Wir werden das Los jenes alten Revolutionärs erleiden, der nach 30 Jahren Exil in den Märztagen 1917 nach Petersburg zurückkam, in dem Chaos dort niemanden fand und einsam und verlassen in einem Hotelzimmer starb […]. Später erkannte man ihn!« Victor Serge, Erinnerungen eines Revolutionärs, Hamburg 1991, 361. Verschieben wir für einen Moment die Frage nach dem Wir (es ist die trotzkistische Linksopposition); sie stellt sich hier ohnehin zunächst nur aufgrund der zerschneidenden Zitation, und stellen wir andere Fragen. Ist es Zufall, dass der Revolutionär dieser Erzählung, die der Revolutionär und Schriftsteller Victor Serge in seiner Autobiografie erzählt, keinen Namen trägt? Dass er keinen Namen trägt, obwohl er doch später erkannt wurde – nicht von einer einzelnen Genossin oder einem wartenden Liebhaber, sondern von einem allgemeinen »man«: der Öffentlichkeit, der Revolution selbst vielleicht, mindestens aber von einer revolutionären Partei? Wurde er, der – später, zu spät – Wiedererkannte, wieder vergessen? Und warum? Ist er, obwohl er nicht unbekannt war, gerade als Unerkannter zur Figur, zum Bild geworden? Der unerkannte Revolutionär? Was ließe sich dann heute in dieser Figur erkennen – und von wem? Kommt dieser unbekannte Revolutionär »uns« unheimlich bekannt vor, können wir ihn …erkennen? Oder werden andersrum auch »wir« sein Los eines revolutionären Exils ohne Rückkehr teilen? Welche Fragen lassen sich an die Glieder dieser Erzählung – Revolution, Exil, Rückkehr, Einsamkeit, Sterben, Erkennen – stellen? Was erzählt die Geschichte dieses sterbenden Revolutionärs heute?
Walter Benjamin bestimmt den Sterbenden als eine beispielhafte Figur des Erzählers. Beide, der Sterbende und der Erzähler, werden im Lauf der Geschichte zurückgedrängt. Wie die als mündliche Tradierung verstandene Erzählung, so verschwindet auch das Sterben mit einer Moderne, die ihre Bürgerinnen in »Räumen, welche rein vom Sterben geblieben sind« zu »Trockenwohnern der Ewigkeit« macht und sie »wenn es mit ihnen zu Ende geht in Sanatorien oder Krankenhäusern verstaut.« Walter Benjamin, Der Erzähler, in: Ders., Aufsätze, Essays, Vorträge, Gesammelte Schriften, Bd. 2.2, 449. Im Sterbenden aber nahm die Erzählung deswegen ihre paradigmatische Gestalt an, weil nur der Sterbende sein Leben in Gänze erzählen kann. Das treffe, schreibt Benjamin in seinem Erzähleraufsatz, noch auf den ärmsten Schächer Schächer meint meist die ebenfalls erst im Sterben zu Aufmerksamkeit gelangten Räuber, die neben einem zu anderer Zeit recht populären Jesus an Kreuzen zu Tode gehängt wurden. zu. Das Sterben verleiht ihm für die Lebenden die unbedingte Autorität, letzte Worte sprechen zu können; weil er am Ende seines Lebens angekommen ist, kann er als einziger dessen fortsetzungslose Geschichte erzählen. Von hier aus lässt sich die finale weil nicht mehr zu mildernde Einsamkeit desjenigen ermessen, der im Sterben ein letztes Mal von seinem Leben sprechen will und – obwohl umgeben von geschäftigen Menschen – niemanden findet, der ihm zuzuhören bereit wäre.
