Von Rosa Luxemburg ist mir ein Satz über den Kapitalismus im Gedächtnis geblieben. Ich habe ihn zwar nie wiedergefunden, aber umso nachhaltiger hat er sich mir eingeprägt. Einerseits als kompromisslose Ausformulierung eines Verhängnisses, andererseits als eine Warnung, den Kapitalismus nicht zu überschätzen – verdinglichen wäre hier das richtigere Wort. Ich übersetzte mir das so: Auch der Kapitalismus war nur ein möglicher Ausdruck der Wirklichkeit, nicht die Wirklichkeit selbst. Auf diese Weise bekam Rosa Luxemburgs Satz für mich die Funktion einer kantischen regulativen Idee, die ich zwar nicht ganz durchschaute, aber als Richtungsanzeiger und Hinweis beherzigen wollte, den Kapitalismus nicht durch den kongenialen Verstand, der ihm auf die Schliche zu kommen versucht, unwillkürlich zu affirmieren. Die Betrachtung ist vielmehr umzukehren, um den Kapitalismus wieder in die Wirklichkeit, als deren verhängnisvolle Negation er erscheint, einzufügen, letztere also als den eigentlichen Inhalt der geistigen Anstrengung im Auge zu behalten.
Die Ränder – ein logisches Problem
Der Kapitalismus, so hat sich mir Luxemburgs Äußerung weiter eingeprägt, existiert nur über seine Ränder. Über das nämlich, was noch nicht kapitalistisch ist und damit jenes Quäntchen Profit ermöglicht, das der Kapitalismus selbst nicht hergibt. Es ist das Quantum, das über Reichtum und Wettbewerbsfähigkeit entscheidet, seiner Qualität nach aber nur eine beständige Zufütterung aus einer Ressource ist, die der Kapitalismus aufzehrt. In Die Akkumulation des Kapitals finde ich zwar nicht die Stelle des erinnerten Satzes wieder, dafür aber den Zusammenhang, in dem er steht. Denn im Grunde handelt Luxemburg, wenn es um den Kapitalismus geht, stets von der Gleichzeitigkeit von Kapitalismus und Nichtkapitalistischem, in der zugespitzten Form, dass sie das Ende des Nichtkapitalistischen mit dem des Kapitalismus in eins setzt. So heißt es etwa: »Der Kapitalismus […] ist aber zugleich die erste [Wirtschaftsform], die allein, ohne andere Wirtschaftsformen als ihr Milieu und ihren Nährboden, nicht zu existieren vermag.«i Irgendwann muss die Sache also zu Ende sein. Ich erinnere mich, dass ich mich fragte, ob ich das von Luxemburg so schlüssig, gleichsam durch logische Reduktion abgeleitete Ende des Kapitalismus erleben und wie es denn aussehen würde. Utopisch, apokalyptisch? Unwillkürlich hatte ich die Ränder am geographischen Rand des Kapitalismus verortet, da ungefähr, wo er nicht als zivilisatorisches Modell blendete, sondern als Imperialismus wütete. So konnte ich mich fragen, ob das Ende des Imperialismus wohl den Zusammenbruch des Kapitalismus herbeiführen würde. Eine nicht ganz aufrichtige Frage, denn der Imperialismus als ein richtunggebendes Modell war ja längst in die Schulbücher abgewandert. Die gewiss kindische Folgerung lautete, dass entweder der Kapitalismus mit ihm verschwunden war − er hatte es nur noch nicht bemerkt − oder aber er hatte die barbarischen Züge abgestreift und war nun Zivilisation pur, der Menschheit Hoffnung und Chance.
