Zwei Jahre nach der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution von 1917 veröffentlichen Nikolai Bucharin und Jewgeni Preobraschenski Das ABC des Kommunismus. Von der Sowjetmacht und militärischen Fragen über die neue Gerichtsbarkeit, Schulen und Religion bis zur Struktur der einzelnen ökonomischen Bereiche, Wohnungsfragen, sozialer Sicherheit und dem Gesundheitssystem wurde dort alles behandelt, was es in der neuen Ordnung zu organisieren galt. Das Buch war zugleich Agitationsschrift, Programm und Bestandsaufnahme. Der Kommunismus war eine wirkliche Bewegung und die mit ihm verbundenen Probleme drängten sich auf.
Heute, neunzig Jahre später, ist das alte ABC des Kommunismus nur noch ein historisches Dokument. Der tatsächliche gesellschaftliche Prozess, auf den es sich bezog, ist Vergangenheit. Was aber heißt es dann, wenn Alain Badiou in der Ankündigung zum Ende Juni in Berlin stattfindenden Kongress Die Idee des Kommunismus behauptet, »dass es inzwischen möglich ist, in den Debatten, die zugleich das historische Schicksal der Menschheit und die Normen kollektiver Handlung betreffen, dem Wort ›Kommunismus‹ seine ganze Bedeutung zurückzugeben«?
Nun, es bedeutet nicht viel. Der Schwerpunkt dieser Ausgabe beantwortet nicht die Frage nach den konkreten Prozessen, die heute auf den Kommunismus hinweisen. Scheinbar eine Frage von Dringlichkeit angesichts der aktuellen Krise des Kapitalismus, in der selbst ein kapitalistisches Zentrum, wie die EU, Sorge haben muss, gefährlich ins Wanken zu geraten. Die folgenden Texte aber beantworten ganz überwiegend die Fragen nach den Bestimmungen des Kommunismus und einer Programmatik nicht. Sie sind Ausdruck einer Katastrophe, die Sebastian Tränkle in diesem Heft nach dem Protokoll eines Gesprächs zwischen Ernst Bloch und Theodor W. Adorno als »seltsame Schrumpfung des utopischen Bewusstseins« charakterisiert.
Dass dieses Problem empfunden wird, zeigen die Texte der Ausgabe dafür umso deutlicher. Mehr als einmal wird darauf hingewiesen, dass das als Schweigegebot interpretierte alttestamentarische Bilderverbot, in dieser überzogenen Form aufgegeben werden muss. »Wir verbieten uns das Reden über den Kommunismus nicht länger«, heißt es sinngemäß immer wieder. Doch auf diese trotzig vorgebrachte Ankündigung folgt leider nichts. Die Bereitschaft wieder über den Kommunismus als aktuelles Vorhaben zu sprechen, schlägt in eine geradezu brüllende Sprachlosigkeit um.
Wir wollen recht verstanden werden: Hier kritisiert nicht eine Redaktion ihre AutorInnen. Wir stellen vielmehr fest, dass wir trotz gegenteiliger Parolen in einer Zeit leben, in der der Kommunismus keine Wirklichkeit mehr hat. Der Kommunismus hat nicht nur aufgehört, eine wirkliche Bewegung (im Sinne eines gesellschaftlichen Veränderungsprozesses) zu sein. Er hat nicht nur seine reale Bewegung (im Sinne von politischen Subjekten, die ihn anstreben) und damit seine Basis verloren. Der Kommunismus hat mittlerweile sogar aufgehört, als eine Idee zu existieren. Der Kommunismus ist heute in dem Sinne kein Ideal einer freien Gesellschaft ohne Ausbeutung und Unterdrückung mehr, sofern niemand mehr weiß, was diese einst sinnvolle Kombination von Begriffen bedeuten soll.
Im Laufe des letzten Jahres haben Prokla und Arranca! jeweils Ausgaben zum Sozialismus veröffentlicht, die auch auf die Beschreibung einer nachkapitalistischen emanzipierten und freien Gesellschaft gerichtet waren. Der Verzicht auf die Bezeichnung »Kommunismus«, unter der wir die vollständige Aufhebung der Ausbeutung und Unterjochung von Menschen durch Menschen verstehen, hätte es noch leichter machen müssen, konkrete Anknüpfungspunkte zu finden. Schließlich ist »Sozialismus« der Name jener berüchtigten Übergangsgesellschaften, in denen der Kapitalismus noch fortwirkt, obwohl er formal abgeschafft wurde. Im Sozialismus sind die Formen der Ausbeutung und Unterjochung noch vorhanden, wenn ihnen auch die Spitze genommen worden sein soll.
