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Vier Versuche über die befreite Gesellschaft

Die Vermutung, dass es nicht immer ausreicht zu wissen, was man nicht will, ist eine der Motivationen dieses Schwerpunkts der Phase 2. Sei es auch noch so spielerisch und notwendig utopisch. In den folgenden vier Texten soll der Versuch gewagt werden, auf engstem Raum einen Eindruck zu geben, wie man sich das Leben »danach« denn vorstellt – oder eben nicht.

Die permanente Differenz

Die Vorstellung einer befreiten Gesellschaft ist nicht nur schön. »Wen liebst du am meisten, rätselhafter Mensch, sprich? Deinen Vater, deine Mutter, deine Schwester oder deinen Bruder?« – »Ich habe weder Vater noch Mutter, weder Schwester noch Bruder.« Sie birgt neben allen Versprechungen, Hoffnungen und Sehnsüchten nach einer Gesellschaft der permanenten Differenz auch ein enormes Verunsicherungspotential: denn schließlich wirft eine/n die Sehnsucht nach einer befreiten Gesellschaft samt der »revolutionären« Politpraxis immer wieder darauf zurück, selbst bis in die tiefsten Begehrensstrukturen hinein in die herrschenden Verhältnisse verwickelt zu sein. »Was liebst du denn, seltsamer Fremdling?« Die Befreiung wird eben nicht in erster Linie von Repressionsorganen verhindert, sondern wir (und auch das ist kompliziert: existiert diese erste Person Plural überhaupt?) selbst sind es: Unser Begehren nach Befreiung ist immer auch in sich selbst blockiert. »Dein Vaterland?« Die Frage nach der Revolution, die den neuen Menschen schafft, hat sich, denke ich, damit erledigt: Eine befreite Gesellschaft ist nicht das ganz Andere der jetzigen. »Ich weiß nicht, auf welchem Breitengrad es liegt.« In diesem Zusammenhang hat die poststrukturalistische Kritik der Präsenzmetaphysik unmittelbare politische Auswirkungen: Es gibt keinen selbstidentischen Ursprung, alle Vorstellungen von Ursprüngen sind immer durchstrichen und das bedeutet, dass es auch nicht möglich ist, einen gesellschaftlichen oder historischen Nullpunkt zu setzen, der nicht von den Spuren des Alten durchzogen wäre. Befreiung als Stunde Null? Bloß nicht. »Was liebst du denn, seltsamer Fremdling?« – »Ich liebe die Wolken...die ziehenden Wolken...dort...dort in der Ferne...die wunderbaren Wolken!«

Die Wolken lieben, na toll. Was in Charles Baudelaires Der Fremdling wie Eskapismus klingt, drückt für meine Begriffe doch das melancholische Moment aus, das dem Begriff der Befreiung, von heute aus gedacht, immer eigen ist. Nur im Spiegel der Zwangskorsette von Genealogie, Familienbande, Vaterland etc. erscheint die Liebe zu Wolken als das Fremde. Und dieses Fremde gilt es erst einmal zu behaupten und zu retten.

Der Rückgriff auf einen literarischen Text macht aber auch die realpolitische Sprachlosigkeit sichtbar, wenn es darum geht, eine Vision von Befreiung zu formulieren. Sie ist als utopisches Moment einfach im Raum der Fiktion angesiedelt und nur die Fiktion kann eine Idee davon geben, was Befreiung sein könnte, weil sie imaginäre Realität erschafft. »Wenn man doch ein Indianer wäre, gleich bereit, und auf dem rennenden Pferde, schief in der Luft, immer wieder kurz erzitterte über dem zitternden Boden, bis man die Sporen ließ ...« Die befreite Gesellschaft muss fundamental anders denken; ein anderes Verhältnis zu Körperlichkeit, zu Materialität, zu Begehren, zur Natur, zur Welt haben. Die befreite Gesellschaft bedeutet nicht Champagner und Koks für alle, »...denn es gab keine Sporen, bis man die Zügel wegwarf, denn es gab keine Zügel ...«

