnelllebigkeit ab und sprechen nun öfters gar nicht unabsichtlich von Solidarität. Doch diese Änderungen im Kleinen widersprechen dabei nicht einer wachsenden praktischen Solidarität mit der Autorität des Wirtschaftssystems. Warum sonst gilt es landauf und landab nicht als unvernünftig, das Sterbenlassen als Preis dafür zu akzeptieren, dank der Rückkehr zur Normalität wieder ungehindert mit der Zerstörung des Planeten fortschreiten zu können?
Die Industriellenverbände haben das Rennen um die Deutungshoheit in diesen Fragen, das ohne nennenswerte Gegner stattfand, für sich entschieden: Ein Zuviel an Gesundheitsschutz würde der Wirtschaft schaden, in Folge den Menschen und ihrer Gesundheit. Warum werden solche Ideen nicht als abwegig gebrandmarkt? Weil sie in einer Gesellschaft auf kapitalistischen Abwegen nur die Realität widerspiegeln. Die Lohnarbeiterin, die sich partout weigert, weiter im Seuchenherd Fabrikhalle zu erscheinen, und der Angestellte, der nicht mehr im Büro auftaucht, werden mit Kündigung und Entzug der Krankenversicherung belohnt. Wie sollen sie sich auch nur vorstellen können, dass ihnen konsequenter Gesundheitsschutz mehr nutzt als schadet? Marxistische Theoretiker:innen müssten den Spielraum für diese Vorstellung eigentlich haben. Doch Namhafte unter ihnen legten eines drauf und erkannten bei der Initiative ZeroCovid autoritäre Fantasien. Wenn aber die Versuche, viele Menschen auf Kosten des Profits weniger zu retten, wirklich autoritär sind, dann ist das massenweise Sterbenlassen der Inbegriff der Demokratie.
Verunmöglichung von Opposition
Eine Folge dieser Verkehrung ist der Fortschritt nicht vernachlässigbarer Teile der Linken zu einer vehementen Opposition – auf Regierungslinie. Tendenziell forderten sie mutig, was konservative und sozialdemokratische Regierungen in ganz Europa längst umgesetzt hatten. Nur zum Zwecke des Gesundheitsschutzes dürfe man die in der Demokratie erreichten Freiheiten nicht untergraben – dass darunter auch die Freiheit zur Ausbeutung, Obdachlosigkeit, Diskriminierung fallen, gehört nicht mehr zum Kanon der linken Gewissheiten. Doch der Gesundheitsschutz war nie der erste Zweck dieser bescheidenen Eingriffe gewesen, sondern der Anschein des Gesundheitsschutzes. Das selbstzweckhafte kapitalistische Funktionieren sollte weder durch übermäßiges Sterben der Arbeitskräfte noch durch strenge Reglements behindert werden. Das wurde durch die strikten Vorgaben fürs Privatleben erreicht. Die Maxime lautete: Das Privatleben muss einer Pandemie entsprechend gestaltet werden. Am sicheren Arbeitsplatz soll aber den Fähigkeiten der Statistiker vertraut werden, die Infektionen im Bus zur Arbeit, am Band, im Büro, in der Halle und im Gemeinschaftsraum als private auszuweisen. Dieser Widerspruch wurde von vielen erkannt, aber zu wohlwollend den Herrschenden gegenüber interpretiert. In direkter Konsequenz fokussierten manche Fraktionen der Linken – und mit ihnen die Industriellenvereinigung, liberale Leitartikler:innen, Ärztevereinigungen, Rechtsextreme, Gewerkschaften, Künstler:innen, Ethikräte, kirchliche Gruppen – ihre Kritik auf die strengen Maßnahmen im Privat- und Kulturleben, und nicht auf die fehlenden an den Arbeitsstätten. Und so waren sich gegensätzliche Gruppierungen nicht nur in ihrer Kritik an der Regierung einig, sondern über Umwege auch mit der Zielscheibe ihrer Kritik. Die viel zu frühen Lockerungen für die privaten Bereiche erschienen als Zugeständnis der Regierungen angesichts des Drucks aus allen Ecken, doch waren sie zugleich eine Absicherung gegen drohende weniger willkommene Interpretationen des erwähnten Widerspruchs. Kurz und böse formuliert: Wessen Kumpel infolge einer Infektion bei der Skatrunde verstirbt, wird wegen der Hospitalisierung des Arbeitskollegen, der sich im Betrieb angesteckt hat, keinen großen Aufstand machen. Autor:innen der Nachdenkseiten, der Bahamas, sogar der konkret sowie Teile der Gewerkschaften und der deutschen Linkspartei mit Vorreiterin Sahra Wagenknecht können sich an die schwarzen Fahnen heften, die interessante Feststellung »Das Leben ist nun einmal tödlich« in ihren Artikeln und Statements tausendfach variiert zu haben. Zu keinem Zeitpunkt stand das in wirklicher Opposition zu dem, was ohnehin gedacht und beschlossen wurde. Man darf also nicht unfair sein. Diese Linken stellten nicht die Speerspitze einer antihumanen Avantgarde. Sie genossen es schlicht, mit einer überwältigenden, dem Tod und der Gefahr kühl entgegentretenden Mehrheit gemeinsam nonkonformistisch zu sein.
