So wirklich gemütlich hatte es Robinson nicht auf seiner Insel. Ganz abgesehen davon, dass geeignete Eilande selten sind, erfordern erhaltenswerte Errungenschaften gegenwärtiger Gesellschaften (Krankenversorgung, Bibliotheken, 73 Pastasorten im Ladenregal, Unterhaltungselektronik usw.) gesellschaftliche Arbeitsteilung und Kooperation. Die eigene Freiheit hat also ein bestimmtes Handeln anderer zur Voraussetzung. Doch wie bekommt man Menschen dazu, das zu tun, was im Interesse aller notwendig ist? Oder tun sie das von alleine?
Die vergebliche Suche nach dem Neuen Menschen
Arbeitsverweigerung, Schwarzhandel, Diebstahl und völlige Apathie der Beschäftigen bei der Weiterentwicklung der Produktion – das waren die heimlichen Ausgangspunkte für die Forderung nach dem »Neuen Menschen« im nicht mehr ganz jungen Realsozialismus, einem Menschen, der selbstlos tut, was zu tun ist.
Dabei sollte der Ausdruck »Neuer Mensch« ursprünglich die Möglichkeit benennen, Menschen aus ihren individuell wirksamen kulturellen Verkrustungen herauszulösen, um ihnen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Der Ausdruck stammt aus einer Tradition, die spätestens mit Nikolai Tschernyschewskis Roman Was tun? aus dem Jahr 1864 fassbar wird, einem Roman, der den Untertitel Aus Erzählungen von neuen Menschen trägt und auf den Lenin später mit dem Titel eines seiner zentralen Texte verwies. An der Hauptfigur Wera Pawlowna wird die Möglichkeit eines »anderen« Lebens vorgeführt: Gleichstellung der Geschlechter, Ehe als freundschaftlicher Zusammenschluss auf Zeit, größtmögliche Bestimmung über die Bedingungen der eigenen Reproduktion, Identität individueller und kollektiver Interessen – und Kritik aller gesellschaftlichen Verhältnisse, die diese Identität verhindern.
Eine wesentlich auf Kooperation aufbauende neue Gesellschaft ist darauf angewiesen, dass ihre Mitglieder einen gemeinsamen Zweck teilen. Die aus der Vorgängergesellschaft überkommenen Verhaltensmuster wurden von den Bolschewiki dabei als ernstes Hindernis eingeschätzt, was dazu beitrug, dass sie den eigentlichen Aufbau des Kommunismus erst von der folgenden Generation erwarteten. Vgl. W. I. Lenin, Die Aufgaben der Jugendverbände. In: Ders., Werke in sechs Bänden, Band V, Moskau 1920, 679. Die von Tschernyschewski beeinflussten Vorstellungen der Volkskommissarin Alexandra Kollontai zur neuen Sexualmoral und zur Auflösung der bürgerlichen Familie stießen tatsächlich auf Unverständnis bei der Bevölkerung, auch bei ihrem weiblichen Teil.