Einer Vision von befreiter Gesellschaft, die sich aus Paradies-Fantasien speist, kann ich daher nicht viel abgewinnen und finde sie darüber hinaus auch aus politischer, kultureller und natürlich hedonistischer Perspektive überhaupt nicht attraktiv: Statt Liebe, Konsens, Identität und Einheit sollte eine befreite Gesellschaft Streit, Konflikt, Differenz und permanentes Werden sein. »Der Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben wird. Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt.« Was Marx und Engels hier schreiben, klingt (mit ein wenig Phantasie, zugegeben) wie Dekonstruktion in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Nicht die Wirklichkeit hat sich nach einem Ideal zu richten, sondern die wirkliche Bewegung zersetzt den jetzigen Zustand. Dekonstruktion ist Gerechtigkeit. Und hier liegt die Utopie des permanenten Werdens, die ich mit der Vorstellung einer befreiten Gesellschaft verbinde: Sie entzieht sich der ideologischen, der programmatischen, der politischen Fixierbarkeit, sie steht nicht mit beiden Füßen auf festem Boden, sondern, um Kafkas Worte aufzugreifen, sie erzittert immer wieder über dem zitternden Boden.

Formuliert man eine solche Befreiungsutopie der permanenten Differenz, schleicht just diese Differenz sich wieder ein: soll sich tatsächlich alles auflösen? Was ist mit der Vergangenheit, was mit den Toten, den Ermordeten und Vergessenen, die Walter Benjamin zufolge im Triumphzug der Herrschenden mitgeführt werden? Kann es nach Auschwitz noch Befreiung geben? Bedeutet Befreiung nach Auschwitz, das Trauma in sich aufzunehmen, damit Befreiung nicht die Befreiung von Auschwitz wird? Ist die Idee der Befreiung seit der Shoah kontaminiert? »Wir sind gerettet, aber wir sind nicht befreit,« schrieb Norbert Wollheim, Überlebender von Auschwitz, am 26. August 1945. Gibt es eine geschichtsphilosophische Ethik der Befreiung? Und lässt sie sich leben? Wie?

~JESKO BENDER

Bio und Super und ohne Markt

Die befreite Gesellschaft wird eine postkapitalistische und postnationale sein – mit den Straßen, den Gebäuden, den Fabriken, den Umweltproblemen und den Menschen, die der Kapitalismus hinterlassen hat. Ohne die deformierten Menschen wäre das Ganze sicher einfacher, aber gut, irgendwie hat die Revolution durch Einsicht in die Notwendigkeit, bewusstseinserweiternde Drogen im Trinkwasser oder sonst irgendwie stattgefunden und die Menschen stellen nicht mehr das größte Problem dar. Sie werden frei von vielen Ängsten und Zwängen sein: Keine Existenzangst mehr, da alle gut versorgt sein werden, keine repressive Entsublimierung mehr, kein Verwertungszwang, keine Angst, nicht konkurrieren zu können, zu arm, zu unflexibel, zu langsam, zu krank, zu ungebildet, zu schwarz, zu sexuell deviant oder zu unproduktiv zu sein. Antisexistische und antirassistische Reeducation wird auch ihren Teil dazu beigetragen haben, dass wahre Gleichberechtigung herrschen wird. Die Menschen werden in frei gewählten Kollektiven über ihr Leben bestimmen und nicht mehr auf Zwangskollektive unter despotischen Vätern, finanzstärkeren PartnerInnen oder nörgelnden Müttern angewiesen sein, um zu überleben. Die gesellschaftliche Entscheidungsfindung und Koordination der Prozesse findet auf verschiedenen Ebenen in so etwas wie Räten statt, dazu dann mehr in der befreiten Gesellschaft.

