Im Mai 1946 veröffentlichte Hannah Arendt in der jüdisch-amerikanischen Zeitschrift Commentary einen Artikel anlässlich des fünfzigjährigen Jubiläums der Veröffentlichung von Theodor Herzls Judenstaat. Angesichts der Vernichtung der europäischen Judenheiten war Arendts Beitrag allem voran von dem Bewusstsein getragen, »dass heute im Zentrum jüdischer Politik die Überreste der europäischen Judenheit stehen« und »dass unsere ganze politische Perspektive notwendigerweise von ihren Erfahrungen und von unserer Solidarität mit ihnen bestimmt ist.« Hannah Arendt, Die Krise des Zionismus. Essays & Kommentare 2, hrsg. v. Eike Geisel/Klaus Bittermann, Berlin 1989. Alle nicht angegebenen Zitate von Arendt beziehen sich – ohne Seitenangabe – auf diesen Band. Und gerade unter jenem »überlebenden Rest« erkannte Arendt ein aus der unmittelbaren Erfahrung der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik resultierendes Drängen, das einer jüdischen Staatsgründung unmittelbare Aktualität verlieh. Weil »von allen Verfolgten (…) nur Juden für den sicheren Tod ausgewählt« wurden und weil aus dieser Erfahrung eine »Trennungslinie« entstanden war, vor der »alle Nichtjuden gleich« wurden, hatte gerade jener Bruch mit aller bisher gekannten Gewalt ein »starke[s] Verlangen« begründet, »nach Palästina zu gehen (…). Nicht, dass sie sich einbilden, sie seien dort sicher – sie wollen nur unter Juden leben, ganz gleich, was geschieht.« Und kurz darauf betonte Arendt, dass es zudem leichtfertig wäre, wenn man »den engen Zusammenhang leugne, der zwischen dieser Stimmung der Jüdinnen und Juden in aller Welt und der jüngsten europäischen Katastrophe besteht.« War doch vielmehr die Ausbildung eines protozionistischen jüdischen Bewusstseins zu beobachten, das von der festen Überzeugung der Notwendigkeit eines jüdischen Staates getragen war. Arendt selbst hatte sich schon seit den dreißiger Jahren der zionistischen Bewegung angenähert, weil sie einzig sich in einem, mit den Insignien politischer Macht ausgestatteten, territorialen Gemeinwesen eine Vertretung jüdischer politischer Interessen zu realisieren glaubte.
Arendt verband mit dem Bedeutungszuwachs für ein jüdisches Nationalstaatprojekt aber zugleich die Befürchtung, dass »die utopischen und ideologischen Elemente, mit denen er [der Zionismus] den neuen jüdischen Willen zur politischen Aktion ausstaffierte, (…) die Juden höchstwahrscheinlich nur noch einmal aus der Realität« hinausführe – »und damit aus dem Bereich, in dem politisch gehandelt wird.«
War doch angesichts der Differenz zwischen dem Antisemitismus des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, der noch den Anschein eines durch Emigration lösbaren Nationalitätenkonfliktes erwecken konnte, und der nationalsozialistischen Vernichtungsabsicht, alle Jüdinnen und Juden überall zu morden, die zionistische Hoffnung auf Palästina als Antwort auf den Antisemitismus ad absurdum geführt. Weil das jüdische Überleben in Palästina allein dem Sieg der britischen Armee über die deutschen Truppen 1942 in El Alamein zu verdanken war, folgerte sie deshalb, »dass es keine Lösung der Judenfrage in einem Lande, auch nicht in Palästina« gibt und dass man vor Antisemitismus allein auf dem Mond sicher sei. Damit traf sie zudem jenes religiös anmutende Element des zionistischen Selbstverständnisses, dem es trotz aller Umstände schien, »in Palästina bestünden besondere Verhältnisse, die mit dem Schicksal der Juden draußen nichts zu tun hätten.«