Längst hat sich auch für ein naives Bewusstsein die nicht zu übersehende Tatsache herausgestellt, dass sich die Ränder im Herzen des Kapitalismus erneuern. Dabei stelle ich mir eine Art Erntemaschine vor: Ein riesiges Teil, das, was es vorne einsaugt, hinten gehäckselt wieder ausspeit, sodass es sich – in eins Fortschritt und Kontamination – feinst verteilt. Auf Unterscheidung ist nicht länger zu hoffen. Sind die Ränder also bloß ein symbolischer Ort und in Wahrheit eine Methode? Geht es darum, die von Rosa Luxemburg hervorgehobene Abhängigkeit des Kapitalismus von einem gesellschaftlichen Zusammenhang, der ausdrücklich nicht kapitalistisch ist, als ein inneres Moment des Kapitalismus immer aufs Neue zu erzeugen, als beständiges Zubrot oder bloßes Gefälle? Was aber ist dann das genuin Nichtkapitalistische ebenso gut wie das genuin Kapitalistische daran? Anders gefragt, wenn das eine durch das andere definiert wird, worüber lässt sich gedanklich verfügen?
Was mich an Luxemburgs Satz seinerzeit berührte, war seine widerständige Aussage, sein Widerstand gegen die eigene Unterscheidung. Er sagt: Kapitalismus, als ein für sich seiender Gegenstand, wie er oft in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung adressiert und attackiert wird, gibt es nicht. Denn es gibt ihn nicht ohne das, was er nicht ist, sein − um das große Wort der Kritischen Theorie zu gebrauchen − Nichtidentisches. So verlässlich er dank der ihm innewohnenden Krisenhaftigkeit die Ränder erzeugt, die er, wie man so sagt, zum Leben braucht, so wenig kreiert er sich selbst als Fortschritt. Sein Voranschreiten ist doch durch ein Moment vorausgesetzter Fremdbestimmung und Abhängigkeit konstituiert – die Religionsphilosophie würde es ein Verhaftetsein im Ursprung nennen −, das allenfalls zirkuläre Prozesse erlaubt. Und diese spezifische Dynamik erzeugt für den Verstand noch dazu jenes Moment von Undurchdringlichkeit und Unabsehbarkeit, das den Kapitalismus zum Inbegriff eines Verfahrens macht, das ins Uferlose führt, in die Immanenz und Endlichkeit einer zweiten Natur, von der wir nicht wissen, wann sie uns umbringen wird. Mit dem Aspekt des Fortschritts, den er für sich in Anspruch nimmt und als dessen Verkörperung er sich darstellt, gerät der Kapitalismus in Widerspruch zu sich selbst. Mag er voranschreiten, wie er will, wird er doch niemals vernünftig. Dazu müsste er ja er selbst sein und von sich ausgehen können. Fortschritt durch Kapitalismus würde ihn als Subjekt voraussetzen. Ohne diese Voraussetzung gibt es Fortschritt nicht abgelöst vom Fortschreiten des Kapitalismus, lediglich als abgespaltenen Fortschritt im Kapitalismus, eingebunden in ein dichotomisches Modell von Fortschritt durch Rückschritt et vice versa und in Anwendung der Grundregel, dass alles auf Kosten von etwas geschieht. Hinter dem Prinzip der Produktion durch Ausbeutung steht, ungleich wehrhafter, das Prinzip der Aufspaltung. Was nach kapitalistischer Art und Methode hervorgebracht wurde, kann als an sich existierend nicht einmal gedacht werden. Die Konsequenz: Man kann sich seiner nicht für qualitativ anderes bedienen. Man kann ihn nicht beerben, ohne sich in seine Erbfolge zu stellen.