Das befreite Leben bedeutet nicht den ganzen Tag in der Hängematte zu liegen, vielleicht nur den halben, sonst würden alle ziemlich schnell verdursten und verhungern. Auch in der befreiten Gesellschaft muss die Versorgung mit Lebensmitteln, allerlei Dingen, Geräten und Maschinen, Wasser und Energie durch irgendeine Form von Tätigkeit garantiert werden. Diese gesellschaftlich notwendige Arbeit wird auf alle gerecht und solidarisch verteilt, was produziert werden soll, bestimmen die Menschen selbst mit den gegebenen technischen Möglichkeiten. Sie sind von ihrem Arbeitsprodukt nicht mehr entfremdet, manches mag zwar noch anstrengend sein, aber sie arbeiten für die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse. Dadurch, dass der Konkurrenzdruck zwischen Individuen, Belegschaften, Unternehmen, Regionen und Ländern und der Zwang, ohne Rücksicht auf Arbeitende und Umwelt möglichst billig und viel zu produzieren, wegfällt, wird die Arbeit insgesamt weniger. Viele Sektoren, Arbeitsbereiche und auch Produkte wird es nicht mehr geben: keine Werbeindustrie, keine Versicherungen, keine Krankenkassen, keine Arbeitsämter, keine Rüstungsindustrie, keine Banken, keine Finanzmärkte, keine Atomkraftwerke, keine Zeitarbeitsfirmen, keine Marketingabteilungen, weniger Elektroschrott, weniger Autos, weniger Verpackungen, etc. Neben Arbeitszeit werden dadurch auch Transportwege, Energie und Rohstoffe eingespart. Unnötige Artefakte werden zu Deichen, Rollstuhlrampen, Parkbänken, Sonnenschirmen oder Kunstwerken eingeschmolzen und umgebaut. Soweit möglich und sinnvoll, wird dezentral und gemäß den lokal vorhandenen Gegebenheiten produziert, trotzdem werden alle mit allem Nötigen versorgt und die regional unterschiedlichen Produkte getauscht. Der Produktionsprozess soll menschliche und natürliche Ressourcen möglichst schonen. Niemand sollte gefährlicher, schwerer, lästiger oder monotoner Arbeit ausgesetzt werden, zumindest nicht über längere Zeit. Soweit möglich werden diese Arbeiten und schädliche Auswirkungen auf die Umwelt minimiert. Es wird weniger Schrott produziert, alle Erzeugnisse sind qualitativ hochwertig und Lebensmittel sind frei von Giften und sonstigen schädlichen Substanzen. Sie werden in Mischkulturen ohne Agrargifte und gemäß den regionalen klimatischen und Bodenbedingungen angebaut. Massentierhaltung und extensive Viehhaltung, die Landstriche veröden lässt, wird abgeschafft. Ja, es wird weniger tierische Produkte geben, dafür aber viel mehr pflanzliche Schmankerln und es gibt auch Gegenden, in denen Weidewirtschaft sinnvoller ist als der Anbau von Pflanzen. In den Städten wird es urbane Landwirtschaft geben. Der öffentliche Personenverkehr und das Straßennetz werden soweit nötig erhalten und ausgebaut. Die wenig benötigten Autos werden in Fahrgemeinschaften genutzt und dienen nicht mehr als Statussymbole. Dadurch werden viele städtische Parkplatz- und Fahrflächen zu Wiesen, Beeten, Spielplätzen, Open Air Discos, Skateparks oder was auch immer. Die Dank der Abschaffung bestimmter Wirtschaftsbereiche und Dinge (siehe oben) leer stehenden Büro- und sonstigen Gebäude werden neu bezogen und so wie auch sonst alle Häuser den Bedürfnissen und Wünschen ihrer BewohnerInnen gemäß verschönert werden, um- oder abgebaut und natürlich gut isoliert. Kinderbetreuung wird rund um die Uhr organisiert sein. Kunst und Kultur wird es noch geben, nur keinen Kunstmarkt und keine Kulturindustrie mehr. Fernsehsender, die schlechtes Programm nur als Werbeunterbrechung zeigen, werden eingehen, ebenso viele schlechte Printmedien, die Bild und der Spiegel mit Sicherheit. Aber es wird neue Medien geben, die Titanic muss sich leider anderen Absurditäten zuwenden. Falls alles gut geht mit der befreiten Gesellschaft, werden diese schwer zu finden sein.