Die Aporie zwischen Holocausterinnerung und der Palästinafrage bei Hannah Arendt
Arendt war von einer Rettung der Jüdinnen und Juden in Palästina wegen Palästina – vielmehr wegen Eretz Israel – auch deshalb auf Distanz gerückt, weil das damit verbundene Versprechen der Sicherheit wiederum zum Motor der Utopie einer jüdisch nationalstaatlichen Existenz in Nahost geworden war, die wegen der Anwesenheit der arabischen Bevölkerung im Jenseits der Realitäten einer politischen Gegenwart angesiedelt schien. Dass »das Vexierspiel des Volks ohne Land, das ein Land ohne Volk sucht – praktisch den Mond (…) –, endlich sinnlos geworden ist«, Hannah Arendt, Zur Minderheitenfrage. Brief an Erich Cohn-Bendit, Paris Januar 1940, in: dies., Vor Antisemitismus ist man nur noch auf dem Monde sicher, München 2000, 225–234. sah sie deshalb auch durch den Teilungsbeschluss der Vereinten Nationen 1947 nicht widerlegt. Und auch wenn eine Staatsgründung gegen AraberInnen realisiert würde, fürchtete sie, die »›siegreichen‹ Juden« seien dennoch dazu verdammt, »von einer vollkommen feindlichen arabischen Bevölkerung umgeben, abgeschlossen innerhalb ständig bedrohter Grenzen leben und derartig von physischer Selbstverteidigung in Anspruch genommen zu sein, dass alle Interessen und Aktivitäten erstickt würden.« Weil ihr außerdem fragwürdig schien, ob der im Jischuw – der jüdischen Gemeinde in Palästina vor der Staatsgründung – erhoffte dauerhafte Schutz der nationalen Existenz durch die internationalen Großmächte nicht an deren eigenständigen Interessen abzuprallen drohe, fürchtete sie in dem fortwährenden Streben nach einem jüdischen Nationalstaat eine Bereitschaft »zum kollektiven Selbstmord«, der in »eine weitere Katastrophe« zu münden drohe. Sie machte allein in der »Anwesenheit der Araber die einzige permanente Realität in der ganzen Konstellation« des Nahen Ostens aus, weshalb sie auch für die zeitgenössischen Aktivitäten der Ihud-Gruppierung Partei ergriff, die sich für die Errichtung eines binationalen, föderativen Gemeinwesens eingesetzt hatte. Die an der Dynamik europäischer Nationalitätenkonflikte geschulte Arendt erkannte im Palästinakonflikt einen vorrangig demographisch-territorialen Gegensatz zwischen der sich ansiedelnden jüdischen Bevölkerung mit ihren Ansprüchen einer ethnischen Staatsgründung und der ansässigen palästinensisch-arabischen Bevölkerung. Wegen der Befürchtung, dass diese sich langfristig gegen die jüdische Existenz in Palästina zu wenden drohe, hatte sie sich von der Idee eines jüdischen Nationalstaats abgewandt und betont, dass die »Existenz der Juden in Palästina davon abhängt«, dass »eine jüdisch-arabische Freundschaft (…) errungen wird«.
Insofern stehen Hannah Arendts politische Reflexionen für eine kaum auflösbare Aporie. Eine Aporie, die aus ihrer Solidarität mit den Überlebenden des Holocaust und deren Hoffnung auf eine gesicherte Existenz in Israel einerseits und der politischen wie erkenntnistheoretischen Widerlegung dieser Hoffnung andererseits erwachsen war. Der Holocaust hatte an der Hoffnung gerüttelt, in Palästina sicher zu sein und zudem wies der schwelende Konflikt die Sicherheit eines jüdischen Staates im Nahen Osten als Utopie fernab der demographischen Realitäten aus.