Doch selbst die Elemente ihrer Politik, die weitgehend auf Zustimmung stießen – wie die Gründung von kollektiven Küchen und Betreuungseinrichtungen für Kinder – wurden mit dem Argument des Ressourcenmangels nach einigen Jahren wieder eingestellt bzw. konnten nicht im benötigten Umfang angeboten werden. Vgl. Carmen Scheide, Kinder, Küche, Kommunismus. Das Wechselverhältnis zwischen sowjetischem Frauenalltag und Frauenpolitik von 1921 bis 1930 am Beispiel Moskauer Arbeiterinnen, Zürich 2002. Zu dieser Entscheidung trug bei, dass die bolschewistische Führung die Familie als Keimzelle des Staates nicht schwächen wollte. Und spätestens unter Stalin blieb von der emphatischen Vorstellung des Neuen Menschen nichts übrig als die Forderung nach dem selbstlosen Staatsbürger: »Die kommunistischen Grundsätze [...] sind die Grundsätze eines hochgebildeten, ehrlichen, fortschrittlichen Menschen, das ist die Liebe zur sozialistischen Heimat, Freundschaft, Kameradschaftlichkeit, Menschlichkeit, Ehrlichkeit, Liebe zur sozialistischen Arbeit«. M. I. Kalinin, Über kommunistische Erziehung. Ausgewählte Reden und Aufsätze, Moskau 1949, Vorwort. Es ist bekannt, welche dieser »Werte« Vorrang genossen, wenn sich etwa zwischen »Liebe zur Arbeit« und »Menschlichkeit« ein Widerspruch ergab. Diese Verschiebung im Konzept des Neuen Menschen von der Entfaltung zur Pflichterfüllung war jedoch schon viel früher angelegt. In einer Rede vor dem Kongress des Kommunistischen Jugendverbandes hatte Lenin im Oktober 1920 formuliert: »Gibt es denn eine kommunistische Moral? Gib es eine kommunistische Sittlichkeit? Natürlich gibt es sie. […] Unsere Sittlichkeit ist von den Interessen des proletarischen Klassenkampfes abgeleitet.« Lenin, Jugendverbände, 688f.
Einerseits stimmt es ja: Wer die Revolution in Gefahr bringt, handelt tatsächlich »unmoralisch« weil er bzw. sie selbst die bescheidenen Ansätze emanzipativer Veränderungen gefährdet. Andererseits wird hier der Anspruch an KommunistInnen formuliert, im Zweifelsfall immer zugunsten der gemeinsamen Sache zurückzustecken. Die moralische Forderung soll dort aushelfen, wo die Menschen nach Auffassung der Führung in zu geringem Maß bereit sind, sich das Interesse des Kollektivs zu eigen zu machen. Es liegt auf der Hand, dass es kein großer Schritt war, von dieser moralischen Position aus GegnerInnen, FeindInnen und »Agenten der CIA« zu identifizieren und an Leib und Leben zu bedrohen, wenn das Vaterland der Revolution (und das war eigentlich immer der Fall) durch äußere Gegner und innere Schwierigkeiten in seinem Bestand bedroht war.
It`s the Übergang, stupid!
Die realsozialistische Herrschaft hatte das ganz reale Problem, dass sie der eigenen Bevölkerung mit Misstrauen begegnen musste. Abgesehen davon, dass es genug Gründe für Opposition im engeren Sinne gab: Schon bei der zentralen Frage, welche Produktionskapazitäten zur Verfügung stehen, welche Produktionsmittel gebraucht werden und welche Güter damit produziert werden können, waren die PlanerInnen auf Informationen der Leute in der Produktion angewiesen. Doch warum hätten diese ihre Kapazitäten realistisch angeben sollen – wo doch das Risiko bestand, gemaßregelt zu werden, wenn das Produktionsziel unterschritten würde? Warum sollten die Leute auf die Bildung heimlicher Reservelager verzichten, wenn diese doch womöglich gute Dienste bei ausbleibendem Rohstoffnachschub leisten würden – auch wenn so die Knappheit an Konsumgütern und in anderen Bereichen der Produktion verstärkt wurde? Und hätten die realsozialistischen Führungen die KonsumentInnen gefragt, was diese brauchen, dann hätte man damit rechnen können, dass an Bedarf angemeldet wird, was nur auf den Zettel passt, denn die Leute hätten mit gutem Grund versucht, ihr Schäfchen schnellstmöglich ins Trockene zu bringen.