~NICOLE TOMASEK

Eine Gesellschaft der Räte

Der junge Marx behauptete, dass erst mit der kommunistischen Revolution die Geschichte des Menschen beginne, bis dahin sei alle Entwicklung eigentlich nur Vorgeschichte, das heißt Naturgeschichte. Zwei Erkenntnisse können aus dieser Position über seine Vorstellung der befreiten Gesellschaft gezogen werden: Erstens soll die befreite Gesellschaft eine sein, in der die Menschen selbstbewusst und selbstbestimmt ihre Geschicke bestimmen, statt als Menschheit ein System gesellschaftlicher Zwänge zu schaffen, dem sie sich individuell wie einer Naturgewalt unterwerfen müssen. Zweitens ist die befreite Gesellschaft nicht als harmonischer Zustand zu denken. In ihr sollen die Menschen vielmehr ihre Kreativität verwirklichen können (nicht müssen!), was bedeutet, dass sich sowohl der gesellschaftliche Zusammenhang als auch die Individuen weiterentwickeln werden. Das wird zu neuen Widersprüchen und Konfliktlinien führen – nur dass diese solidarisch zu lösen wären.

Aus dieser abstrakten Utopie des Kommunismus resultiert das konkrete Utopieverbot der Kritischen Theorie. Denn wenn die Menschen der befreiten Gesellschaft ihre Geschicke selbst bestimmen sollen, dann können wir mit unseren Bedürfnissen, Ängsten, Lüsten und Verkrüppelungen, die das Vegetieren im Kapitalismus an uns hinterlässt, nicht festlegen, wie die Menschen in 200 Jahren leben sollen. Wer die Kommunismusentwürfe der Frühsozialisten gelesen hat, deren Tagespläne des »sozialistischen Menschen« an die Routinen des Klosterlebens erinnern – 4 Uhr aufstehen, beten, essen, Arbeit, eine halbe Stunde Sex, politische Bildung, Arbeit ... – kann erahnen, welch' totalitärer Autoritarismus in konkreten Utopien stecken kann. Aber auch weniger naiv-narzisstische Überlegungen zum zukünftigen Leben, wie sie z. B. im Zuge der Russischen Revolution entstanden, wirken heute oft abgeschmackt oder spießig, weil sie vor einem veralteten gesellschaftlichen Hintergrund geschrieben wurden. Die folgenden Überlegungen zur befreiten Gesellschaft sind daher zu verstehen als Ansprüche aus dem Jetzt an eine nahe revolutionäre Zukunft, die wohl nicht viel weiter reichen können als zwei drei Generationen.

Ich denke, die kommunistische Revolution sollte vieles verändern: das Liebesleben, die Städte, das Verkehrssystem, die Gesundheitsversorgung, die Kunst und eventuell die Abwasserentsorgung, die Landschaft, die Bildung und nicht zuletzt die Menschen und ihr Zusammenleben. Ich möchte mich aber einem Teilbereich gesellschaftlichen Lebens widmen, der in der näheren Zukunft weiterhin eine zentrale Rolle spielen wird: dem Stoffwechsel des Menschen mit der Natur, also der Produktion der Gebrauchsgegenstände und »Dienstleistungen«, aber auch etwa dem Umgang mit der Klimaerwärmung. Ich spreche nicht von Arbeit, weil ich die Hoffnung hege, dass sich die Produktion so verändern lässt, dass unser heutiger Begriff der Arbeit nicht mehr auf jene Tätigkeiten, die notwendig sind, um herzustellen, was wir zum Leben brauchen und wollen, passen wird. Ich hoffe, die Entfremdung vom Produktionsprozess und vom Produkt wird sich aufheben lassen und Raum schaffen dafür, dass sich die Produzierenden zumindest teilweise im Produktionsprozess verwirklichen können – ob das auch bei der Reinigung der Kanalisation möglich sein wird, wage ich aber zu bezweifeln. Der Stoffwechsel mit der Natur wird in naher Zukunft nicht zum rein lustvollen Spiel werden, sondern wird ein Moment des Naturzwangs behalten: Seine elementarste Form ist der Hunger im Magen. Aber dieser Hunger ist es auch, der die Basis der Gesellschaftlichkeit der Individuen darstellen könnte – denn die Erde wird keine sieben Milliarden Menschen ernähren können, wenn diese sich nicht zusammentun, um ihr mittels der (Agrar-) Industrie das abzuringen, was sie körperlich und geistig ernährt. Das wird das Gemeinsame der anarchistischen Individuen sein oder die Menschheit wird größtenteils verhungern und der Rest auf das Niveau des Mittelalters zurückfallen.

