Erinnerungen gelten landläufig als Vergegenwärtigung von Vergangenem »wie es gewesen ist«. Warum werden Erinnerungen dann immer wieder zum Streitfall nicht nur in der Politik? Bei der Geschichtspolitik geht es nach der Definition von Edgar Wolfrum nicht um den wissenschaftlichen Wahrheitsgehalt, sondern um die Frage »wie, durch wen, warum, mit welchen Mitteln, welcher Absicht und welcher Wirkung Erfahrungen mit der Vergangenheit thematisiert und politisch relevant werden.« Im Folgenden sollen zwei Bücher vorgestellt werden, die sich diesem Phänomen von der politischen und von der wissenschaftlichen Seite widmen.
Eine scheinbare, fast trügerische Stille in der bundesdeutschen Erinnerungslandschaft machen die Herausgeber des Sammelbandes Sichtbare Zeichen aus. Im Gegensatz zu den zahlreichen Erinnerungsdebatten der 1990er Jahre sei etwa die Erinnerung an deutsche Opfer (etwa von Bombenkrieg und Vertreibung) zunehmend selbstverständlich. Ziel des Buches sei es daher, »Debatten und Entwicklungen sichtbar zu machen« sowie »erreichte geschichtspolitische Standards zu verteidigen und gleichzeitig Fehleinschätzungen zu benennen«.
Die neun Beiträge behandeln die Etablierung der staatlichen Stiftungen Flucht, Vertreibung, Versöhnung (Dirk Burczyk) und Erinnerung, Verantwortung, Zukunft (Ulla Jelpke). Die Versuche einer Gleichsetzung von DDR und NS-Deutschland werden in Artikeln zum Gedenkstättenkonzept des Bundes (Gerd Wiegel) und zum Einheits- und Freiheitsdenkmal (Detlef Kannapin) behandelt. Die Kritik am unkritischen Umgang mit dem NS-Rechtssystem (Joachim Perels) oder der unzureichenden Rehabilitierung der NS-»Kriegsverräter« (Jan Korte) wird verbunden mit einer Darstellung aktueller Legitimationsdiskurse, wie in der staatlichen Erinnerung an den 20. Juli 1944 (Frank Brendle) oder der Errichtung eines Bundeswehr-»Ehrenmals« in Berlin (Ulrike Gramann). Abgerundet wird der Band durch einen Überblick über die jüngere Geschichtspolitik in Polen (Holger Politt).
Die Artikel bieten insgesamt einen guten und informativen Überblick über jüngere Entwicklungen staatlicher Geschichtspolitik in der BRD. Leider wird der Anspruch der Aktualität dabei nicht immer ganz eingelöst. Allzu oft bleiben die Analysen bei einer politisch-moralischen Empörung stehen. Dieser politische Impetus verwundert nach einem Blick in das Impressum kaum noch: Die überwiegende Mehrheit der AutorInnen war oder ist in unterschiedlichen Funktionen für die Partei DIE LINKE tätig. Legt man die eingangs zitierte Definition von Geschichtspolitik zugrunde, so verwundert manche Kritik der AutorInnen, die ja in gewisser Weise selbst geschichtspolitische AkteurInnen sind.
Dass der Staat etwa mit entsprechenden Institutionen daran arbeitet, ein positives nationales Geschichtsbild zu stricken, wird skandalisiert, anstatt es zum Ausgangspunkt der Analyse zu machen und den Blick darauf zu richten, wie und mit welchen Konflikten das geschieht. So heißt es etwa pauschal: »In einer solchen Nationalgeschichte macht es sich besser, Opfer zu sein als Täter; die Tätereigenschaft verstellt den Weg zu einer positiven Identifizierung, die Opfereigenschaft fordert dazu auf«. Aber wie sich die Selbstwahrnehmung als Opfer vollzieht, wie sie sich so selbstverständlich durchsetzen konnte, wird leider nicht gefragt. Selbst das eingangs erwähnte Ausbleiben größerer geschichtspolitischer Kontroversen wird nicht etwa als Anzeichen für eine Art geschichtspolitischen Konsens in der BRD gewertet, sondern als »Befriedungsdiskurs« oder »Lahmlegung« von Debatten durch »konsensualen Umgang mit der Geschichte« zu einer mehr oder weniger bewussten Strategie der Regierung Merkel verklärt.
An einer Theorie der Erinnerungskulturen versucht sich Matthias Berek in seiner Dissertation Kollektives Gedächtnis und die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Zwei Schwachstellen in der Erinnerungsforschung nimmt er zum Anlass für seine Überlegungen: Die Schwammigkeit der allseits verwendeten Begriffe und die trotz allem Konstruktivismus oft zugrundeliegende Vorstellung von einer »authentischen« Erinnerung, die »verfälscht« oder »missbraucht« werde. Theoretisch und begrifflich gestützt auf die Wissenssoziologen Peter L. Berger und Thomas Luckmann leitet Berek den konstruktiven Charakter von Erinnerungskultur systematisch her und beschreibt ihre Rolle für die gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit.
Das Buch beginnt mit der notwendigen Klärung zentraler Begriffe wie Erinnerung, Gedächtnis und Kultur. Kenntnisreich werden dabei auch Unzulänglichkeiten bereits existierender Begriffe benannt, wie die in der deutschsprachigen Wissenschaft de facto kanonisierte Bezugnahme auf die von Jan und Aleida Assmann stammenden Begriffe kommunikatives und kulturelles Gedächtnis.