Neben den vorsozialistischen Prägungen der Bevölkerung war dafür die realsozialistische Politik selbst verantwortlich, weswegen das Problem und die Appelle an die Moral sich auch nicht irgendwann von selbst erledigten: Entscheidungen wurden über das Prinzip Anordnung-Befolgung nach »unten« weitergegeben. Selbst dort, wo ArbeiterInnen im Dienst der sozialistischen Sache bereit gewesen wären, richtig ranzuwuppen, achtete die realsozialistische Führung darauf, dass es über Form und Zweck der gesellschaftlichen Reproduktion nie eine Debatte gab. Es konnte daher auch außerhalb der zentralen Plankommissionen niemand wirklich beurteilen, was in welchem Maße und nach welchem Maßstab denn nun »notwendig« war und wo gesellschaftliche Alternativen lagen. Insofern war selbst bei halbwegs überzeugten KommunistInnen oder AnhängerInnen der jeweiligen »sozialistischen Vaterländer« die Identität der eigenen mit den kollektiven Interessen eine eher abstrakte Vorstellung, die nur selten handlungsleitend werden konnte. Der realsozialistische Ingenieur als Neuer Mensch par excellence stand z.B. immer in dem Dilemma, zum einen von der Führung zu einer angeblich »objektiv notwendigen« Überforderung der Ressourcen gezwungen zu werden, sich die daraus resultierenden Schäden aber als individuelles Versagen anrechnen lassen zu müssen. (Vgl. Susanne Schattenberg, Stalins Ingenieure, München 2002.)Dass von Anfang an einem großen Teil der Bevölkerung das kommunistische Programm suspekt oder egal war, verschärfte das ganze bloß noch.
Doch was bedeutet diese Erfahrung für die nächste Revolution? Es ist einfach zu sagen, dass eine wirklich kommunistische Revolution doch alle an der Planung beteiligen werde. Wenn auf diese Weise die Identität der eigenen mit den Gesamtinteressen erfahrbar ist – hat sich das Problem damit nicht erledigt?
Wir müssen uns darüber klar sein, dass die Diskussion dieser Fragen sich auf absehbare Zeit nicht auf kommunistische Zielvorstellungen beziehen kann, die höchstens eine allgemeine Richtung angeben können, sondern immer auf etwas viel »unreineres«: die Übergangsgesellschaft. Hier wird sich entscheiden, ob es überhaupt ein »Weiter« gibt, hier lauern die größten Probleme, hier müssten aber auch die Versprechen angesiedelt sein, die Leute dazu bewegen, Revolution zu machen. Denn ob sie das »Danach« überhaupt erleben, stünde selbst bei einer ganz friedlichen Revolution aus schlicht biologischen Gründen in den Sternen. Und Menschen, die sich für »zukünftige Generationen« aufopfern, sollte man misstrauen.
Es sind natürlich besondere Bedingungen, wenn ein Großteil der sozialistisch zu organisierenden Bevölkerung aus ehemaligen zaristischen Bäuerinnen und Bauern oder ehemals begeisterten AnhängerInnen des Führers besteht. Aber egal, ob man sich die subjektive Zurichtung der Menschen oder den üblichen materiellen Mangel im Kapitalismus vornimmt: Zu behaupten, nur eine Gesellschaft vollständig aufgeklärter EdelkommunistInnen sei in der Lage, die eigene Zielgesellschaft zu verwirklichen – wo doch die bestehende Gesellschaft einiges dafür tut, dass selbst Linksradikale autoritätsgläubig, sexistisch, profilneurotisch und sonst was werden, drückt sich um das Problem herum; genauso wie die Auffassung, dass Kommunismus nur möglich sei, wenn der Mangel weltweit überwunden ist – obwohl die kapitalistische Produktionsweise doch dafür sorgt, dass der Reichtum erstens extrem ungleich verteilt ist und zweitens größtenteils in einer materiellen Form vorliegt, die unmittelbar gar nicht geeignet ist, der individuellen Beglückung zu dienen.
Jedes vernünftige Konzept von Übergangsgesellschaft muss deshalb berücksichtigen, dass zumindest auf mittlere Sicht relativer Mangel herrscht und wirkliche Menschen schon aufgrund gemachter Erfahrungen davon ausgehen können, dass ihr individuelles Interesse nicht mit dem des großen Ganzen identisch ist. Oder anders gesagt: dass sie von dieser Identität immer wieder praktisch überzeugt werden müssen.