Doch die Produktion sollte auf der Einsicht in ihre Notwendigkeit, auf Solidarität und dem freiwilligen Schenken beruhen, statt auf Arbeitszwang und Existenznot. Ich hoffe, die Besatzung des Lidl um die Ecke wird sich nach einer kurzen Phase des Chaos, der Rache an den Chefs und des infantilen »alles konsumieren ohne Neues herzustellen« zusammenraufen und versuchen, den Laden wieder mit Lebensmitteln zu bestücken, damit die Menschen in der Nachbarschaft sich diese dort holen können, natürlich for free. Dafür wird es notwendig sein, dass sich der Rat des Lebensmitteldepots mit Leuten in Verbindung setzt, die Lastwagen fahren, mit denen das Zeug herangeschafft wird – und sie werden sich mit Leuten abstimmen müssen, die Spargel, Tomaten, Waschmittel, Tee, Rasierschaum oder Käse herstellen, denn irgendwer muss das Zeug ja erst produzieren und es dann auch noch an den »Lidl« und die von ihm versorgten Menschen verschenken.

Ich hoffe, dass es zur Entstehung von Netzwerken von ProduzentInnen kommen wird, die ihre Bosse vertreiben, die Produktion in ihre eigenen Hände nehmen und sich entlang der Produktionsketten abstimmen, um die jeweils notwendigen Vorprodukte und die Verteilung ihrer Produkte an jene, die sie brauchen, zu organisieren. Wahrscheinlich wird es sinnvoll sein, viele Produktionsketten möglichst lokal zu organisieren, um die Koordinierungsprozesse zu vereinfachen und zu demokratisieren. Aber Tee wird sich in Mitteleuropa in absehbarer Zeit nicht effektiv anbauen lassen und so muss die befreite Gesellschaft Institutionen schaffen, die die marktförmige Beziehung zwischen den malaiischen Plantagenarbeiterinnen und dem Greifswalder Teetrinker durch rätedemokratische Formen der Koordinierung ersetzen.

In der Geographie gab es eine »Skalendebatte«, in der es darum ging, welche räumliche und soziale Reichweite welche gesellschaftlichen Prozesse eigentlich haben. Davon lässt sich lernen. So könnte etwa die Versorgung mit Kindergärten oder Party-Locations lokal, mit kurzer Reichweite, organisiert werden, vielleicht auf der Ebene von Stadtquartieren. Die Produktion aber von Flugzeugen oder hydraulischen Druckwalzen ist schon heute jeweils in einer Hand von Konzernen konzentriert. Warum sollten an hunderten Orten auf der Welt Flugzeuge oder Druckwalzen produziert werden, wenn jeweils einige zehntausend Menschen in der Lage sind, gemeinsam den Weltbedarf an diesen Gegenständen herzustellen?

Was lässt sich daraus schließen? Wenn die befreite Gesellschaft solidarische Selbstbestimmung verwirklichen soll, sollten Entscheidungsprozesse entsprechend ihrer sozialen Reichweite demokratisiert werden. Das heißt, etwa die Entscheidung über die Verteilung von Kopf- und Handarbeit, von unangenehmen und angenehmen Tätigkeiten, von Arbeitszeiten und Produktionsorganisation sollten diejenigen fällen, die von ihnen betroffen sind, also die ProduzentInnen eines Betriebs. Ich würde wohl Rotationsverfahren bevorzugen, um die Eintönigkeit vieler Tätigkeiten zu lindern, soweit das die durch die Arbeitsteilung hervorgebrachte Spezialisierung ermöglicht. Denn es ist heute für viele Tätigkeiten so viel Spezialwissen und -fähigkeit nötig, dass es schwierig wird, morgens TiefbauingenieurIn, mittags SchiffstechnikerIn und abends MolekularbiologIn zu sein. Auch wenn die befreite Gesellschaft die Menschen von ihrer Einseitigkeit befreien wird, schon allein dadurch, dass alle zu »Managern« ihrer Betriebe werden, nicht nur am Band stehen, vor dem Rechner sitzen oder Klos putzen, sondern auch die Produktion planen, organisieren und so umgestalten, dass sie möglichst unstressig, lustvoll, »nachhaltig« und effektiv ist.