Die moderne Theoriebildung verleugnet den Kapitalismus gar nicht mehr, vielmehr hat sie ihn umgemünzt in sein dynamisches Moment. Das Modell trägt sich selbst, aber es hat nichts mehr zum Tragen. In der naiven Vorstellung vom Kapitalismus, dagegen, als ein kompaktes, äußeres Ding, das man abschaffen, wie ein Laster − die sprichwörtliche Gier nach Profit – ablegen oder gar als Person haftbar machen kann, ist er alles Mögliche – Kupfermine in Afrika, Textilarbeit in Bangladesch, ja, sogar die längst abgeschaffte und durch die Arbeitskraft Geflüchteter wieder in Mode gekommene unqualifizierte Dienstleistung auf den Caféterrassen der großen Städte Europas. Aber begriffen ist er damit nicht. Wohl aber kann man über ihn nachdenken. Womöglich sind Verwüstung und Verödung das eigentlich Dynamische am Kapitalismus, als wachsende Ränder geradezu unverhältnismäßig konkret und alles andere als ein Sinnbild des Verschwindens. Womöglich sind sie das unvermeidliche Komplement zu den hochdynamischen Zentren, in denen Ausbeutung nach wie vor allgegenwärtig ist, aber nicht mit Zerstörung assoziiert. Sie wird dagegen umso stärker als gemeinsame Gefährdung der zu den viel besungenen Bewohnern einer Erde herabgestuften Klassengegner empfunden.
Am Rand – ein historisches Problem
Begreift man Kapitalismus als eine gesellschaftliche Form, die ihren Widerspruch als konstitutives Moment, als das ureigene Gesetz ihrer Bewegung enthält, dann verschwimmt die Grenze zwischen elaborierter Form und blinder Totalität. Es ergibt sich als Folgerung, den Kapitalismus nicht sinnlos in Frage zu stellen, sondern von ihm auszugehen und, anstatt ihn zu bekämpfen, das Leben zu verbessern. Vor ein paar Jahrzehnten wäre solche Konsequenz noch als Abschied vom Denken aufgefasst worden, als blinder Praktizismus oder klares Votum für Herrschaft. Heute schafft sie Spielraum für Gedanken – man denke an den Kampf für Diversität und Nachhaltigkeit. Vor dem Hintergrund des NS fällt diese Veränderung besonders auf, denn in den entscheidenden Jahren der Bundesrepublik fand Selbstbesinnung doch ausschließlich vermittelt über ihn statt. Die Grenzüberschreitung, als die der NS wahrgenommen wurde, rückte Kritik und Systemkritik aufeinander zu. Das ganz Andere wurde zugleich das Nächstliegende.
Ich erinnere mich, wie mühelos der Gedanke der Überwindung der Verhältnisse in der 68er-Bewegung gefasst wurde. Als Grenzüberschreitung einer bis dahin ungekannten Qualität musste der NS bis weit in die Normalität zurück- und hineinverfolgt werden, die er bereits zerstört hatte. Sie musste überschritten werden. Die Verhältnisse, die dem expliziten Projekt der Vernichtung der Juden – wiewohl es dem gesellschaftlichen Selbstverständnis widersprach – faktisch nichts entgegengesetzt hatten, gerieten in den Fokus einer Kritik, die per se als Systemkritik antrat. Der vermeintliche Herrschaftsanspruch einer fürs Gesamt der gesellschaftlichen Reproduktion doch so unerheblichen Gruppe wurde übel aufgenommen. Ludwig Erhard, Bundeskanzler a.D., sprach von »Pinschern«, die der Bevölkerung ans Bein pinkelten. Sein vermeintlicher Ausrutscher spiegelte nicht nur die für die Nachkriegsdemokratie so charakteristische Spaltung zwischen der nach eigener Empfindung schweigenden Mehrheit, die das Land wiederaufbaute, und der sprichwörtlich kleinen, radikalen Minderheit, die für die Selbstreflexion zuständig war, sondern auch so etwas wie Arbeitsteilung. Denken war eine linke Angelegenheit, insofern es in die Forderung der Veränderung der Verhältnisse mündete. War einem der Gedanke einer solchen unabsehbaren Veränderung nicht zuletzt wegen der ungeklärten Nähe von Antifaschismus und Klassenkampf zuwider, dachte man besser nicht. Wenn man es aber tat, dann im Bewusstsein, für alle anderen mitzudenken. Das Zugleich von Opposition und Stellvertretung ergab auf beiden Seiten ein, mit Freud zu sprechen, ozeanisches Gefühl, ein Gefühl von Patronage, Fürsorge und Bevormundung. Die Mehrheitsgesellschaft zugleich anzugreifen und zu vertreten, bedeutete etwas anderes, als Partei im Klassenkampf zu sein. Die ambivalente Position war von der Grenzüberschreitung des NS zutiefst markiert. Ihr wohnte ein Moment halluzinativen Überschwangs inne, ein Moment im Kern unpolitischer, bürgerlicher Versöhnung, so als könnte der von Dan Diner so genannte Zivilisationsbruch durch einen Rekurs auf die Aufklärung des achtzehnten und nicht auf den Klassenkampf des 19. Jahrhunderts geheilt werden. Vom traditionellen Klassenstandpunkt unterschied sie sich schon allein deshalb, weil sie durch den NS von dieser Tradition abgeschnitten war und im NS einen deutlicheren Gegner hatte als im Proletariat einen deutlichen Verbündeten. So war sie zugleich besonders und allgemein, als herrschender Diskurs auch ein Kampf um die Herrschaft des Politischen.