Im Sozialismus sind Familie und Fabrik nicht anders als im Kapitalismus, aber das Mehrprodukt gehört dem Staat, der es zur Reproduktion der Arbeitenden für Kindergärten, Schulen und Ferienanlagen verwenden kann, wenn er es nicht zur militärischen Abwehr äußerer Feinde oder zur Bespitzelung und Verfolgung der als unzuverlässig geltenden Bevölkerung verbraucht. Warum radikale Linke sich so etwas heute wieder wünschen, verstehen wir – ehrlich gesagt – nicht. Aber es ist bezeichnend, wohin auch die Fragen nach einer solchen bewusst am heute Mach- und Vorstellbaren orientierten Zukunftsvorstellung führen. Die Beiträge der Prokla 155 (2/2009) sind historisch oder legen Marx aus. Allein ein einziger Beitrag schlägt vor, eine sozialistische Zukunft zu denken. Christian Siefkes Modell der Peer-Produktion fordert die Wikipediasierung der Gesellschaft. Eine Vision, der Roswitha Scholz außerhalb des Schwerpunktes in diesem Heft mit Recht vorwirft, nur an lokaler und kleinteiliger Produktion orientiert zu sein (»small is beautiful«), ohne die Dimension der heute wirksamen gesellschaftlichen Arbeitsteilung zu erfassen.
Noch deprimierender fällt die Lektüre der Nummer 41 der Arranca! (1/2010) zu Transformationsstrategien aus. Auch hier gibt es einen Beitrag zur Peer-Produktion. Ansonsten aber wird uns geraten, Teil des Staates zu sein, die Bolivarianische Revolution in Venezuela zu diskutieren und vielfältig zu wirtschaften. Wie sich das alles zu einer »revolutionären Realpolitik« fügen soll, erklärt Mario Candeias leider frühestens in der Arranca! 42.
Aber zurück zur Phase 2. Die hier repräsentierte Strömung der radikalen Linken mag in ihrer Kritik des Sozialismus und ihrer Absage an eine Reform des Kapitalismus entschiedener sein. Und doch: Jeden Zustand aufzuheben, indem der Mensch ein geknechtetes, ein unterdrücktes Wesen ist, bleibt auch bei ihr nicht mehr als ein frommer Wunsch. Das aber ist eine wahrhaftige Katastrophe, denn es zeigt, dass es derzeit keine wahr- und ernst genommene linke Vorstellung zur Überwindung des Kapitalismus gibt.
Die Katastrophe besteht – genauer gesagt – darin, dass der Kapitalismus nicht das Ende der Geschichte sein kann. Das Elend, das er produziert, ist nämlich nicht nur erdrückend, sondern wächst auch noch stetig weiter. Er wird deshalb dauerhaft von Gegenbewegungen angegriffen werden. Und wo diese keine radikalen linken Gegenbewegungen sind, da sind es reaktionäre. Der Antikapitalismus wird nicht aussterben, aber ohne eine kommunistische Perspektive, wird es ein reaktionärer, schlimmstenfalls sogar ein barbarischer Antikapitalismus sein. Statt eines Auswegs aus Ausbeutung und Unterdrückung gibt es schon heute antikapitalistischen Terror und direkt erfahrbare Tyrannei als Alternativangebote zum gesichtslosen Zwang der Ökonomie.
Die Katastrophe, die das Verschwinden des Kommunismus in der Gegenwart darstellt, zu benennen, ist das eine. Auf sie zu reagieren, ist das andere. Die Aufgabe der Zeitschriften und ihrer AutorInnen kann in diesem Zusammenhang nur darin bestehen, den Kommunismus wieder zu thematisieren, seine Idee zu debattieren und Möglichkeiten seiner Verwirklichung diskutierbar zu machen. Wenn das heißt, dass heute zunächst einmal die Stichhaltigkeit des Bilderverbots bestritten werden muss, dass mit Bezug auf die historischen Versuche eine kommunistische Gesellschaft zu errichten, deren Fehler analysiert werden müssen, ohne die Ergebnisse direkt in ein Programm umsetzen zu können, wenn die Visionen heute nur literarischer Natur sein können – dann ist es anscheinend leider so. Dann sind diese Diskussionen zu führen als Ausgangspunkt für soviel mehr, das nötig bleibt.