Das zionistische Israel als Platzhalter antideutscher Erlösungshoffnung
In Deutschland hat man sich der Wahrnehmung dieser unterschiedlichen Ebenen von Holocausterinnerung und Palästinafrage immer wieder verweigert. Dafür steht aber nicht nur der antisemitisch aufgeladene Antizionismus weiter Teile der Neuen Linken, sondern selbst noch die dringliche Kritik der Antideutschen daran. Das meint nicht den aus Solidarität mit den Überlebenden und in Abgrenzung zum linken Antisemitismus sich ausbildenden kategorischen Imperativ, dass wer von Israel spricht, von der Massenvernichtung der europäischen Juden nicht schweigen dürfe (Detlev Claussen). Das meint jedoch, allein in Israel und dessen zionistischem Charakter wegen, die einzig adäquate Antwort auf den Holocaust sowie die einzige Bedingung einer gesicherten jüdischer Existenz auszumachen. Zurückzuführen war dies letztlich auf ein theoretisches Vorgehen, das Auschwitz einer – wenn auch negativen – Sinnstiftung zu unterziehen suchte und damit zum »Ursprungs- und Fluchtpunkt aller Überlegungen machen« konnte. Anstatt des Versuchs, »Auschwitz vermittels der Gesellschaft zu erklären«, wurde stattdessen »die Gesellschaft vermittels Auschwitz erklärt«, das fortan »Erklärungen für anderes« lieferte. Ilse Bindseil, Offener Brief an Gerhard Scheit, http://www.ca-ira.net/isf/beitraege/pdf/bindseil-offener.brief.scheit.pdf. Auf dieser Grundlage hatte die antideutsche Kritik die Rede von der einzig zionistischen Antwort auf den Holocaust nicht nur übernommen, sondern zugleich in die Struktur jenes negativ teleologischen Weltbilds eingefügt. Denn indem das zionistische Selbstverständnis Israels allein als »der bewaffnete Versuch der Juden, den Kommunismus noch lebend zu erreichen«, bestimmt wurde und Sharon »näher dran (…) am Kommunismus, als seine Kritiker« zu sein schien, wurde ein zionistisches Israel gleichsam zum Platzhalter der antideutschen Erlösungshoffnung. Initiative Sozialistisches Forum, Der Kommunismus und Israel, http://www.ca-ira.net/isf/beitraege/pdf/isf-kommunismus.israel.pdf. Damit sollte Kritik am Selbstverständnis Israels in Antisemitismus verwandelt werden und eine eigenständige Geschichte und Struktur der Palästinafrage jenseits von Auschwitz wurde ignoriert. Den israelischen Jüdinnen und Juden wurde damit aber auferlegt, eine Lösung des Palästinakonflikts von der Gegenwart auf den Sankt-Nimmerleins-Tag der linken Erlösungshoffnung zu verschieben.
Die Holocausterinnerung in Israels Gegenwart
Ganz im Gegensatz dazu gehört es vielmehr zur Tragik der von Arendt ausgemachten Konstellation, dass ihr trotz aller politischen Wandlungen ein Fortwirken bis in die Gegenwart hinein beschert ist. Davon zeugt auch das jüngste Buch des einstigen israelischen Knessetsprechers Avraham Burg, das unter dem Titel Hitler besiegen. Warum Israel sich endlich vom Holocaust lösen muss vergangenes Jahr in deutscher Übersetzung erschien. Zu Recht ist dem Buch Kritik in Stil und Inhalt zu Teil geworden, so für den falschen und erkenntnisarmen Vergleich zwischen der Weimarer Republik und der israelischen Gesellschaft, der die Lage der israelischen AraberInnen mit jener der deutschen Jüdinnen und Juden sowie die Militarisierung der beiden Gesellschaften zu parallelisieren sucht. Der Vorwurf, es handele sich bei Burg um einen »antiisraelischen Israeli«, gar um einen »antisemitischen Juden« ist dennoch völlig unangebracht. http://morgenthau.50webs.com/archiv/20091105.pdf Ohnehin handelt es sich bei derlei und ähnlichen Etikettierungen um kaum mehr als identitäre Kampfbegriffe, die allein wegen ihrer Diskreditierung individueller Erfahrungen, Motive und Zweifel, kaum aber wegen ihrer zur Schau getragenen Unvernunft zur Kritik herausfordern. Bei dem Buch scheint es sich jedenfalls eher um ein Element der Wirkungsgeschichte jenes Gegensatzes von zionistischem Bewusstsein einer Rettung in und wegen Palästina einerseits und dem Charakter des Holocaust andererseits zu handeln. Damit ist nicht allein Burgs Verweis auf