Woher kommt diese von Furchtlosigkeit überwältigte Mehrheit? Wie kommt es zum Impuls, etwas als Freiheit erkämpfen zu wollen, was einem als Unfreiheit längst zugedacht ist? Woher rührt die Identifikation mit dem Angreifer, dieses »schwedisches Modell« genannte gesellschaftliche Stockholm-Syndrom? Theodor W. Adorno legt eine Spur in der Negativen Dialektik: »Daß Freiheit weithin Ideologie blieb; daß die Menschen ohnmächtig sind vorm System und nicht vermögen, aus ihrer Vernunft ihr Leben und das des Ganzen zu bestimmen; ja daß sie nicht einmal mehr den Gedanken daran denken können, ohne zusätzlich zu leiden, bannt ihre Auflehnung in die verkehrte Gestalt: lieber wollen sie hämisch das Schlechtere denn den Schein eines Besseren.«Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, in: Ders., Gesammelte Schriften 6, Frankfurt a.M. 2003, 93. Angesichts der Heftigkeit, mit der Vertreter:innen von ZeroCovid oder NoCovid abgelehnt wurden, angesichts der Schadenfreude über steigende Inzidenzen z.B. in Neuseeland, zeigt sich die Abwehr der Einsicht, dass die Pandemie in diesem Ausmaß hätte verhindert werden können.
Ohne einen speziellen chronologischen Ablauf beweisen zu können, sollen folgende ergänzende Zusammenhänge erwähnt werden: Von Beginn an wurde in Medien aller Richtungen gefragt, ob die Regierungen mit den Lockdowns als Mittel des Gesundheitsschutzes nicht übers Ziel hinausschießen würden. Expert:innen der Pädagogik, der Psychologie, der Kulturwissenschaften und der Soziologie traten auf und erklärten schlüssig, dass die materiellen und ideellen Folgekosten in just ihrem Spezialbereich vergessen würden, dass die Fokussierung auf ein eindimensionales Verständnis von Gesundheit gefährlich sei. All diese Einwürfe waren richtig. Doch sie mutierten dank eines herrschenden ideologischen Soges, der alle Kritik an den Maßnahmen in den Abgrund der Verharmlosung mitriss, schnell zu Argumenten für eine falsche Einsicht: Die Verantwortlichen würden ihr Ziel der Eindämmung zu ernst nehmen, zu dessen Erreichen auch auf undemokratische Methoden setzen und Kollateralschäden übersehen. Insinuiert wurde, dass der Staat zwar viele Menschen vor Infektion und Tod gerettet, doch dafür den nicht weniger bedrohlichen Verlust der Lebensqualität aller ohnehin Gesunden ignoriert habe.