Der sterbende Erzähler und die Freiheit zum Erzählen
Welche Geschichte hätte der verlassene Revolutionär seinen Genossinnen, die er im Chaos der Revolution nicht fand, erzählen wollen, welche Geschichte hätte er im Moment der Revolution, auf den er mindestens 30 Jahre im Exil gewartet hatte, erzählen können? Nach Vivian Liska Vivian Liska, Der leere Messianismus des Giorgio Agamben, Wien 2008. hat die Figur des sterbenden Erzählers ihre kollektive Analogie in der Universalgeschichte, die sich als ganze ebenfalls erst von ihrem messianischen Ende her erzählen ließe. In den geschichtsphilosophischen Thesen gibt Benjamin dieser Idee ihre herrschaftskritische Pointe. Erst der erlösten Menschheit falle ihre Vergangenheit in Gänze zu und werde in »jedem ihrer Momente zitierbar.« Walter Benjamin, Thesen über den Begriff der Geschichte, in: Ders., Sprache und Geschichte. Philosophische Essays, Stuttgart 1992. Denn erst sie braucht die Geschichte nicht mehr als eine der Siegerinnen – aber auch nicht mehr als eine Gegengeschichte der Besiegten – zu erzählen. Die Universalgeschichte hörte also erst in dem Moment auf, Ideologie zu sein, in dem die Geschichte, das heißt die Vorgeschichte, zu ihrem Ende kommt. Dieser Moment aber ist die Revolution. Sterbend hätte der namenlose Revolutionär also zum Erzähler der Vorgeschichte werden können, die er dann mit sich ins Grab genommen hätte. Seine im Abschied begriffene Zuhörerinnenschaft hätte bereits zu staunen begonnen, angesichts des ihnen anvertrauten Lebens in vorrevolutionären Zeiten, das so unerhörtes Leiden mit sich brachte. Durfte der namenlose Revolutionär diese Geschichte der Vorgeschichte nicht erzählen, weil sie noch nicht beendet und somit auch nicht seine war? Weil es mit ihm zu Ende ging, nicht jedoch mit der Vorgeschichte der Menschheit, nicht mit der vorrevolutionären Geschichte der Revolutionäre? Obwohl die Zukunft bereits begonnen hatte, hörte die Vergangenheit noch nicht auf, Gegenwart zu bleiben. So überlagerte die Erzählung seines Sterbens diejenige seines Lebens und was von diesem Geschichte wurde, war einzig sein Ende. Indem er ohne zu erzählen starb, reichte der Revolutionär die Geschichte der Vorgeschichte an nachfolgende, noch unbekannte Revolutionärinnen weiter. Dort wartet sie noch immer auf ihr Ende, das es erlauben würde, sie zu erzählen.
Die Geschichte des unerkannten Revolutionärs erzählt Victor Serge in seinen zuerst 1951 erschienenen Erinnerungen eines Revolutionärs. Ihm selbst wurde sie 1936 weitergegeben, in Orenburg, einer Stadt am Uralfluss, auf der Grenze zwischen Europa und Asien, wohin die stalinistische Regierung Serge zusammen mit anderen Linksoppositionellen verbannt hatte. Der trotzkistische Genosse, der die Geschichte Serge am Tag seiner Abreise mit auf den Weg gab, hatte sie mit folgenden Worten eingeleitet: »Die Überlebenden unter uns werden alt, vergessen und überholt sein an dem Tag, wo für Russland eine neue Freiheit dämmern wird.« Serge, Erinnerungen, 1991, 361. Doch die Geschichte ließ sich länger Zeit, als es der Revolutionär in seinem traurigsten Traum zu hoffen wagte. Die Freiheit, die er meinte, erlebten die Genossinnen in Russland nicht alt, vergessen und überholt, sondern gar nicht. Die Trotzkistinnen, das heißt diejenigen, die wirklich welche waren, nicht die Stalinistinnen, die unter falscher Anklage hingerichtet wurden, erfuhren nach Stalins Tod 1953 keine Rehabilitation; unnötig hinzuzufügen, dass auch 1990 sie der gemeinten Freiheit nicht näher brachte.
In Robert Cohens 2009 erschienenen Roman Exil der frechen Frauen ist es ein aufgewühlter Walter Benjamin, der von einer Störung des Internationalen Schriftsteller-Kongresses zur Rettung der Kultur berichtet, der als eine antifaschistische Mobilisierungsveranstaltung 1935 in Paris fünf Tage lang alle namhaften Schriftstellerinnen des deutschen Exils, der französischen Linken, der sowjetischen Repräsentation zusammenführte. Am letzten Kongresstag hatten ein »paar trotzkistische Chaoten«, wie sich Benjamin laut Cohen ausdrückte, die Veranstaltung mit »Vic-Tor-Serge«-Sprechchören gesprengt. Wer von der Gestapo spreche, dürfe von der GPU nicht schweigen, sei gerufen worden. Aber die kommunistische Schriftstellerin Anna Seghers hätte die Debatte mit dem geradezu klassischen Hinweis beendet, angesichts des Faschismus sei die übertriebene Kritik der Sowjetunion objektiv konterrevolutionär. Der durch die französischen Schriftstellerinnen aufgebaute internationale Druck reichte dennoch. Victor Serge, der 1890 als Kind exilierter russischer Revolutionäre in Brüssel geboren und nach der Oktoberrevolution nach Petrograd gegangen war, verließ die Sowjetunion 1936, rechtzeitig vor dem Großen Terror, dem er vermutlich zum Opfer gefallen wäre. Bis zu seinem Tod kehrte er nicht mehr in die Sowjetunion zurück.