Moral und Interesse
Die hilflose bis grausame Moral des Realsozialismus hat auch eine komische Seite. Jeder Versuch, ein bestimmtes Gebot (»Geh morgens in die Fabrik!«, »Nimm Dir erst, wenn Witwen und Waisen versorgt sind!«) allgemeingültig als Pflicht zu begründen, führt in den Widerspruch, dem Subjekt den unbedingten Vorrang des Allgemeinen und damit tendenziell die gedankliche Negation des Selbst abzuverlangen. Daran ändert sich natürlich nichts, wenn man ganz »materialistisch« Moral als idealistischen Quatsch denunziert – und durch den Begriff der Klassensolidarität ersetzt, die aber bitteschön von allen einzufordern ist. Soll vermieden werden, die Selbstaufgabe ganz hitler'sch offen zu formulieren (»Du bist nichts, Dein Volk ist alles«), wird die moralische Forderung bigott. Weil entweder der Einsatz der Einzelnen heruntergespielt werden muss – oder aber mit einer lichten Zukunft gerechtfertigt, die einem am Sanktnimmerleinstag alles vergelten wird.
Umgekehrt ist es aber naiv, allein auf das unmittelbare individuelle Interesse der Einzelnen zu vertrauen, wenn es um das Gelingen kommunistischer Kooperation geht. Solange es relativen Mangel gibt und Arbeit noch nicht »das erste Lebensbedürfnis geworden« ist, Vgl. Karl Marx, Kritik des Gothaer Programms, in: Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 19, 21. was schon voraussetzen würde, dass Produktivkraft und Form der Arbeit sich von der ursprünglich kapitalistischen Grundlage emanzipiert haben, wäre selbst bei sofortiger Arbeitszeitverkürzung der tägliche Gang in die Fabrik immer noch ein ziemlich großer Einsatz. Rein individuell kalkulierend gäbe es nie einen Grund, den eigenen Beitrag nicht möglichst stark zu minimieren, wenn der kapitalistische Zwang erst einmal weggefallen ist – selbst wenn die neue Form der gesellschaftlichen Reproduktion allgemein dem eigenen Interesse entspricht.
Doch die Entgegensetzung von Moral und Eigeninteresse ist praktisch gar keine grundsätzliche. Rein nutzenorientierte Individuen gibt es glücklicherweise nur im (falschen) bürgerlichen Modell des Homo Oeconomicus. Leute tun gemeinhin etwas für andere, auch wenn sie einmal keinen »Gegenwert« dafür bekommen – solange sie das Gefühl haben, dass ein (nicht objektiv zu bestimmendes) Maß dabei nicht überschritten wird und sie den Sinn der Gesamtstruktur einsehen. Umgekehrt werden auch im entwickelten Kommunismus Leute mal keine Lust haben, arbeiten zu gehen, obwohl das den gesellschaftlichen Konsumtionsfonds vermindert. So what? Es wäre viel gewonnen, wenn man sich in dieser Frage überhaupt einmal frei entscheiden könnte. Politisch wichtiger ist, durch welche gesellschaftlichen Strukturen die Einzelentscheidungen so beeinflusst werden, dass für alle etwas Sinnvolles herauskommt. Das ist eine Frage von Strukturen und Institutionen, weil das Ausmaß der Bereitschaft, das gesellschaftliche Ganze im Kopf zu behalten, beeinflusst wird von der Qualität der Arbeits- und Entscheidungsprozesse in der Gesellschaft.