Der Hauptteil des Buches widmet sich der theoretischen Erklärung der Entstehung, Struktur und Funktionen von Erinnerungen. Dabei integriert Berek Erkenntnisse unterschiedlicher Disziplinen in seine Darstellung und schlägt immer wieder den Bogen von der neuronalen Ebene des Erinnerns über die individuelle bis hin zur Erinnerungskultur als gesellschaftlichem Phänomen.
Sehr anschaulich ist die systematische Beschreibung von Erinnerung als produktiv und kommunikativ. Die Medialität ist demnach notwendiges Merkmal jeder öffentlichen Erinnerung - das gilt selbst für mündliche Erzählungen etwa von Überlebenden der Shoah. Auf dem Weg vom Erlebnis über die Erfahrung, die individuelle Erinnerung bis hin zur Erzählung, sind Erinnerungen immer wieder zahlreiche Veränderungen unterworfen. Deswegen, so Berek, »sind Autobiographien weder authentisches Zeugnis dafür, wie ein Ereignis gewesen ist, noch, wie es die Erzählenden damals wirklich erlebt haben. Objektive Wahrheit und subjektive Authentizität sind im Bereich der Erinnerung unbrauchbare Kategorien«.
Der kommunikative Charakter von Erinnerung bedingt auch, dass die Intentionen offizieller Erinnerungspolitik niemals 1:1 beim »Konsumenten« ankommen, wie Berek am Beispiel des Museumsbesuches einer Schulklasse zeigt. Die in der Forschung häufig unterschätzte Wechselwirkung zwischen der öffentlichen Präsenz bestimmter Vergangenheitsbilder und deren individueller Aneignung wird so zwar benannt, hat aber leider keinen zentralen Stellenwert in der Analyse.
Im vorletzten Kapitel versucht sich Berek an einer Typologie der Erinnerungskultur. Ausgerichtet an den drei Achsen Komplexität, Trägergruppen und Zugang zur Macht entwirft er eine sehr komplexe Matrix von Begrifflichkeiten und Definitionen. Diese werden in der Regel nicht, wie im Hauptteil, theoretisch hergeleitet, sondern anhand von empirischen Beispielen illustriert und sind dadurch nicht immer ganz nachvollziehbar.
Das Buch schließt mit einer prägnanten Zusammenfassung und einer abschließenden Definition von Erinnerungskultur. Als zentrale Erkenntnis bleibt zurück, dass kollektive Erinnerung »immer für gegenwärtige Zwecke instrumentalisiert« wird und dass daher der Zweck von Erinnerungsforschung daher nicht sein kann, zu fragen »wie es wirklich war«, sondern »warum, von wem, wie, aus welchen Motivationen heraus und zu welchen Zwecken« etwas kollektiv erinnert wird.
Die theoretische Herleitung und damit Klärung zentraler Begriffe der Erinnerungsforschung ist ein großes Verdienst Bereks. Dennoch finden sich Passagen ähnlichen Inhalts auch schon in der Einleitung des Buches. Das wirft die Frage auf, welchen konkreten Nutzen die gut begründeten Begriffe denn für die künftige Beschäftigung mit Erinnerungskulturen haben (können). Leider geht der Autor darauf nur punktuell ein. Eine Verortung der eigenen Forschung findet, wenn überhaupt, nur theoriegeschichtlich statt. Auch das Verhältnis zu konkurrierenden Begriffen wird nur vereinzelt dargestellt. Wünschenswert wäre zum Beispiel eine abschließende Einordnung der eigenen Terminologie in die durchaus unterschiedlichen Definitionen von Erinnerungskultur und kollektives Gedächtnis gewesen.
Etwas unverständlich ist leider der inkonsistente Umgang mit empirischen Beispielen im Buch. Eingangs macht Berek deutlich, seine theoretischen Überlegungen nicht mit einer eigenen empirischen Untersuchung verbinden zu wollen und verzichtet in der ersten Hälfte des Buches auch fast vollständig auf empirische Beispiele. In der zweiten Buchhälfte werden diese dann immer häufiger und treten im vorletzten Abschnitt teilweise sogar an die Stelle theoretischer Herleitungen. Eine weitgehende Leerstelle bleibt so die Frage, wie die entwickelten Begriffe bei der empirischen Arbeit operationalisiert werden können. Dies klingt nur in vereinzelten Beispielen an (etwa bei der Frage nach dem subversiven Potenzial von Erinnerungen), geschieht aber leider nicht systematisch. Besonders schade ist das, weil Berek in seinen empirischen Beispielen durchaus einen kritisch-analytischen Blick auf zahlreiche Aspekte aktueller Erinnerungskultur an den Tag legt.
Trotz dieser Kritik ist dem Autor sein Vorhaben gelungen. Das Buch rollt auf profunde Weise die Grundfragen sozialwissenschaftlicher Erinnerungsforschung auf und zeigt in einem systematischen Überblick nicht nur die Funktionsweise von Erinnerung auf, sondern auch deren Probleme und Fallstricke. Berek stellt wichtige Fragen und nimmt dabei Bezug auch unterschiedliche Ansätze und aktuelle, auch englischsprachige Literatur. Zudem ist das Buch für eine wissenschaftliche Arbeit, noch dazu für eine, die sehr theoretisch angelegt ist, erstaunlich flüssig geschrieben. Es ist daher zu wünschen, dass es auch außerhalb akademischer Kreise seine Beachtung findet.
* Gerd Wiegel und Jan Korte (Hrsg.): Sichtbare Zeichen: Die neue deutsche Geschichtspolitik Von der Tätergeschichte zur Opfererinnerung. PapyRossa, Köln 2009, 170 S., €12,90.
* Mathias Berek. Kollektives Gedächtnis und die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit: Eine Theorie der Erinnerungskulturen. Harrassowitz, Wiesbaden 2009, 224 S., €38,00.