In diesem Sinn beginnt der Schwerpunkt dieser Ausgabe mit »Spinner, Utopisten, Antikommunisten«, einem Beitrag der Gruppe [pæris] aus Berlin, der nicht nur die Übertretung des Bilderverbots fordert, sondern auch systematisch dessen Begründungen durch programmatische Thesen kontert. So wird das Schweigen über den Kommunismus zwar nicht gebrochen, aber die eigene Sprachlosigkeit zumindest von ihren Rationalisierungen befreit.
Was dereinst das Sprechen über den Kommunismus zu leisten haben wird, zeigt Rüdiger Mats' »Ich bring' schon mal den Müll raus – Probleme gesellschaftlicher Integration im Übergang«. Den Traum einer gesellschaftlichen Reproduktion, die sich dank des Produktivitätsfortschritts vollautomatisch oder zumindest konfliktfrei organisieren ließe, träumt er nicht. Auch dass die Menschen plötzlich ungeliebte Tätigkeiten gerne tun oder eine höhere Moral entwickeln, so dass es wenigstens keines äußeren Arbeitszwanges mehr bedürfte, hält Mats für Wunschdenken. Was also tun, damit »die Einzelentscheidungen so beeinflusst werden, dass für alle etwas Sinnvolles herauskommt«? In dem Text werden die Möglichkeit eines marktförmigen Sozialismus und ein Vorschlag von Takis Fotopoulos diskutiert, der die Aufteilung der Menschheit in überschaubare Einheiten vorsieht. Weder die »Anbiederung an den Zeitgeist«, den Markt als einzige Möglichkeit zur Koordination komplexer moderner Gesellschaften anzusehen, noch die Vision von Fotopoulos überzeugt Mats. Die Vorbedingung für den Kommunismus ist deshalb eine schon jetzt zu findende Form der politischen Organisation, von der der Artikel aber nur als Aufgabe spricht.
Um die politische Organisation der Ökonomie geht es auch Reinhart Kößler in »Pläne mit Zukunft?«. Seine Skepsis gilt dabei der Planwirtschaft, die letztlich nichts anderes sei als die Ausweitung der despotischen Organisation der Fabrik auf die gesamte Gesellschaft. Das Fabrikmodell ist geprägt vom Zwang, der durch die Leitung des Betriebes und die Maschinen selbst mit ihren permanenten Anforderungen an die Arbeitenden und ihrem Takt verkörpert wird. Von freier Entfaltung des Menschen kann hier keine Rede sein. Diese Form der Unterdrückung, wie in der Planwirtschaft nach sowjetischem Modell, auf die gesamte Gesellschaft auszudehnen, ist folglich ein Widersinn, wenn der Kommunismus das Ziel sein soll. Kößler zieht aus seiner Analyse der Verhältnisse in der Planwirtschaft den Schluss, dass Kapitalismus und Markt nicht länger miteinander identifiziert werden sollen. Was Mats eine »Anbiederung an den Zeitgeist« ist, ist für ihn die eigentliche Aufgabe: Ein Modell politisch kontrollierter Märkte. Auch wenn gegen ein solches Modell immer wieder Einwände vorgebracht werden, Kößlers Problematisierung ökonomischer Planung wird von solchen Kritiken nicht aufgehoben.
Damit zeigt sie zugleich die Aktualität einer zunächst vor allem historisch erscheinenden Betrachtung des Schwerpunkts. In »Familie im Kommunismus« zeichnet Felicita Reuschling nicht nur die Spannbreite der Stellung zur Familie in der frühen Sowjetunion nach (die Haltungen gingen von der völligen Trennung der Kinder von ihren Eltern bis zur sich schließlich durchsetzenden Fortschreibung der aus dem Kapitalismus bekannten Familienstruktur). Die Autorin zeigt auch den Zusammenhang zwischen dem Fehlen einer eigenständig kommunistischen Position zur Familie und der Aussparung ihres Bereichs aus der ökonomischen Theorie. An dem so dargestellten Problem, einer fehlenden Auseinandersetzung mit der Familie und damit der Unangefochtenheit des bürgerlich-kapitalistischen Modells, hat sich bis heute nichts geändert.
Ebenfalls historisch geht Margarete Vöhringer dem Problem wissenschaftlicher Bereiche nach, die der Sowjetunion am zentralsten erschienen und offen diskutiert und reguliert wurden: Pädagogik, Arbeitswissenschaft und Eugenik. Sie zeigt die Folgen auf, die »die disziplinäre Verortung einer neuen Experimentalkultur für ein Verständnis von wissenschaftlichen Umbrüchen hat« und wie versucht wurde dem Soviet Burnout medizinisch vorzubeugen.