Zwischen Dorfkommunismus und Wikipedia-Wirtschaft
Was geben derzeitige Konzepte von Übergangsgesellschaft in diesem Kontext her? All die Bischoffs, Bergmanns, Haugs und Wagenknechts wollen aus dem Scheitern des Realsozialismus ausgerechnet gelernt haben, dass man Marktelemente in eine sozialistische Ökonomie implementieren müsse, die die Einzelnen ganz automatisch dazu bringen, das zu tun, was für alle gut ist. Je nachdem, wie zentral der Markt dabei ist, verschwindet entweder der Unterschied zum Kapitalismus ins Mikroskopische oder das Problem der Koordination der Einzelnen muss in wesentlichen Teilen neben oder über dem Markt geschehen, was die Frage stellt, ob man dann nicht auch auf ihn verzichten kann.
Weniger anbiedernd an den Zeitgeist versuchen es zwei Modelle, die in der Linken derzeit diskutiert werden. Takis Fotoupolos Takis Fotopoulos, Towards an Inclusive Democracy. The Crisis of the Growth Economy and the Need for a New Liberatory Project, London, New York 1997; ders., Inclusive Democracy, In: Oliver Ressler, Alternative Ökonomien, alternative Gesellschaften, Wien 2008. nähert sich der Frage nach sinnvollen kommunistischen Strukturen von einer erstmal ganz unökonomischen Seite. Eine vernünftige Gesellschaft müsse auf »der gleichmäßigen Verteilung von politischer, ökonomischer und gesellschaftlicher Macht« beruhen. Das ist für Fotopoulos gleichbedeutend mit der Ablehnung jedes Delegationsprinzips. Alle sollen alles direkt mitentscheiden. Darin steckt immerhin die richtige Erkenntnis, dass die Einzelnen viel eher zu einem Gesamtzweck zu integrieren sind, wenn sie an den politischen und ökonomischen Entscheidungen direkt beteiligt sind und die gesellschaftlichen Alternativen und ihre VerfechterInnen genau kennen. Entscheidungen mitzutragen, die ich selbst anders getroffen hätte, ist viel näherliegend, wenn mir die Gründe für diese Entscheidung in einem ausführlichen Diskussionsprozess vertraut geworden sind – und ich diejenigen, die gegen mich entschieden haben, im eigenen Umfeld verorten kann.
Um direkte Beteiligung aller zu garantieren schlägt Fotopoulos vor, die befreite Gesellschaft in Einheiten von 30-50.000 Menschen aufzuteilen. Es ist klar, dass dieses Modell eine vielfältige Koordination zwischen den politischen Einheiten erforderte, für die Fotopoulos allerdings kein sinnvolles Modell anbietet. Von der geforderten »self-reliance« der einzelnen Gemeinwesen bleibt so nur die vage Hoffnung, dass ein Großteil der Entscheidungen auf lokaler Ebene zu fällen sein würde. Fotopoulos, Democracy, 241; zur Kritik daran vgl. Annika Beckmann und Daniel Fastner, Ernsthafte Gedankenspiele: (dezentrale) ökonomische Modelle reflektieren, Manuskript, erscheint in: Das Argument, Heft 286.
Ein anderes Modell ist das der »Peer-Ökonomie«, vertreten z.B. von Christian Siefkes. Eine Zusammenfassung seiner Position in: Christian Siefkes, Ist Commonismus Kommunismus? Commonsbasierte Peer-Produktion und der kommunistische Anspruch, PROKLA 155, Juni 2009. Gesellschaftliche Koordination findet hier im Wesentlichen über Mausklicks statt. Die Menschen erfassen – und das muss man sich wohl als erstmal individuellen Akt vorstellen – ihre Wünsche in Form einer Bedarfs- und Aufgabenliste. Sie arbeiten ausgehend davon an öffentlichen ToDo-Listen mit, die ihrerseits autonom abgearbeitet werden. »Per Selbstauswahl« sollen sich zu diesem Zweck »Projekte« bilden, »die sich grundsätzlich für die Erfüllung bestimmter Wünsche zuständig fühlen«. Das Problem, wie Leute unter einem gemeinsamen Zweck versammelt werden, ohne sich aufzugeben, ist hier gelöst, indem es als Problem geleugnet wird. Die Einzelnen machen einfach das, was sie spannend und wichtig finden. Nun wäre gegen eine solche Art der Aufgabenverteilung im Rahmen eines gesamtgesellschaftlichen Planes, der diesen Namen auch verdient, wenig zu sagen. Um das Problem, wie ein solcher Plan zustande kommen soll, drückt Siefkes sich jedoch einfach herum. Zwar gesteht er an mehreren Stellen zu, dass über viele Fragen eine im engeren Sinne »gesellschaftliche Entscheidung« getroffen werden müsste. Wie das geschehen soll, handelt er aber mit einem abstrakten Hinweis auf Rätemodelle ab.