Der unerkannte Revolutionär aus Serges Erzählung aber hoffte, sein dreißigjähriges Exil beenden zu können, als die antizaristische Revolution, die er mit vorbereitet hatte, im Februar 1917 ausbrach. Doch obwohl er in ein neues Russland zurückkehrte, kehrte er nicht heim; obwohl er das Ziel seiner langen Reise erreicht hatte, kam er doch nicht an. Wie oft wird er sich diese Ankunft ausgemalt haben? Aber inmitten einer aus der Erinnerung vertrauten Stadt und einer aus den Träumen vertrauten Revolution bleibt er fremd. Unterhalten Revolutionärin und Exilierte hier nicht eine Beziehung der Verwandtschaft? Hat die Geschichte der Revolution gar nachträglich alle Revolutionärinnen nach dem Bilde dieses Namenlosen zu Exilierten gemacht, zu Fremden in der andauernden Gegenwart eines »Spätkapitalismus«, der es verweigert, seine lange letzte Phase zu beenden? Ernst Bloch, als habe er die Figur des romantischen Kommunismus in lexikalische Form meißeln wollen, gibt im Schlusswort seines Prinzip Hoffnung folgende Antwort: »Der Mensch lebt noch überall in der Vorgeschichte, ja alles [...] steht noch vor Erschaffung der Welt, als einer rechten. Die wirkliche Genesis ist nicht am Anfang, sondern am Ende, und sie beginnt erst anzufangen, wenn Gesellschaft und Dasein radikal werden, das heißt sich an der Wurzel fassen [...]. Hat der Mensch sich erfasst und das Seine ohne [...] Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.« Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Band 3, Frankfurt a.M. 1973, 1628. Aber ist die Revolution in diesem Bild als Rückkehr richtig bedeutet oder ist sie nicht vielmehr Aufbruch? Freudiger und zugleich ein wenig wehmütiger Abschied – »es war nicht alles schlecht im Kapitalismus«? Welche Affektivität verbände sich im einen oder anderen Fall mit dem revolutionären Exil/Exit? Lässt sich Heimweh nach einem niemals besuchten Ort empfinden? Oder Fernweh gegenüber der »Rückkehr des Menschen für sich als eines gesellschaftlichen, d.h. menschlichen Menschen«, der »letztlichen Lösung des Rätsels der Geschichte« als die Marx den Kommunismus auch mal definierte? Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, Marx-Engels-Werke (MEW), Ergänzungsband, 1536. Könnte der Kommunismus beides sein, zugleich fremd, weil nie zuvor erlebt, und vertraut, weil endlich nach den zu lange missachteten Bedürfnissen eingerichtet? Unbekannt und doch wiedererkennbar?