Ben-Gurions Rede vom Vorrang einer zionistischen Antwort auf die Lage der deutschen Jüdinnen und Juden gemeint. Nicht der Vorwurf, dass man im Jischuw eine reale Handlungsmöglichkeit angesichts der Lage der europäische Jüdinnen und Juden gehabt hätte, wohl aber, dass dessen Palästinazentrismus dazu führte, »dass Ben-Gurion das Wesen des Holocaust nie verstanden hat«, was Saul Friedländer bereits 1967 in Stellung brachte. Die damit verbundene Vermutung, dass »Ben-Gurion und viele andere sich des historischen Erbes der Diaspora-Juden ›schämen‹«, Tom Segev, Die siebte Million. Der Holocaust und Israels Politik der Erinnerung, Reinbek 1995, 612. führt Burg in seinem Buch nun weiter. Er verdeutlicht, wie sich der Gegensatz von einer zionistischen Deutung des Holocaust und der jüdisch-diasporischen Erfahrung der Ausweglosigkeit des eigenen Handelns noch als Gedächtniskonflikt in die frühe israelische Geschichte hinein verlängerte. Drohte der zionistische Versuch einer Konstruktion von Sinnhaftigkeit angesichts der »vollendeten Sinnlosigkeit« (Hannah Arendt) zugleich, die Erfahrungen von Opfern und Überlebenden des Holocausts zu überdecken. Entgegen den Darstellungen Marek Edelmanns, der seiner führenden Rolle im Warschauer Ghettoaufstand mit den Worten erinnerte, dass es »nur um die Art zu sterben« gegangen war, hatte die israelische Erinnerung an den Aufstand diesen wiederum in eine Traditionskette im Kampf um den jüdischen Staat zu reihen gesucht. Burg gilt sie jedenfalls als repräsentativ für die Ausbildung einer israelischen Mentalität der frühen fünfziger Jahre, in der sich die Konstruktion einer aus der Shoah hervorgegangen Erinnerung von Widerstand und Heldentum zugleich mit einem Blick auf die Opfer verband, die sich demgegenüber »wie Lämmer zur Schlachtbank« hätten führen lassen.
Die zionistische Haltung der »Negation der Diaspora« war somit noch auf die Wahrnehmung des Holocaust und die Rede von den Überlebenden und den an sie gerichteten Vorwurf der Schwäche übertragen: »Das Heldentum gehört uns, den Israelis, die Shoah ihnen, den Juden der Diaspora. Sie sind aus Auschwitz, wir sind aus Warschau.«
Über eine solche Kritik der institutionalisierten Holocausterinnerung gerade im jungen Israel hinaus, richten sich Burgs Ausführungen aber vor allem gegen eine Verlängerung des jüdisch-israelischen Holocaustgedächtnisses in die Gegenwart der israelischen Politik. Im Zentrum steht dabei das Verhältnis Israels zu seinen arabischen NachbarInnen und dessen Deutung in Begriffen, die der Erfahrung der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik entstammen. Auch darin macht Burg keinen Anfang, sondern ist lediglich Referent einer langen innerisraelischen Diskussion. Diese war nicht allein von der Wahrnehmung des ägyptischen Staatspräsidenten Nasser als neuem Hitler oder der Legitimierung der Grenzen von 1948 als den »Grenzen von Auschwitz« geprägt. Sie umfasste ebenso die Kritik an derlei Deutungsverschränkungen. Als Menachem Begin 1982 den Libanonkrieg gegen die PLO damit begründete, dass »es kein Treblinka mehr geben wird«, war er auf öffentlichen Widerspruch gestoßen. Amos Oz antwortete mit den Worten »Hitler ist schon tot – Herr Ministerpräsident!« und der Kolumnist Boaz Evron warnte unter der Überschrift »Der Holocaust – eine Gefahr für die Nation« vor einer Gleichsetzung von arabischer Feindseligkeit und nationalsozialistischem Antisemitismus. Segev, Die siebte Million, 529. Auch der deutsch-israelische Historiker Dan Diner hatte wegen solcher Übertragungen nicht nur eine unzulässige Ausdehnung der Einzigartigkeit der Shoah befürchtet. In der Einpassung der Auseinandersetzung zwischen JüdInnen und AraberInnen in einen »ausweglosen, apokalyptischen Ausmaße annehmenden Weltgegensatz von Juden und Nichtjuden« sah er zudem die Ursachen des Konfliktes im Nahen Osten, der »die darin angelegten Chancen seiner Lösung ignoriert.« Dan Diner, Negative Symbiose, in: ders. Ist der Nationalsozialismus Geschichte?, Frankfurt a.M. 1987, 194.