Gemeinsam ist Fotopoulos und Siefkes (und auch einigen anderen Modellen Die Überbewertung von Informationstechnologie und die Unterschätzung politischer Fragen findet sich z.B. auch im Parecon-Modell, vgl. Michael Albert, Parecon. Life after Capitalism, London, New York 2004, oder bei Paul Cockshott, der festgestellt haben will, dass er »die Gleichung einer Ökonomie etwa in Größe der schwedischen Wirtschaft innerhalb von ungefähr zwei Minuten lösen konnte«, vgl. Paul Cockshott, Einem neuen Sozialismus entgegen, in: Oliver Ressler, Alternative Ökonomien, alternative Gesellschaften, Wien 2008, 89-94. Unsinnig ist daran nicht die Behauptung der Lösung, sondern die Vorstellung, es handele sich bei einer Ökonomie um eine Gleichung.) eine falsche Konsequenz aus den Erfahrungen mit dem Realsozialismus: Eine gesamtgesellschaftliche Organisation wird letztlich als Übel, als reine Quelle von Herrschaft betrachtet. Das hat zwei Fehler zur Grundlage: eine Unterschätzung der materiellen Zwänge einer gesellschaftlichen Kooperation und eine Unterschätzung des Politischen.
Eine hochindustrialisierte Produktion ist komplex. Die Organisation z.B. einer Halbleiterproduktion ist nicht allein technisch und logistisch anspruchsvoll. Jede Entscheidung, die ich hier treffe ? und sei es, dass ich als IngenieurIn ein Sabbatjahr nehmen oder beenden will ? setzt Entscheidungen in einer Unmenge anderer gesellschaftlicher Bereiche voraus (Rohstoffproduktion, Ingenieursausbildung, Krippen für die Kinder der Mitarbeitenden usw.) und hat wiederum Auswirkungen auf eine Unmenge anderer Bereiche. Möchte ich, dass die Fabrikation von IPads ausgeweitet wird? Das würde ich im Kommunismus (das ist die moralische Seite) auch davon abhängig machen, welche Auswirkungen das auf andere hat. Diese Auswirkungen kenne ich selbst aber gar nicht.
Bei Fotopoulos macht sich die Unterschätzung dieser materiellen Komplexität so geltend, dass er den Koordinationsbedarf der Gemeinschaften untereinander für quantitativ zu vernachlässigen hält. Da aber liegt der Knackpunkt. Überregionale Entscheidungen über Verkehrswege, Energieversorgung, Großindustrie, Umweltschutz oder auch Ausbildung von SpezialistInnen kommen nicht ohne Delegation aus. Für die aber meint Fotopoulos, kein emanzipatives Modell liefern zu müssen. Siefkes wiederum ignoriert, dass die gesellschaftlichen Voraussetzungen der eigenen Bedürfnisbefriedigung für die Einzelnen gar nicht erfahrbar sind. Es bedarf einer kooperativen, langfristigen Arbeit dafür ausgebildeter Leute, um solche Prozesse halbwegs in den Griff zu bekommen. Die entsprechenden Kompetenzen aber bedeuten potenziell Macht – und die sollte man nicht leugnen, sondern kontrollieren.