Ein Freund erzählte mir, nach einer Unterhaltung mit ihm habe sich ein Kommilitone entschlossen, Soziologie statt weiter Literaturwissenschaft zu studieren. Das war ein Erfolg, denn Soziologie war wichtig. Im emphatischen Sinn war sie allgemein. Wie jede andere Disziplin auch ist Soziologie heute nur Ausdruck einer kontingenten Gesellschaft – ja dank ihrer Unmittelbarkeit zum Gegenstand selbst kontingent –, damals war sie wichtiger als andere Fächer, denn sie brachte Revolutionäre hervor und die anderen nur Fachidioten.
Dieses Moment einer natürlichen Dominanz und Stellvertretung hat sich erledigt. Wo es noch in Schattenform existiert, da nicht zuletzt dank der Renaissance eines expliziten Rechtsradikalismus, der die Richtung vorgibt und den Sinn stiftet. Systemkritik als Betätigungsform einer Linken ist an den Rand gedrängt, an die heikle Grenze zwischen Sein und Nichtsein. Der Kapitalismus hingegen, als Inbegriff einer Totalität, vom entscheidenden Hindernis zum Rahmen jeglicher Veränderung avanciert. Geht es mit ihm nicht, dann ohne ihn schon gar nicht. Warum sich noch länger auf ihn fixieren, während andere längst mit anderem beschäftigt sind? Seinerzeit konstruierte man die Gesellschaft nicht von ihrer positiven Zusammensetzung, sondern von ihrer kategorialen Grenze, nicht von ihrem Sosein, sondern von ihrem Nichtsein her, denn sonst brauchte man gar nicht erst anzufangen, es kam eh nichts heraus. Heute ist die Systemfrage verblasst angesichts der vielversprechenden Möglichkeiten, die realisiert werden wollen, wie angesichts der Dringlichkeit elementarer Gefährdungen, deren Bewältigung nur vom Kapitalismus erwartet werden kann. Nur er verfügt über die dynamische Formel, die den Fortschritt in Bedrohung verwandelt. Warum dann nicht auch umgekehrt? »Das Schwert, das die Wunde schlug, wird sie heilen«, so lautet der mythische Spruch. Aber nicht der Kapitalismus scheint durch ihn diskreditiert, eher wird das Überleben in Zweifel gezogen.