In dieser Behauptung war schon früh die Keimzelle einer impliziten, aber fatalen Diskussion darüber angelegt, ob man der möglichen Rettung von 90-Jährigen nicht die – aufgrund der Schulschließungen und Kontaktsperren – bald ausgelasteten Kinderpsychiatrien gegenüberstellen müsse. In der Debatte wurde getrennt, was nicht zu trennen ist. Die Politik des abwechselnden Schließens und Öffnens, die Taktik der kontrollierten Durchseuchung, führte zu den benannten Kollateralschäden, ohne dass diesen der intendierte Hauptnutzen je wirklich vorausgegangen wäre: 140.000 Coronaopfer in Österreich und Deutschland sprechen nichts mehr außer einer klaren Sprache. Beide, der an COVID-19 verstorbene Urgroßvater wie auch die an Depression erkrankte Urenkelin, sind Opfer einer Pandemiepolitik, die nicht bloß irrtümlich verfehlt war. Sie war höchst konsequent insofern, als sie alles dem Ziel unterordnete, die Masse der Lohnabhängigen en gros so weit fit zu halten, dass die nationale Wirtschaftsleistung nicht gefährdet würde. Was für Uropa und Urenkelin eine Loose-Loose-Situation ist, wird für den Staat – und hier lässt sich die Polemik der Analyse nur vom Zynismus der Realität beflügeln – zur Gelegenheit. Der Tod des Urgroßvaters darf schon als Beweis dafür gelten, dass man die Bedürfnisse der jungen und jüngsten Generation doch gar nicht übersehen habe; und die psychische Erkrankung der Urenkelin infolge der Einsamkeit legt nahe, dass man für die erhoffte Rettung des Uropas alles unternommen, ja sogar Schwierigkeiten für seine Nachkommen in Kauf genommen habe.
Einer der wichtigsten Punkte dürfte also sein: Die allermeisten Menschen kauften dem Staat ab, dass er in dieser Ausnahmesituation plötzlich nicht mehr aus den Motiven handele, den Schutz des Eigentums und die Organisation der Ausbeutung zu garantieren, sondern aus übertriebener Sorge um die Wählerinnen und Wähler. So stand, was die Lockdowns wirklich antidemokratisch und bedrohlich machte, gar nicht mehr zur Diskussion: das Ungleichgewicht zwischen den Regeln für den Privat- und jenen für den Berufsbereich, die konkrete soziale Ausgestaltung – 80 Prozent des Lohns für Kurzarbeitende, Dividenden für die Aktionäre, Peanuts für Freischaffende –, Mobilisierung rassistischer und sozialchauvinistischer Ressentiments gegen »Lockdownbrecher«, die fehlende Wirksamkeit inkonsequenter Lockdowns, letztlich: die bestehende Gesundheitsgefährdung. Da man darüber nur in den hintersten Winkeln linker Szenezeitschriften lesen konnte, vage Ahnungen eines antidemokratischen Umgangs aber gesamtgesellschaftlich bestehen blieben, musste es so kommen: Der Gesundheitsschutz selbst, ohnehin mehr Behauptung als Realität, wurde mit antidemokratischen Tendenzen identifiziert. Eine Frage der Zeit, dass nicht nur die Art der Umsetzung, sondern bald die Legitimität des strengen Gesundheitsschutzes überhaupt angezweifelt wurde. Kritik an der Regierung war somit nur mehr kanalisiert als Widerstand gegen die Anti-Corona-Maßnahmen möglich. Doch diese Kritik entpuppte sich als vorauseilender Gehorsam. Gehorsam gegen eine Regierung, die wohlwollend beobachten konnte, dass eine wachsende Zahl von Menschen Bereitschaft signalisierte, wahlweise im Namen einer liberalen Kritik oder des Sozialismus für Kapital, Volk und Vaterland an der Krankheit zu sterben. Ein ideologischer Selbstläufer, der einer Realität entspricht, in der vieles als Opposition auftritt, empirisch aber kein Platz für sie ist.
Wie Thomas Ebermann herausgearbeitet hat, hat der Widerstand gegen Maskentragen und Lockdowns auch mit internalisiertem Arbeitsethos und notwendiger Selbstverhärtung zu tun. Eine Rebellion gegen sich selbst. Von erfolgshungrigen Linken wurde sie als eine willkommene Rebellion gegen die Willkür konservativer Regierungen aufgefasst. Teile der Linken versuchten den Anschluss an die vermeintliche Opposition nicht zu verpassen, forderten eine eigene Maßnamen-Kritik, entdeckten die evidenzbasierte Medizin in einer Zeit, da es noch keine Evidenzen gab Ich meine zum Beispiel die Idee, eine Maskenpflicht erst dann einzuführen, wenn der Wirkungsgrad der Masken wissenschaftlich einwandfrei eruiert ist. Die Initiative für evidenzbasierte Corona-Information (Österreich) forderte im Herbst 2020 überhaupt das Ende aller Maßnahmen. kritisierten die Angst vor Corona als Unterwerfung unter den Staat, und verlangten, die Hygienedemonstrationen und damit die Werbung für den Tod nicht den Rechten zu überlassen. Derweil verbietet eine Amazon-Niederlassung in Norddeutschland ihren Mitarbeiter:innen das Tragen von FFP2-Masken, weil es die Arbeitsleistung in auftragsstarken Zeiten verringere. Weit und breit keine linke Massenbewegung, die den mörderischen Kern einer so standhaften praktischen Kritik an den Auswüchsen staatlicher Maßnahmen benennt.