Revolution und Gegenwart
Welches Verhältnis werden die exilierten Revolutionärinnen andersrum gegenüber dem Exil entwickeln, das die Gegenwart ist? Wird ihnen die allzu bekannte Welt, die sie mit ihrer stetigen Langeweile belästigt, nicht zugleich unnahbar fremd werden, zuweilen belustigend seltsam, zuweilen unverständlich ver-rückt? In einer intellektuellen Renaissance des Christentums, die von Theoriestars der globalen Unilinken vor wenigen Jahren ausgerufen wurde, fand beispielsweise Giorgio Agamben folgende Sätze eines gewissen Paulus zitierwürdig: »Fortan müssen die da weinen, sein, als weinten sie nicht, und die sich freuen als freuten sie sich nicht, und die diese Welt gebrauchen, als gebrauchten sie sie nicht.« Zitiert nach Vivian Liska, Messianismus, 208. Eine revolutionstheoretische Säkularisierung dieses messianischen Als-ob-nicht bietet sich ebenso an wie eine Übertragung der Figur des Exils von einer räumlichen in eine zeitliche. Aber welche historische Konstellation wird in diesem heutigen Rekurs auf eine zweitausend Jahre alte theologische Geste zum Ausdruck gebracht und was teilt sie von dieser Gegenwart mit? Vivian Liska kommentierte, Giorgio Agambens »leerer Messianismus« sei eine schillernde Antwort auf die Frage, ob nach »den gescheiterten Revolutionshoffnungen des 20. Jahrhunderts [...] radikales Denken noch möglich und welcher Preis dafür zu entrichten ist.« Ebd, 5. Preis der Entleerung? Verzicht auf kompromissbehaftete Politik und Handlung zugunsten radikalen Denkens und Haltung? Die Nähe des von Agamben reaktualisierten Als-ob-nicht zu Adornos Forderung, »alle Dinge so zu betrachten, wie sie sich vom Standpunkt der Erlösung aus darstellten«, Theodor W. Adorno, Minima Moralia, Frankfurt a.M. 1970, 333ff. lässt danach fragen, ob nicht bereits in der marxistischen Kritischen Theorie Spuren dieser Entleerung auffindbar sind, welche von den Schwierigkeiten zeugen, die Revolution zumindest weiter zu denken – nach deren Scheitern. Bereits 1919 betrachtete es Marcuse als Aufgabe der Philosophie, die Frage zu beantworten: »Was geschieht nach dem Scheitern der Revolution?« (zitiert nach Hanning Voigts, Entkorkte Flaschenpost. Herbert Marcuse, Theodor W. Adorno und der Streit um die Neue Linke, Berlin 2010, 95) und in der Einleitung der Negativen Dialektik 1966 wird dieser Gedanke programmatisch: »Philosophie, die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward« (Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt a.M. 1966, 15). Unter der historischen Bedingung der Abwesenheit einer tatsächlichen politischen Alternative wird die kontrafaktische Anrufung der Revolution zur theoretischen Bedingung, um nicht vor der Macht des Faktischen, die sich der Anschauung allseitig aufdrängt, zu kapitulieren. Die Revolution wird zum Garanten einer historisch aufgeschobenen Vernunft, die eine in ihrer Radikalität von gegenwärtiger Praxis ungedeckte Kritik der Gesellschaft davor bewahrt, das zu werden, was ihr der reaktionäre Realismus vorwirft: kindliche Träumerei, Irrsinn. Die theoretische Rettung der Revolution nach ihrem praktischen Scheitern tendiert aber zugleich dazu, den Begriff der Revolution zu versehren, ihn mit den Bedingungen der Niederlage zu beschweren.
Auch dieser Text steht in jener Gefahr, indem er die zur Figur verdichtete oder sogar mit bestimmtem Artikel versehene Revolution in Beziehung setzt zu ähnlich abstrakten Wortbildern: Vorgeschichte, Menschheit, Exil, Traum, Zukunft usw. Es lohnt, danach zu fragen, welche historischen Erfahrungen in einer Sprache zugleich reflektiert und konserviert werden, die Kommunismus zur Heimat oder dem ganz Anderen, zur Erlösung oder Versöhnung macht. Während die Leere des Kommunismus aber in seiner Funktion als indeterminierter Signifikant oder als negatives Ideal einen gewissen Halt findet, wird die Revolution, als Mittlerin zwischen Reich der Notwendigkeit und Reich der Freiheit, immer von den schmutzigen Bedingungen der Wirklichkeit heimgesucht, die sie verändern soll. Die bebildernde Übersetzung von Revolution in Stillstellung, Bruch, Notbremse klingt nach Radikalität, Kompromisslosigkeit, Unbedingtheit, könnte es aber zugleich erschweren, die Situation zu erkennen, in der die praktische Revolution sich anschickt, ihren theoretischen Statthalter abzulösen. Wirkliche Revolutionen, das lässt sich mit neuerer sozialgeschichtlicher Forschung z.B. zur russischen Revolution sehr deutlich zeigen, Orlando Figes, Die Tragödie eines Volkes. Die Epoche der Russischen Revolution 1891 bis 1924, Berlin 2008. entziehen sich als ungleichzeitige, auseinanderdriftende, mikropolitische, missverständliche usw. den großen Bildern, zu deren Anfertigung nicht zuletzt sie selbst animiert haben. Schon aufgrund ihres Scheiterns kann sich die Theorie der Revolution nicht darauf beschränken, die historische Revolution bloß nachzuvollziehen, aber es reicht auch nicht, weiter in den Raum der Abstraktion vorzustoßen, um über diese hinauszugehen.