Zurück zur Reichweite soziale Prozesse: Die Entscheidung etwa über eine energietechnische Neuausrichtung der Menschheit und die Halbierung der Erdölproduktion oder darüber, ob die Menschheit meint, dass die Erde lebenswerter ist, wenn auf ihr weniger Menschen leben, sind Entscheidungen, die die gesamte Menschheit betreffen. Um solche Entscheidungen gemeinsam fällen zu können, werden Formen entwickelt werden müssen. Ich hoffe aber, diese werden z. B. im Fall der Bevölkerungsentwicklung keine repressiven Durchsetzungsmittel erhalten. Hier sollte Einsicht die einzige Form des »Zwangs« sein, die Individuen müssen vor totalitärer Kontrolle geschützt sein.

Die Gefahr, die in dieser Vorstellung vom Kommunismus lauert, ist, dass das Leben zu einer Aneinanderreihung von nervigen Ratssitzungen verkommt: im Betrieb, in der Hausgemeinschaft, im Quartier, in der VoKü, koordinierende Delegiertenversammlungen etc. Wahrscheinlich werden die ersten Jahrzehnte nach der Revolution auch genau davon geprägt sein. Ich denke aber, dass sich nach einiger Zeit Formen der basisdemokratischen Abstimmung entwickeln und institutionalisieren, die effektiv sind, Sachfragen schnell zu klären und soziale Entscheidungen nach vernünftiger Abwägung zu treffen. Das wird ein langwieriger Prozess mit Rückschlägen und fatalen Fehlern werden. Anfangs eine Zeit des Chaos. Aber die Aufgabe ist auch groß: Die chaotische undemokratische Koordinierung der Menschheit über den kapitalistischen Markt, die heute eine Milliarde Menschen Hunger leiden lässt und täglich zum Verhungern von rund 18.000 Menschen führt, wird durch bewusste Formen der Abstimmung ersetzt werden müssen. Die Konzentration der Macht in den Händen einer politischen und wirtschaftlichen Elite, sei diese das Politbüro oder eine neoliberale Regierung, die in ihrer Borniertheit und Ignoranz die Geschicke von Millionen Unterworfener bestimmt und viele ins Verderben stürzt, das gilt es abzuschaffen. Macht wollen wir, aber sie ist zu verteilen in die Hände aller, damit niemand jemand anderen beherrschen kann.

~KRIS MASCHEWSKY

Bilderverbot – Zur Aktualisierung des negativen Geschichtsbildes

So verführerisch es auch ist, einen positiven Begriff von befreiter Gesellschaft zu haben, so verschlossen bleibt dieses Bild doch für eine emanzipative Veränderung der Gesellschaft. Dennoch tritt es uns in der Postmoderne ständig gegenüber; in der Werbung, der Popkultur, generell in allem, das Positives setzt und dabei zugleich die Negativität verdrängt. Das Problem ist, dass dieses positive Bild zum Sauerstoff der eigenen Atmung geworden ist, es erhält in Form der Fortschrittsgläubigkeit das bürgerliche Subjekt am Leben und löst dabei den Widerstandsort, der radikale Umwälzung voraussetzt, im Ich auf. Zur Auflösen des Widerstandsortes im Ich ist diese positive Utopie deswegen fähig, weil sie kein anderes mehr setzt, weil sie dessen Möglichkeit abschneidet. Sie ist die Rechtfertigung des bürgerlichen Subjekts für diese Gesellschaft, eine Rechtfertigung, der sich schwer zu entziehen ist, denn diese positive Utopie ist bis in die eigene Ich-Struktur hinein gewachsen. So muss nun auch der Utopie-Begriff vom Positiven befreit werden. Trotz und wegen der Verstrickungsprobleme des Ichs in die Scheinhaftigkeit von Befreiungsbildern gilt es einen anderen Impuls zu setzen, gilt es den Fortschritts-Fetisch hinweg zu fegen Vgl. Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, Gesammelte Schriften 1.2., Frankfurt a.M. 1991, 697f. und die messianische Kraft der Geschichte vor dem Ersticken zu bewahren bzw. – um beim obigen Bild zu bleiben – um uns selbst durch das Atmen der messianischen Kraft vom Erstickungstod zu erlösen. Vgl. ebd., 693f.