Es ist diese Deutungsüberlagerung, die Burg mit seiner Wendung gegen »die Verknüpfung zwischen unserer traumatischen Vergangenheit und unserer schizophrenen Gegenwart« aufbrechen will. Sie führe sonst dazu, dass »Israel in einem ständigen Ausnahmezustand leben« muss, »weil jeder ein Nazi, jeder ein Araber ist, alle uns hassen und die ganze Welt gegen uns ist.« Insofern zielt Burg auch auf die Frage nach den Bedingungen einer jüdisch-israelischen Gegenwart, die im Nahen Osten nicht allein aus einer Legitimierung durch den Holocaust zu erwirken ist, sondern einer Anerkennung in der Region bedarf.
Dass Burg die Aufspaltung von jüdischer Vergangenheit und israelischer Gegenwart nur um den Preis der Universalisierung des Holocaust und der Rede vom »Holocaust an anderen« gelingt, verdeutlicht zugleich die Grenzen seiner historischen Urteilskraft. Im Jahrhundert der Massenverbrechen scheinen ihm derartige Differenzierungen kaum von Nöten. Sein wohlmeinender aber trügerischer Prophetismus erweist sich nicht nur als zweifelhaft, weil er dem Bemühen einer sinnstiftenden Wirkung des Holocaust entspringt und diesen als »eine Chance« für die Ausbildung einer neuen internationalen Moral und den Zusammenschluss des »jüdische[n] mit den anderen Völkern« begreift. Gerade weil Burg in einem gewandelten israelischen Verhältnis zum Holocaust die Bedingungen für eine israelische Existenz im Nahen Osten bestimmt, bleibt ihm versperrt, warum die israelischen Jüdinnen und Juden im Nahostkonflikt selbst noch das Fortwirken des Nationalsozialismus ausmachen. So droht er in seiner Darstellung noch die Realität von Palästina- und Nahostkonflikt in der Rede von der Geltung der israelischen Holocausterinnerung aufzulösen.
Gavrons und de Winters düstere Aporien
Die komplexe Struktur der israelisch-arabischen Auseinandersetzung ist auch Gegenstand der neuen literarischen Arbeiten des niederländisch-jüdischen Autors Leon de Winter sowie des Tel Aviver Schriftstellers Assaf Gavron. Unabhängig von ihrer Form und der zeitlichen Differenz beider Dystopien, de Winters Das Recht auf Rückkehr nimmt das Jahr 2024 zum Ausgangspunkt seiner Darstellung, Leon de Winter, Das Recht auf Rückkehr, Zürich 2009. Alle im Folgenden aufgeführten Zitate de Winters stammen aus dem Buch. Gavron hingegen verlegt die Handlung von Hydromania in das Jahr 2067, Assaf Gavron, Hydromania, München 2009. Alle im Folgenden aufgeführten Zitate Gavrons stammen aus dem Buch. machen beide eine düstere Zukunft des jüdischen Staates zum Hintergrund ihrer Erzählung. Während de Winters Israel sich auf einen kleinen Stadtstaat rund um Tel Aviv zusammengedrängt findet, bleibt in Gavrons nicht weniger Furcht erregendem Szenario allein das im Norden gelegene Cäsarea die einzige Großstadt des Staates, der ebenso umringt von einem palästinensischen Gegner ist.
Diese literarischen Zeitdiagnosen legen damit aber nicht nur trauriges Zeugnis von der allseits verspürten Fortsetzung der Gründungskonflikte der israelischen Gesellschaft bis in die Gegenwart ab, sondern spiegeln ebenso die schon von Arendt verspürte Furcht vor der Instabilität der Bedingungen zur Aufrechterhaltung der israelischen Existenz als jüdischem Staat. Gerade Gavrons Text hebt auf dessen Abhängigkeit von äußerer Unterstützung ab, wenn er mit der fiktiven Konstellation einsetzt, dass China zur »beherrschenden Weltmacht« aufgestiegen sei, die »einen Pakt mit ihren asiatischen Nachbarn und den arabischen Staaten« geschlossen hatte, und für die »der Nahe Osten und der anhaltende Konflikt weder von Interesse noch für seine strategische und wirtschaftliche Position von Belang [war]. Vor diesem Hintergrund begannen die Palästinenser (…) den endgültigen Krieg um Jerusalem.« Auch angesichts gegenwärtiger Spannungen im israelisch-amerikanischen Verhältnis dürften derlei Ausführungen in der Tat beunruhigend wirken. Das gilt nicht weniger für de Winters Recht auf Rückkehr, das ein Israel zeichnet, das bei aller zunehmenden Militärisierung der Gesellschaft, dem jährlichen Dienst an der Waffe bis ins Alter von 55 Jahren, sowie einem Gentest an der Grenze, der die jüdische Herkunft jedes Einreisenden garantieren soll, eine zumindest innere Sicherheit des »Ghetto von Tel Aviv« nicht zu garantieren vermag.