Eine Geschichte, erzählte uns Benjamin, lässt sich erst erzählen, wenn ihr Ende (der Erzählerin) bekannt ist. Aber wie lässt sich eine Geschichte noch erzählen, deren Ende (den Zuhörerinnen) bereits bekannt ist? Robert Cohen lässt schon auf den ersten Seiten seines (post)historischen Romans einen Dialog zwischen zwei kommunistischen Schriftstellerinnen mit folgenden Worten enden: »Ich sehe vor uns zwei große literarische Karrieren, sagt Maria Osten, wir schaffen das, wir werden berühmt. Ruth Rewald, deren literarische Karriere in Auschwitz ebenso vorzeitig enden wird wie die von Maria Osten in der Sowjetunion [durch Exekution], nickt heiter.« Robert Cohen, Exil der frechen Frauen, Berlin 2009, 15. In seinen geschichtsphilosophischen Thesen polemisiert Walter Benjamin gegen die Empfehlung eines Historikers, die Chronistinnen einer spezifischen Epoche hätten sich alles, was sie über den späteren Verlauf der Geschichte wüssten, aus dem Kopf zu schlagen. Tatsächlich schlüge angesichts des enttäuschenden Endes so vieler hoffnungsvoller Anfänge, die Forderung, sich dumm zu stellen, in jene um, böse zu werden. Doch Robert Cohen schwankt: »Wie dieses Ende verschweigen, auch wenn es an jenem Vormittag [...] undenkbar schien. Und wie es sagen, ohne dass der Eindruck entsteht, es hätte nur so und nicht anders kommen können?« Ebd., 61. Lässt sich eine Geschichte von ihrem Ende her erzählen, ohne dass alles in ihr von einem auf dieses Ende bezogenen Fatalismus angesteckt würde? Erzählen wir die grausamsten unserer Geschichten nicht auch in dem Wunsch, in ihnen die Möglichkeit für ein anderes Ende zu entdecken? Und ist es nicht zugleich entlastend, dass wir individuell nichts anderes hätten tun können, und belastend, dass kollektiv nichts anderes hätte getan werden können? Beides: Gegen die Revision auf das Geschehene insistieren und zugleich gegen die Resignation danach verlangen, zu insistieren, es ungeschehen zu machen. Viel hängt ab von der Anordnung dieser beiden Sätze: Es hätte nicht passieren müssen. Aber es ist passiert. Es ist passiert. Aber es hätte nicht passieren müssen.
Cohen selbst erzählt sämtliche Handlungen seines Romans im um jeweils wenige Tage oder Wochen verschobenen Rückblick der meist reisenden Hauptprotagonistinnen. Alles, sagt uns die gewählte Form, ist immer schon geschehen, nur noch zu reflektieren, nur noch zu erinnern. Auch die Romanfiguren scheinen von dem Wissen der Schriftstellerin um ihr Ende ereilt zu werden. Die Aufregung des Aufstands wird ausgelassen. Als wolle Cohen uns die (Mühsal der) Hoffnung ersparen. Die Erzählung scheint so von der Geschichte heimgesucht zu werden, die Cohen folgendermaßen charakterisiert: »Die Geschichte weiß, wie alles ausgegangen ist. Dass es auch anders hätte ausgehen können, gilt ihr nichts. Aber die Lebenden wissen das nicht, sie haben die Wahl und wählen, umstellt von Anforderungen und Zwängen, aber sie wählen, und die Summe aller Entscheidungen ist dann die Geschichte, aus der alle Alternativen verschwunden sind.