Proletarisches Bewusstsein gehört heute auf die Seite des kapitalistischen Fortschritts. Die Wut auf die da oben ist auf den möglichen Bruch des Partnerschaftsvertrags fixiert. Sie hat ihre Entsprechung in der Wut auf die da unten, die nach kapitalistischer Rationalität zu handeln nicht in der Lage sind. In Luxemburgs Modell sorgen sie aber dafür, dass der Laden läuft. Das Proletariat verkörpert, was der Kapitalismus kann, und das nach alter Begrifflichkeit als Lumpenproletariat bezeichnete, was er ist. Der linken Position ist das ökonomische Subjekt abhandengekommen, da das proletarische Subjekt nicht links, die in vielfältiger Konfiguration vorhandenen Ränder aber kein Subjekt sind. Somit ist ihr auch die politische Identität abhandengekommen. Die Linke vertrat einmal die Alternative zu einer Gesellschaft, die für einen scheinbar neutralen Wiederaufbau auf Akkumulation statt Negation setzte. Heute vertritt sie ein verweigertes Einverständnis, einen bloß prinzipiellen Vorbehalt und unter der Signatur einer kompromisslosen Kritik auch eine Verteidigung der bürgerlichen Ideale. So ergibt sich, dass linke Argumentation – in Stellvertretung für die versagende Mitte – Demokratie und Rechtsstaat einfordert, und es den Rechtsradikalen, die sich hierbei durchaus als Erben ehemals linker Systemkritik wahrnehmen, überlassen bleibt, das Bestehende infrage zu stellen.
In der Mitte
Für die, die in der 68er-Bewegung sozialisiert wurden, ist es noch gar nicht so lange her, da reichte die Bemerkung, Hitler sei Vegetarier gewesen, um die einschlägige Debatte in Gelächter aufzulösen. Tiere zu schützen in einer Gesellschaft, die gerade bewiesen hatte, dass sie Menschen zu schützen weder willens noch in der Lage war, galt im freudschen Sinne als eine Verschiebung. Diese musste rückgängig gemacht werden, um das eigentlich Gemeinte ins Auge fassen zu können. Franziskanische Nächstenliebe unterlief die wirklichen Verhältnisse. Was sie an Lebenssinn, an unmittelbarer Befriedigung bot, darauf musste zugunsten einer systematischen Anstrengung verzichtet werden. Das System selbst, das Wort spricht es aus, verkörperte eine transzendentale Aufgabe. Abstraktion war gefragt, Immanenz tabu. Der Gegenstand der Beschäftigung war, in schönstem Gerundivum, ein zu überwindender.
So gerieten Kritik und Kenntnis in einen unüberbrückbaren Gegensatz, sie fanden sich auf den gegenüberliegenden Seiten des Klassenkampfs wieder. Alles strebte aufs Urteil zu und das saugte auf, was in die Kenntnis investiert gehört hätte. Aber Kenntnis galt nur als ein Ausdruck des Bestehenden. In den Klausurvorschriften, nach denen ich als Lehrerin korrigierte, ging Kennen/Verwenden zu 80 Prozent, Urteilen zu 20 Prozent in die Gesamtnote ein. In der transzendentalen Betrachtung war es umgekehrt. Kenntnis war kontaminiert mit den Verhältnissen, die sie hervorgebracht hatten. Bestenfalls kam sie nach erfolgtem Urteil in Fluss, war Ideologie, bevor sie noch Kenntnis wurde. Damit befestigte das Urteilen – je erfolgreicher es verfuhr, desto entschiedener – das untergründige Schema, nach dem der Kopf über der Sache und letztere dem ersteren zur Verfügung steht. Er kann sagen, was mit ihr los ist. Die revolutionäre Forderung, den Kampf gegen den Kapitalismus zur eigenen Sache – rhetorisch der Sache selbst – zu machen, trennte diese gleich doppelt ab: vom Subjekt, das sich an der eigenen Kritik begeisterte, wie vom allgemeinen Sachverhalt, der ihr logisch vorausgesetzt war und sachlich zugrunde lag. Die fehlende Kenntnis des Sachverhalts trägt dazu bei, dass Menschen, wie in den jüngsten Wahlergebnissen, für die früher verschriene Mitte votieren. Offenbar gewahren sie dort mehr Spielraum als am Rand, jenem vormaligen Schauplatz jeglicher relevanten gesellschaftlichen Auseinandersetzung und laut Luxemburg transzendentalen Ort des Kapitalismus, an dem sich sein Schicksal entscheidet. Ihr Motiv ist nicht die Wette auf eine kapitalistische steile Karriere, sondern die gesellschaftliche Verbundenheit. Konnektivität ist das Zauberwort. Sie als die Reklame-, die Medien- und Netzversion der Solidarität zu entlarven, ist keine Kunst. Die Gefahr besteht aber, der eigenen Entlarvungsstrategie aufzusitzen. »Wir sind connected«, zitiert Camille ihren narzisstischen Papa in In Therapie, der französischen Version der israelischen Serie Be Tipul. Der Vater deutet die Beziehung, die er der Tochter verweigert, in geheimnisvolle Anwesenheit, unsichtbare Verbundenheit um. Mit solcher Verdrehung der Tatsachen kommt er bei ihr lange durch, handelt es sich bei der Connection doch nicht bloß um ein einzelnes Gut, sondern um den Realitätsbezug, den sie nicht entbehren kann. Ihr Glaube an ihn und seinen Glauben an sie hält sie am Leben.