Um die messianische Kraft zu erwecken, müssen wir uns der Katastrophe zuwenden – und dabei denke ich an ein Umwenden gegen den Widerstand im eigenen Kopf, ein Drehen des verholzten Halsgelenks; des Halses, der wie eine Galionsfigur am Vorderschiff der falschen Gesellschaft angeschraubt ist. Wir müssen der Katastrophe die Wahrheit darüber abringen, was mit uns passiert, wie wir geworden sind und was wir schon dagegen unternommen haben. Es wäre das unversöhnliche Bild des Scheiterns von Emanzipation, das die messianische Kraft erweckt. Es ist das verlorenste, erbärmlichste, unterworfenste Menschenbildnis, in welchem diese Kraft aufscheint. Es ist der Blick auf Kultur als von Herrschaft errungen und verschandelt. Es ist das Gehör für die Stummheit der Sprache und des Denkens unter diesen Verhältnissen, es ist letztendlich auch das Gehör für die eigene Stummheit, denn die messianische Kraft kann nur vom Lebendigen erfasst werden. Sie ist Bewusstsein, sie ist kritische Erkenntnis und sie ist ein Gefühl. Und ihr Dasein als Gefühl macht es notwendig, sie immer wieder von neuem zu wecken. Damit wird auch das Bewusstsein vom blinden Kurs durch die taube See erweckt, durch das Leid hindurch erscheint eine Pforte in eine tatsächlich andere Welt.

Nun, welche Aussichten hat die Forderung, nach der messianischen Kraft zu suchen? Vielleicht unterscheiden sich diese Aussichten gar nicht so sehr vom Status Quo des derzeitigen Outputs linksradikaler Kritik, vielleicht ändert sich primär der Blick auf diesen Output. Vielleicht kristallisiert sich heraus, wo mit dem Bestehenden Frieden geschlossen wird, wo der Konformismus die Radikalität des Bestrebens überholt. Vielleicht ändert sich die Erzählweise von der eigenen Bewegung radikal, indem keine Erfolgsgeschichten mehr zu erzählen sind. Auf jeden Fall aber wird die Erkenntnis aus revolutionär erkämpften Errungenschaften geschärft, da die Gesellschaft vom Standpunkt des Scheiterns menschlicher Emanzipation von Herrschaft gesehen wird. Außerdem wird der Blick auf den Trümmerhaufen der Geschichte aktualisiert, es wird so sichtbar, welche Teile der Gesellschaft momentan in Schutt und Asche gelegt werden und dort scheint dann auch die negative Utopie der befreiten Gesellschaft auf.

Interessant ist die Frage, was diese jüngsten Trümmer sind. Ein Stück dieser Trümmer ist möglicherweise die Gleichgültigkeit des menschlichen Daseins in der postmodernen Gesellschaft. Gleichgültig gegen sich selbst, gegen andere und gegen die Möglichkeit. Es ist das Überhäuft-werden mit bunter Oberflächlichkeit, der Hohn auf das Ich durch den Mangel der Tiefe. Der Verlust des Glaubens an eine Möglichkeit durch ein Überangebot an Scheinmöglichkeiten. Es ist dieser Zustand, die Emanzipation so nah vor den Füßen haben, doch die Unmöglichkeit, sich zu bücken und sie zu ergreifen, ja gerade die Nähe zur Freiheit, aber gleichzeitig das Fehlen eines Inhalts von Freiheit. Eine Entfremdung nicht nur von der Arbeit, sondern auch vom angeblich selbstbestimmten Teil des Lebens. Ein Gefangensein in der Lüge und das Leben dieser Lüge wider besseres Wissen, die demütigende Internalisierung der Lüge. Ein outgesourctes Organisationselement von Herrschaft zu sein, nicht nur das Rädchen, sondern gleich die ganze Miniaturherrschaftsmaschine. Es ist das Nicht-mehr-schreien-können der postmodernen Identität, oder, wenn man sich doch irgendwie einen Schrei erarbeitet, dass ihn niemand mehr deuten mag. Es ist die Zufriedenheit im ausufernden Blödsinn, die dich hinterher betrügt. Es ist letztendlich der Verlust des Bewusstseins, der letzten Bastion gegen die Herrschaft.

~MIRKO MASCHEWSKY