Was hier mühsam und wackelig theoretisch hergeleitet wird, lässt sich mit einem Blick auf die Wirklichkeit feststellen. Der Lichtblick ZeroCovid teilte sich mit seinen brillanten Kritikern Thomas Ebermann Thomas Ebermann, Die Konstruktiven, in: konkret 3/21. und Suitbert Cechura Suitbert Cechura, Wo Initiatoren und Kritiker von #ZeroCovid richtig liegen – und wo nicht, https://bit.ly/3wsKAeq. einen Platz am Rande schon innerhalb der progressiven Kräfte. Von einem Einfluss auf die Gesellschaft leider keine Spur. Dabei hatte ZeroCovid verlockende Überzeugungen im Angebot: Staaten mit einem höheren Gesundheitsschutz und einer besseren Pandemiebekämpfung kämen auch wirtschaftlich glimpflicher davon. Ebermann verspottet diese Versuche von Linken, in die Rolle des besseren ideellen Gesamtkapitalisten zu schlüpfen.
Was aber, wenn die Berechnungen stimmen, wie es Beispiele wie Neuseeland wirklich nahelegen? Sollten alle Bemühungen umsonst gewesen sein, das Sterbenlassen en masse als das Um und Auf für einen stabilen Fortbestand von Wirtschaft und Gesellschaft zu zeichnen? Nein. Der Plan einer etappenweisen Durchseuchung mag Opfer vieler Art gefordert haben. Doch die Zermürbung der Menschen durch die permanente Bedrohung, durch die widersprüchlichen Maßnahmen und die erzwungene Selbst- und Fremdaufopferung ist ohne Vergleich. Sie schränkt die Perspektiven ein, wirft die Menschen noch mehr auf das zurück, was ist.
Vermenschlichung als Verrohung
An der aktuellen Verrohung der Sprache ist die künftige der Gesellschaft abzulesen. Dieser Befund stimmt auch während der Pandemie, und ihm widerspricht nicht, dass während der letzten zwei Jahre eher eine oberflächliche »Vermenschlichung« der Sprache zu beobachten war. Denn sie ist nur eine Spielart einer effektiven Verrohung. Selten wurde öffentlich so empathisch geschrieben und gesprochen, wurden so vehement die »eigentlichen menschlichen Bedürfnisse« gegen politische Entscheidungen verteidigt. Es sei doch gegen die Natur, den Alten ihre Urenkel wegzunehmen! Kritiker, die zuvor nicht als Antikapitalisten bekannt waren, erkannten im Neoliberalismus den wirklichen Urheber des Übels, sich nicht mehr umarmen zu dürfen – denn dieser wolle ja die Vereinzelung und Vereinsamung! Und in Medien, die zuvor gegen Arbeitslose gehetzt hatten, erschienen die einfühlsamsten Storys über auf Kurzzeitarbeit gesetzte Alleinerzieherinnen. Sehnsüchte nach dem Ursprünglichen, der natürliche Drang zum lauten Singen im engen Raum oder zur morgendlichen Fahrt zur Arbeit in der überfüllten U-Bahn wurden gegen die Eindämmung der Infektionen mobilisiert. So erschienen die Lockdowns als menschenfeindliche, technokratisch-kalte Ungetüme. Und die Menschlichkeit als Opfer des Gesundheitsschutzes. Als im schlimmen Herbst 2020 erstmals Corona-Todesopfer mit dieser Art des einfühlsamen Redens bedacht wurden, konnte man schon nicht mehr auseinanderhalten, ob nun der finanzielle Verlust des Hotels wegen der zu frühen Schließung oder der tote Hotelgast wegen der zu späten Schließung betrauert wurde. Denn bevor endlich erkannt wurde, »dass hinter jedem Coronatoten ein Einzelschicksal steht«, waren tausende wirtschaftliche Einzelschicksale instrumentell gegen die Rettung von Menschenleben vorgebracht worden. Vor diesem ideologischen Hintergrund muss die vorbildliche Praxis einiger sozialistisch regierter Staaten wie Kuba, Infizierte sofort von der Familie in eigenen Gebäuden und Zimmern, gut umsorgt, zu isolieren, anti-familiär und gemeinschaftsfeindlich erscheinen. Ein zwar nicht sehr herzlicher, aber doch um einiges weniger tödlicher Umgang miteinander.