Jenseits der Warnung vor einer dramatischen Zukunft kommt beiden Büchern aber auch wegen ihrem Bemühen um eine Reflexion über Struktur und Genese von Palästinafrage und Nahostkonflikt eine Bedeutung zu. Dass Gavron die Handlung seiner literarischen Konstruktion in das Jahr 2067 verlegt, wird doch vor allem als Verweis auf das Jahr 1967 mit dessen Zentrum des Juni-Krieges entschlüsselbar. Und auch die Rede von der Wiedervereinigung Jerusalems, »diesmal aber unter palästinensischer Flagge« verweist auf 1967 zurück. Nirgends geschieht dies aber deutlicher, als in der rückblickenden Bewertung, dass der Staat wegen der Kriegsergebnisse »auf dem Höhepunkt seiner Ausdehnung und Macht« war. So spricht aus Gavron eine Haltung, die nicht allein in den Ereignissen des Jahres 1967 und der israelischen Besetzung von Territorien, sowie der Annexion Jerusalems, den Ausgangspunkt des Palästinakonflikts ausmacht. Aus der Perspektive eines israelischen Linken geschrieben, kommt dies vielmehr der Aufforderung einer israelischen Rückkehr zu den Grenzen des 4. Juni 1967 gleich.
Auch Leon de Winter rekurriert in seinem Roman auf die Folgen des Sechstagekriegs. Wird doch erst die Patrouille in den besetzten Gebieten für de Winters Protagonisten Bram Mannheim zum Ausgangspunkt seiner Ausbildung zum postzionistischen Historiker und der politischen Reflexion über den Nahostkonflikt. Deshalb wird 1967 aber nicht zum Anfang der Darstellung des Konflikts, sondern allenfalls zum Spiegel der Ereignisse der Jahre 1947/48 und der Erkenntnis vom unauflösbaren Gegensatz zwischen dem Ansinnen einer jüdischen Nationalstaatsgründung und der vorgefundenen palästinensisch-arabischen Bevölkerung. Noch im Tel Aviv des Jahres 2024 rekurriert de Winters Protagonist auf die »tragische Geschichte dieses Landes: Der jüdische Traum von der Rückkehr in das Land der Vorväter hatte bei den palästinensischen Arabern genau den gleichen Traum erzeugt. [...] Er hatte noch irgendwo ein Manuskript, in dem es um die Staatsgründung ging – die Araber nannten sie die nakba, die Katastrophe.« So konkurrieren zwei unterschiedliche und unterschiedlich begründete Rechte auf Rückkehr miteinander.