« Ebd., 243. Doch wer ist diese Geschichte, die hier in personalisierter Form, als wissendes und fühlendes Subjekt auftritt? Als wirkliche Geschichte, die gegenüber der Geschichte der Möglichkeiten Gleichgültigkeit demonstriert? Nur dass sie eine gemachte Geschichte ist, von Menschen und Zwängen gewählte, verrät uns Cohen. Eine Geschichte, die anders hätte sein können, aber nicht anders ist. Dies trifft jedoch auch auf den Begriff der Geschichte selbst zu, gerade auch auf jenen, den Cohen hier wählt. Eine Geschichtsschreibung des Geschichtsbegriffes hätte dieser Geschichtlichkeit nachzuspüren in den Bildern, die von ihr zu verschiedenen Zeiten gezeichnet wurden, in den Personalisierungen, in denen sie auftrat. Mal als Freundin, als große Geschwisterfigur, mal als säkularisierter Gott, helfender oder vernichtender, als Geschichte des Verfalls, katastrophaler Sturm, strafender Teufel, mal als gelangweilte, indifferent sich abwendende, die Menschen verlassende Geschichte oder als verelendete, tote, beendete – Geschichte als Leichnam. Geschichte der Geschichte also – selbst abhängig von Entscheidungen, Zwängen, Wahlen. Ob es von der Geschichte heißt, sie unterstütze die Kämpfenden mit ihren Kräften des Fortschritts oder ob von ihr gesagt wird, sie habe, wenn sie überhaupt stehen könne, schon immer auf der Seite der Siegerinnen gestanden, hängt ab von Kämpfen und ihrem Ausgang. Das heißt aber, dass andere Entscheidungen nicht nur zu einem anderen Ausgang der Geschichte hätten führen können, sondern auch zu einer anderen Geschichte. Eine womöglich, der die Möglichkeit, dass es auch anders hätte ausgehen können, etwas gilt, eine, aus der alle Alternativen nicht verschwinden.
Die Revolution ist nicht wiederzuerkennen
Der namenlose Revolutionär, der im Chaos des März 1917 niemanden fand, wurde nicht erkannt. Erst nachdem er gestorben war, »erkannte man ihn«, nur um ihn kurz darauf wieder zu vergessen. Sein Name fand – anders als der eines anderen Revolutionärs, der nach zehn Jahren Exil im April desselben Jahres in Petersburg ankam, Lenin – keinen Eintritt in die Erzählung seines Sterbens, die von einem unerkannten Revolutionär handelt. Was erzählt dieses doppelte Nichterkennen, genauer, die unabgeschlossene Suche nach der Revolution einerseits, das zu spät gekommene Erkennen des toten Revolutionärs andererseits? War die Revolution bereits über den hinausgegangen, der so viele Jahre auf sie zugegangen war? Und muss die Revolution sich nicht so weit von ihrer Herkunft entfernen, dass ihr diese – die Revolutionärinnen eingeschlossen – unheimlich fremd wird? Hat die Revolutionärin also auf eine gleichzeitig erwartete und unvorhersehbare Revolution hinzuarbeiten, die die Revolutionärin nicht mehr als ihr zugehörige erkennt? Eine Revolution jedoch, die für ihre eigenen Revolutionärinnen nicht mehr zu genießen wäre, verlangte von diesen ein Martyrium, welches sie als antireligiöse Emanzipation sofort auslöschte. Erkannte die Revolution den Revolutionär nicht vielmehr nicht, weil sie nicht die Lösung für das in seiner Gestalt gestellte Rätsel war? Weil sie bereits begonnen hatte, sich am Bild der befreiten Enkel zu nähren, nicht an dem der geknechteten Vorfahren, wie Benjamin mit Blick auf die Sozialdemokratie 20 Jahre später kritisierte? Und könnte hierin auch der Grund dafür liegen, warum andersrum so viele Revolutionärinnen die Revolution nicht als ihre erkannten? Dieses in vielfachen Wiederholungen zum Muster werdende Bild des Revolutionärs, der die Revolution nicht wiedererkennt, wurde etwa vom Mathematiker Bertrand Russel prägnant zum Ausdruck gebracht. Bei seinem Gespräch mit Lenin muss er den Eindruck erhalten haben, er spräche mit einem religiösen Spinner, so »unangenehm berührt« war er von dessen »starrsinnig und kleinlich orthodoxem Glauben an das marxistische Evangelium.« Zitiert nach: Michael Ryklin, Kommunismus als Weltreligion. Die Intellektuellen und die Okroberrevolution, Frankfurt a.M. und Leipzig 2008.