Sozialdarwinismus mit menschlichem Antlitz
Ein weiteres ideologisches Kollateralprodukt dieser knapp zwei Jahre ist die erneuerte Salonfähigkeit des Sozialdarwinismus. Respektive die Feststellung, dass den schnellen Tod während der Pandemie nicht fürchten solle, wer ohnehin nicht mehr salonfähig ist. Ein erhellendes Beispiel lieferte der Grazer Public-Health-Experte Martin Sprenger schon 2020 während einer Radiosendung, nachdem eine ältere Anruferin sich besorgt über die Fahrlässigkeit der Jugendlichen geäußert hatte. Nur konsequent, dass aus Sprenger, als Public-Health-Experte für die Volksgesundheit zuständig, die gesunde Volksmeinung antwortete: »Wenn draußen Glatteis ist, ist sie auch da eine Risikoperson.« »Radiodoktor – das Ö1 Gesundheitsmagazin« vom 24.09.2020, https://bit.ly/3qrhwQE. Ob die Verachtung der Älteren und Kränkeren nun offen zutage trat wie hier, vor allem zu Beginn der Pandemie – »es sterben doch nur die Alten« –, oder später camoufliert als besondere Sorge – »wir müssen die Alten schützen!«: immer ging es um den mal mehr mal weniger brutalen sozialen Ausschluss derer, die im Prozess der Profitvermehrung wenig beizutragen haben. Denn auch die besondere Sorge hätte in praktischer Anwendung nur bedeutet, die Alten so lange einzusperren, bis die gesunden Jungen da draußen die Angelegenheit unter sich geregelt hätten. Eine Art Geheimwissen scheint aber nach wie vor zu sein, dass auch unter diesen Jungen und den Jüngsten sich Unzählige befinden, die eine Infektion hart treffen würde.
Die behauptete Harmlosigkeit von Omikron motivierte Anfang 2022 fast alle europäischen Regierungen dazu, die wesentlichen Anti-Corona-Maßnahmen fallen zu lassen. Diese Freedom Days bedeuten für Angehörige der Risikogruppen die spezielle Freiheit, sich in die absolute Isolation zurückzuziehen. Menschen, die sich nicht schützen können, weil die Impfung bei ihnen nicht oder schlecht wirkt, weil sie eine ausgeprägte Nadelphobie haben oder weil für sie die Impfung noch nicht freigegeben wurde, kommen in der öffentlichen Debatte kaum vor. Sie alle sind nicht nur körperlich gefährdet, sondern auch psychisch. Für sozial Isolierte ist der einzig mögliche Kontakt zur Außenwelt oft genug durch Gaslighting bestimmt: Das »Stell dich nicht so an, es ist nicht so schlimm« sprang einem schon während der letzten zwei Jahre aus jedem dritten Leitartikel entgegen. Jetzt, da die Durchseuchung beschlossene Sache ist, wird es wieder expliziter. Ganz selten erscheinen Artikel, in denen das Leid der sogenannten Schattenfamilien besprochen wird. Siehe dazu https://bit.ly/3JmNLIs. Die dazugehörigen Online-Kommentarspalten sind voll von Postings der vielen erzürnten Harten und Starken, die ihren Sieg auf allen Linien als Niederlage begreifen, weil sich die Geschlagenen überhaupt noch zu Wort melden dürfen.