Die Historisierung des Kommunismus hat einen entscheidenden Vorteil und einen mindestens ebenso entscheidenden Nachteil. Der Vorteil ist, dass die Auseinandersetzung konkret geführt werden kann. Es ist keine Utopie, deren Verwirklichung fraglich ist und außerdem mit Sicherheit anders verläuft als geplant, die debattiert werden muss. Konzeptionelle Fehler offenbaren sich mit der Brutalität des historischen Faktums, sodass ihre Korrektur zum zwingenden Argument wird. Der Nachteil der Historisierung besteht darin, dass sie leicht die Utopie selbst als Fehler erscheinen lässt. Gegen diese Position aus dem konservativen und liberalen Lager argumentiert Sebastian Tränkle mit der »Unverzichtbarkeit utopischer Phantasie für radikale Kritik«. Der Text, aus dem hier bereits eine Formulierung wiedergegeben wurde, sucht die Domäne der Utopie in der Gegenwart und glaubt, sie vor allem in der Kunst zu finden, wo noch »eine kontemplative Tätigkeitsform« anklinge, »die sich von den zweckgebundenen Verwertungsimperativen der kapitalistischen Realität entfernt hat«.
Ob das die in der Kunstproduktion befangenen und dem Kunstmarkt ausgelieferten Subjekte auch so sehen, wissen wir nicht. Dietmar Dath jedenfalls steuert zu dieser Ausgabe einen Text bei, in dem über das Leben und Zusammenleben »In Freiheit« kontemplativ berichtet wird. Schade nur, dass auch diese Kontemplation mit einer entschiedenen Reserve endet.
Visionen aufzuschreiben bringt die AutorInnen leicht den Verdacht ein die von [pæris] im Titel des ersten Beitrags angesprochenen »Spinner« zu sein. Das Risiko ist umso größer, als es gegenwärtig kein Kollektiv gibt, das sich auch nur in den Grundausrichtungen des Kommunismus einig wäre. Das unter der Überschrift »Wie stellst Du Dir die befreite Gesellschaft vor?« versammelte Kollektiv ist folglich auch keins. Die Antworten reichen von der kategorischen Abwehr des Ansinnens (»Bilderverbot Punkt«) bis zur ganz konkreten Artikulation von Wünschen und Bedürfnissen (»Kinderbetreuung wird rund um die Uhr organisiert sein.«). Kunst ist das in keinem Fall, aber die mal ausgesprochene, mal rein inhaltlich bleibende Demonstration der Verstrickung in die Gegenwart, von der aus sich der Aufbruch in den Kommunismus vollziehen muss.
Aber was bedeutet es, von einem »Aufbruch in den Kommunismus« zu sprechen? In »Verweigerte Ankunft« fragt Bini Adamczak, was es in unserer Zeit »ohne Revolution« bedeutet den Kommunismus als Heimat zu fassen, von dem uns das Exil in der Gegenwart trennt. Über die erzählerische Figur des Exils befragt sie für uns die Geschichten von zwei Revolutionären, denen es 1917 nicht gelang aus dem Exil in der neuen, aber dann doch nicht ganz so neuen Gesellschaft ihrer Sehnsucht anzukommen. Ihr Glück, die Vorgeschichte der Menschheit (also die Zeit bis zum Eintreten des Kommunismus) im Moment ihres Todes bereits für abgeschlossen zu halten, kann ihnen niemand mehr nehmen. Trotz des Irrtums, den die erkannten, die weiter in der nicht-kommunistischen Gegenwart gefangen blieben.
Solange die Vorgeschichte der Menschheit andauert, kann der Kommunismus keine volle Existenz beanspruchen. Er mag mehr existieren als heute: zum Beispiel als Idee mit einem konkreten Inhalt oder als Versprechen einer Zukunft, für die es sich zu leben und zu kämpfen lohnt. In jedem Fall wird seine Existenz davon abhängen, dass und wie von ihm gesprochen wird. Der Kommunismus-Schwerpunkt dieser Ausgabe endet deshalb mit einem Beitrag von Robert Zwarg, in dem er das richtige Verhältnis von beredtem Schweigen und notwendiger Ausdrücklichkeit sucht. Dabei gilt es, der Falle eines bloßen Namens zu entgehen, der nur ins Leere weist und so das Denken still stellt.
In diesem Sinne: Für den Kommunismus! usw.
Phase~2 Berlin