Wirklichkeit, im vollen Umfang dessen, womit man vermittelt ist, kann man nicht begreifen, ohne sich den gesellschaftlichen Verhältnissen zu stellen. Allerdings sind auch die gesellschaftlichen Verhältnisse ein Konstrukt, das den Bezug nicht garantiert. Als Ausschließungsmechanismus funktionieren sie nicht. Der Verweigerungshaltung der Nachnazigeneration steht heute ein Mitmachbedürfnis ausgerechnet jener gegenüber, die im ominös gewordenen Früher sich auf der Verweigerungsseite befunden hätten. Der Wettstreit findet nicht zwischen Negation und Affirmation, sondern um die gesellschaftliche Beteiligung, die zum Leben nötig ist, statt. Es geht nicht zuletzt um die Frage, ob die Beteiligung abstrakt oder konkret, eingebildet oder wirklich ist; ob es – um Marx zu zitieren – der Kopf der Leidenschaft oder bloß die Leidenschaft des Kopfes ist.
Gesellschaftliche Verbundenheit stellt sich durch Verbinden her, des gesellschaftlichen Bewusstseins mit seinen sächlichen Voraussetzungen oder der sächlichen Voraussetzungen mit einem gesellschaftlichen Bewusstsein. Sich vertiefen, nicht in die polarisierenden Unterscheidungen, sondern in die nivellierenden Umstände, stellt die Interpretation, das, was richtig und wichtig ist, zugunsten des Zusammenhangs hintan. Als Stellvertreter der Wirklichkeit ist er das im emphatischen Sinn positivistische Ziel der Untersuchung. Er ist das, was im Interesse der Sache und womöglich gegen das Interesse derer ist, die sie untersuchen: auf der sicheren Seite zu sein. Dem Zusammenhang Rechnung zu tragen, heißt immer auch die erwünschten und benötigten Abgrenzungen aufzuheben, in denen eingeordnet wird, was hervorsticht. Worum es im Ausgangspunkt geht, verschwindet im Ergebnis. Aber nicht die Sache verschwindet, nur ihre profilierende Indienstnahme.
Der Wirklichkeit gerecht zu werden fällt einer theoretischen Betrachtung, für die sie erst aus dem Begreifen folgt und als Begriffene existiert, nicht leicht. Noch weniger, es anderen zu konzedieren. Dabei ist solches Zugeständnis die conditio sine qua non der eigenen Wirklichkeit. Die gesellschaftliche Verbundenheit derer anzuerkennen, die sich für Computer, Graphic Novels oder für Viren so interessieren, wie man selbst sich für Kapitalismus und soziale Ungerechtigkeit interessiert, visiert den Vermittlungspunkt an und schafft Orientierungsfreiheit für alle. Nur dann kann man auf die eigene Allgemeinheit vertrauen, wenn man sie auch anderen unterstellt. Sonst – das ist beinahe schon ein Kalauer – ist man auch nur speziell.
Ilse Bindseil
Die Autorin interessiert sich spätestens seit Ihrem Buch Es denkt. Für eine gesellschaftliche Definition des Geistes und einen Verzicht auf die Definition des Körpers für die gesellschaftlichen Hintergründe des Denkens und die gedanklichen Hintergründe der Gesellschaft.