Eine weitere Debatte, in die Begriffe wie Freiheit und Autonomie verdächtig oft eingemengt werden, ist die zur Sterbehilfe. Die Pandemie, so kann es einem vorkommen, wurde als eine gute Gelegenheit wahrgenommen, etwas eisigen Wind in diese verfahrene Diskussion zu bringen. Ihr wurde durch neue Gesetze zum assistierten Suizid (Österreich) oder durch Gerichtsentscheidungen (Deutschland) nun etwas die Dynamik genommen. Ein kleiner Exkurs als Epilog: Warum machten in Österreich in letzter Zeit vor allem viele Linke, Sozialdemokrat:innen und Grüne gemeinsam mit den progressiven Verfassungsgerichtshöfen für die Institutionalisierung des assistierten Suizids Stimmung? Das »humane Lebensende«, der »würdevolle selbstbestimmte Tod« triumphiert in der Vorstellung über die inhumane Welt und das würdelose Dasein der Menschen. Ein fragwürdiger Triumph, durch den die Welt, wie sie ist, verewigt wird. Wenn der würdevolle Tod zum Ziel wird, ist alles davor nur Vorbereitung und ihre Gestalt einerlei.
Warum diese Verkehrung des Würde-Begriffs notwendig ist, deckt der Wiener Autor Erwin Riess auf: »Man weiß in der Gesundheitsökonomie […], dass 50% der Gesundheitskosten in einem Menschenleben im letzten Jahr anfallen. Das heißt, wenn man dieses letzte Jahr um 3 Monate verkürzt – und zwar systematisch, für alle, die schwer betroffen sind – dann spart man sehr viel Geld. Ich glaube in dem Sinn, dass die Gefahr für uns behinderte Leute, für unser Leben und Fortkommen gar nicht so sehr von irgendwelchen rechtsradikalen oder faschistischen Gruppierungen kommt – die gibt’s auch, die vergiften das Klima und machen Schwierigkeiten –, sondern aus der Mitte der Gesellschaft, aus der Gesundheitsökonomie und aus der Ökonomisierung andersartiger Lebenszustände.« »Die Ferse des Achilles. Die Rolle behinderter Menschen für die Gesellschaft«, Diskussion des Arbeitskreises Wissenschaft und Verantwortlichkeit, https://bit.ly/3tmsoBh. Ob sie es so wollten oder nicht, kommt hier den genannten Progressiven eine bestimmte Aufgabe zu: Die Sterbehilfe, deren gesetzliche Verankerung nicht die Aktien fallen lässt und keine Protestnote der Industriellenvereinigung provoziert, als etwas erscheinen zu lassen, das man den Herrschenden abringen muss. Man nimmt uns das selbstbestimmte Leben, also lasst uns den selbstbestimmten Tod erstreiten. Und: Auch der Hartz-IV-Empfänger soll sich einen würdevollen vorgezogenen Tod leisten können!
Der Sozialdarwinismus mit menschlichem Antlitz bereitet eine:n darauf vor, der grausigen Tatsache einer stillen und weniger stillen Triage nicht ins Gesicht zu schauen: In Österreich wurden nur 31 Prozent der Corona-Toten jemals intensivmedizinisch behandelt; wo die Erkrankten jeweils tatsächlich verstarben, führt die Statistik nicht an. Einige verstarben wohl so überraschend, dass sie nicht rechtzeitig auf eine Intensivstation verlegt werden konnten. Bei anderen gab es keinen medizinischen Grund, sie dort zu behandeln. Ein genauerer Blick auf die Statistik ergänzt die Erklärung der beeindruckenden Tatsache, dass die Intensivstationen, selbst in Zeiten der höchsten Inzidenzen, die Schwelle der Überlastung nie überschritten: In der grauenerregenden zweiten Welle im Herbst 2020 (»es wird keinen zweiten Lockdown geben«) wurden nur 23 Prozent der Coronatoten im Verlauf ihrer Krankheit jemals intensivmedizinisch behandelt. Siehe für Österreich https://bit.ly/3qJ23vD. Alleine der prozentuale Unterschied zu den anderen Wellen, die etwas weniger bedrohlich ausfielen, belegt, dass »viele Menschen des Versuchs der Rettung nicht wert befunden wurden« (Thomas Ebermann) – respektive die fehlende Überlastung der Intensivstationen mit einer Überlastung der Bestattungsfirmen einhergehen musste.
Paul Schuberth
Der Autor schreibt Beiträge zu kulturpolitischen und gesellschaftlichen Fragen unter anderem für Versorgerin, Volksstimme, konkret und lebt als Musiker in Linz an der Donau.