Robert Zwarg
Wozu schweigen, worüber sprechen?
Vorauseilende und nachholende Bemerkungen zum Sprechen über die befreite Gesellschaft
Zwei Monate ist der Erste Weltkrieg bereits im Gange, als Karl Kraus in Wien eine Rede mit dem Titel »In dieser großen Zeit« hält. Wenig später wird sie in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Die Fackel abgedruckt. Über den Krieg und die ihm anhängige nationalistische Begeisterung hätte es einiges zu sagen gegeben, auch wenn seine Dimensionen – ein sinnloses Abschlachten von Menschenmaterial, das bis heute die unzulässig verlängerte und verdoppelte historische Folie jedes Pazifismus darstellt – damals noch nicht überschaubar waren. Doch genau das tut Kraus nicht. Keine alternative Analyse des Krieges ist zu finden, kein eigener Beitrag im Wettstreit der Berichterstattungen. Stattdessen beginnt Kraus seine Rede mit der Begründung eines Schweigens: »...in dieser lauten Zeit, die dröhnt von der schauerlichen Symphonie der Taten, die Berichte hervorbringen, und der Berichte, welche Taten verschulden: in dieser da mögen sie von mir kein eigenes Wort erwarten. Keines außer diesem, das eben noch Schweigen vor Mißdeutung bewahrt. Zu tief sitzt mir die Ehrfurcht vor der Unabänderlichkeit, Subordination der Sprache vor dem Unglück.« Karl Kraus, In dieser großen Zeit, Ausgewählte Werke 2, Berlin 1971, 9. Gut ein Jahr später, 1915, versieht Kraus diese Begründung mit einem Kontrapunkt, ja einer Relativierung: »Das Schweigen war nicht Ehrfurcht vor solcher Tat, hinter der das Wort, wofern es noch eins ist, noch zurücksteht. [...] Und das Schweigen war so laut, daß es fast schon Sprache war. Nun fielen die Fesseln, denn die Fesseln selbst spürten, daß das Wort stärker sei.« Kraus musste sich wieder hörbar machen, »und wäre es nur, um zu bewiesen, daß die Sprache selbst noch nicht erstickt sei.« Ders., Schweigen, Wort und Tat, ebd., 31.
Weiter…