Durch die ständige Bezugnahme auf die Wirkung und Nachwirkung der nationalsozialistischen Judenvernichtung in der Person Hartog Mannheims, Brams Vater, macht de Winter zudem jenes protozionistischen Selbstverständnis zum Gegenstand, dass allein in der Realisierung jüdischer Souveränität im jüdischen Staat eine adäquate Reaktion auf die vergangenen Grauen zu erkennen vermag. Vielleicht lässt de Winter Hartog Mannheim auch deshalb die unlängst durch den Historiker Benny Morris verwandte Sprache annehmen, dass eine vollständige Vertreibung der palästinensischen AraberInnen aus dem israelischen Kernland im Rahmen des israelischen Staatsgründungskrieges bei aller Einsicht in das damit erfolgte Unrecht dennoch die Voraussetzung für eine nachträgliche Friedensperspektive im Nahen Osten geboten hätte. Bram wiederum entgegnet dem Vater, »dass du zu weit gehst, dass du durch das, was du mitgemacht hast, zu hart urteilst.« Weil Bram, bei aller Hingabe zu seinem Vater und selbst mit den Ängsten der Zweiten Generation konfrontiert, in der Bezugnahme auf den Holocaust keine israelische Legitimität erkennt, die zugleich eine Lösung der Palästinafrage ermöglicht, wird er damit zum Repräsentanten jener schon von Arendt verspürten Aporie. Weit über diese hinaus, geht es de Winter in seiner Beschreibung des Widerspruchs zwischen der Position des Post-Zionisten Bram (der auf einer Lösung der Palästinafrage auf der Grundlage gegenseitiger Anerkennung beharrt) und seinem Vater (der allein in der Sprache von militärischer Drohung und Gewalt die Sicherung der eigenen Existenz garantiert sieht) doch vor allem darum, dass dieser Gegensatz vor dem Hintergrund einer sich zunehmend islamisierenden arabischen Lebenswelt hinfällig geworden ist. Denn in dem Maße, in dem die AraberInnen sich auf der Grundlage religiöser Vorstellungswelten einer Anerkennung Israels seines bloßen Daseins wegen verweigern, bleibt auch all jenen israelischen Jüdinnen und Juden, die um der Bedingung ihrer Anerkennung willen, um eine Selbstkritik von Genese und Gegenwart der eigenen Nationalstaatlichkeit bemüht sind, letztlich wegen des Verlusts von VerhandlungspartnerInnen jegliche Perspektive versperrt. Oder in der Sprache Hartog Mannheims: Wenn den AraberInnen »der Koran viel wichtiger als das Bürgerliche Gesetzbuch« ist, dann sieht sich ebenso die Perspektive einer Zweistaatenlösung, wie die Hoffnung Hannah Arendts auf die gegenseitige Anerkennung in einer übernationalen föderativen Struktur negiert. Dass Bram Mannheim, bei aller Einsicht in den Wandel von Palästinafrage und Nahostkonflikt zu einem sakral aufgeladenen Gegensatz, darauf dennoch mit der Forderung nach einem Friedensschluss »mit den Palästinensern« reagiert, legt freilich Zeugnis davon ab, dass sich die unterschiedlichen Ebenen des Konflikts nicht ineinander auflösen lassen – auch darin liegt der aufklärerische Gehalt von de Winters Roman. Bei allem Vorrang der Kritik an der radikal-islamischen Aufladung des Konflikts, verschwindet dessen spezifisch nationale Dimension nicht. In literarischer Form erscheint damit, was der Historiker Dan Diner angesichts einer mit der Islamisierung einhergehenden antisemitischen Aufladung als Lösung des gordischen Knotens im Palästinakonflikt bezeichnet hat: eine Perspektive, die sowohl den Antisemitismus zu bekämpfen sucht, als ob es den arabisch-jüdischen, israelisch-palästinensischen Konflikt nicht gäbe; zum anderen alles zu unternehmen, um ebenjenen Konflikt einer beiden Seiten zuträglichen Lösung zuzuführen – so, als gäbe es den Antisemitismus nicht. Dan Diner, Der Sarkophag zeigt Risse. Über Israel, Palästina und die Frage eines neuen Antisemitismus, in: Doron Rabinovici u.a. (Hrsg.), Neuer Antisemitismus. Eine globale Debatte, Frankfurt a.M. 2004, 310–329, hier 329.
Dass die Bedingung einer gegenseitigen Anerkennung im Nahen Osten wegen jener muslimisch-arabischen Delegitimierung Israels kaum gegeben ist, berührt deshalb zwar die Voraussetzungen, nicht aber die Notwendigkeit, eigenständige, mit der Palästinafrage verbundene Lösungen in den Blick zu nehmen. Auch eine wohl meinende und sich in Solidarität zu den Opfern des Holocaust und der israelischen Jüdinnen und Juden verstehende antideutsche Linke, die dies übergeht, droht sonst einen Beitrag dazu zu leisten, Jüdinnen und Juden »noch einmal aus der Realität« hinauszuführen.
~Von Jorge L. Falkson. Der Autor lebt in Leipzig.