Victor Serge, der 1917 noch als Anarchist in einem Gefängnis in Frankreich saß und über Nacht zum Bolschewiken gemacht wurde, um ihn zusammen mit 15 Genossen gegen französische Kriegsgefangene Russlands austauschen zu können, schildert seine Ankunft an der finnisch-russischen Grenze im Januar 1919: »Eine Polarlandschaft. Keine Spur von Menschen. Glanz des Schnees, Grenzen des Nichts. Auf einem zweiten verlorenen Posten fand ein Soldat, der gegen alles, was nicht Hunger und Nahrung hieß, gleichgültig war, für uns eine Nummer der Ssewernaja Kommuna, des Organs des Petrograder Sowjets. Es war nichts weiter als ein ziemlich großes graues Blatt, mit blasser Farbe bedruckt. Dieses Blatt versetzte uns den ersten Schock. [...] Wir waren darauf gefasst, in Petrograd die Luft einer gegen die Feinde harten und sogar grausamen, aber breiten und belebenden Freiheit zu atmen, und wir fanden in dieser ersten Zeitung einen düsteren Artikel, gezeichnet G. Sinowjew, über das ›Monopol der Macht‹. ›Unsere Partei regiert allein [...] sie wird niemanden erlauben [...] Wir sind die Diktatur des Proletariats [...] die trügerischen demokratischen Freiheiten, die die Konterrevolution fordert…‹ [...] Wir suchten diese Prosa durch den Belagerungszustand zu rechtfertigen, durch die tödliche Gefahr; beide konnten jedoch, wenn überhaupt, nur Tatsachen rechtfertigen, da die Tatsachen den Menschen und den Ideen Gewalt antaten, aber nicht eine Theorie der Erstickung aller Freiheit.« Serge, Erinnerungen, 1991, 82. Was für eine stil- und geschichtsbildende Collage: Grenzen des Nichts, Glanz des Schnees, ein großes graues Blatt, mit blasser Farbe bedruckt. In diesem Bild ist es nicht die Leere der Landschaft, für jeden Neubeginn bereit, die ein Erkennen der Revolution verhindert, sondern umgekehrt der blasse, aber schon lesbare Druck, dessen Autoritarismus einen Schock versetzt. Nicht weil sie unbekannt ist, sondern weil sie aus der Vergangenheit allzu bekannt ist und diese Vergangenheit zugleich theoretisch zu verewigen beginnt, kann diese Revolution nicht als solche erkannt werden.
In der gleichen Landschaft ist auch die Erzählung eines zweiten Revolutionärs angesiedelt, der im Moment der Revolution stirbt. Im Gegensatz zum unerkannten Revolutionär, mit dem dieser Text begann, hat jener Revolutionär jedoch einen Namen. Seine Erzählung ist ebenso kurz wie die erste, aber mit einem glücklicheren Ende: »Es gab da einen lungenkranken Matrosen-Gewerkschafter, Dimitri-Barakow, der vor seinem Tode noch das rote Russland sehen wollte. Wir hielten ihn während der Reise durch Spritzen aufrecht [...], er starb sofort, nachdem er angekommen war.« Ebd., 17. Angekommen? Welcher Art war diese Ankunft, und vor allem wo? Was konnte Dimitri-Barakow von seinem spezifischen Ort aus erkennen? Zumindest ein Imaginäres, eine Verkennung. Das, was er im weiten Schnee von diesem roten Russland gesehen haben mag, wird – wie so oft – nicht zuletzt seine Fantasie dort hingemalt haben. Vermutlich war der Anblick, der sich dem Sterbenden bot, wenig spektakulär. Ein müder und vor allem hungriger Grenzposten, eine steinerne Baracke, ein Eiszapfen neben der Tür, ein roter Stern an der Mütze. Victor Serge leiht uns nicht den letzten Blick von der Krankenbahre aus. Das tut nichts mehr zur Sache dieses Jahrzehnte alten Revolutionärs, nur wenige Tage jungen Bolschewiken. An der Grenze nach Russland, noch bevor die erste Zeitungsnachricht zu ihm hätte durchdringen können, holt der Lungenkranke zum letzten Mal Luft. Hätten wir mit ihm die Luft anhalten können.
~Von Bini Adamczak. Die Autorin hat sich ins warme Kreuzberg zurückgezogen, ist frisch verknallt und würde gerne 1921 aus der KPR (B) austreten.