Und das führt zum zweiten Fehler, der Unterschätzung des Politischen. Bei Fotopoulos ist die Vollversammlung das zentrale politische Gremium. Doch warum sollten 30.000 Leute, denen ich letztlich als Einzelner ausgeliefert bin, keine Gewalt über mich haben, nur weil ich persönlich abstimmen darf? Welche Möglichkeiten bieten sich der Minderheit im Gemeinwesen, wenn es einen substanziellen Konflikt z.B. über Arbeitszeit und Konsum gibt? Eine gesamtgesellschaftliche Organisation, die den Wunsch nach Abweichung von vornherein mit bedenkt und die Ressourcen für eine möglichst reiche Auswahl unterschiedlicher Lebens- und Arbeitsformen plant, scheint da doch eine menschenfreundlichere Alternative zu sein. Siefkes wiederum geht davon aus, es gäbe in seinem Modell »keine strukturellen Abhängigkeitsverhältnisse«, nur weil es keine Befehlsstrukturen und kein Eigentum gibt. Der Fall, dass ich mich mit anderen einigen muss – oder aber eine Minderheit die Beschlüsse der Mehrheit umzusetzen hat, wird von ihm zu einer Marginalie weggemauschelt, die im Zweifelsfall mit der »Abspaltung und Organisation eines eigenen Projekts« zu umgehen sei. Konflikte erübrigen sich, wenn gesellschaftliche Reproduktion vorgestellt wird wie ein Wikipedia-Eintrag, den ich bei Missfallen einfach umschreiben kann. In Wirklichkeit aber sind die Leute im Kommunismus natürlich abhängig von bestimmten anderen, mit denen sie sich z.B. über die Verwendung bestimmter Ressourcen oder die Ausgestaltung eines bestimmten Arbeitsprozesses einigen müssen. Und sei es, weil permanentes Umziehen ziemlich große Mühe macht und außerdem selbst gesellschaftliche Ressourcen voraussetzt. Auch solche Abhängigkeiten bedeuten der Möglichkeit nach Macht über Menschen, die in einer vernünftigen Gesellschaft institutionell gebändigt werden müsste. Wie bei manchen Softwareprojekten stellt sich Siefkes demgegenüber das Mitglied der kommunistischen Gesellschaft als Einzelnen vor dem PC vor, der körperlos im Cyberspace die freie Wahl hat, seine Angelegenheiten mit Kumpels in Göttingen, Timbuktu oder notfalls auch alleine zu regeln. Irgendwie eine arschbürgerliche Vorstellung.
Eine kommunistische gesellschaftliche Organisation ohne zentrale Institutionen wird es nicht geben. Indiz dafür sind gerade die blinden Stellen der kritisierten Modelle. Und das bedeutet Delegation, Mehrheitsentscheidungen, wenn nötig und Unterordnung der Minderheit unter die Mehrheit in den (hoffentlich wenigen) Fällen, wo ein »sowohl als auch« nicht geht. Gleichzeitig wäre es fatal, diese Institutionen ganz leninistisch nur in Hinblick auf ihre Effizienz hin zu entwickeln. Sollen die Einzelnen die Anforderungen der Gemeinschaft mitverfolgen ohne sich dabei aufgeben zu müssen, dann sind neben alten (und richtigen) Forderungen, wie der nach Transparenz von Entscheidungen und Modellen von Ämterrotation, gerade wegen der Komplexität der Prozesse auch so »weiche« Faktoren wie Vertrauen und Spaß im Entscheidungsprozess von Bedeutung. Institutionen, die das leisten, sind nicht am Reißbrett zu entwickeln, sondern müssten ausprobiert werden, eingeübt vor der Revolution. Die radikale Linke müsste sich deshalb heute nicht nur entsprechend der Kampfbedingungen im derzeitigen Kapitalismus organisieren, sondern schon in Hinblick auf die Zeit danach.
Von Rüdiger Mats. Der Autor lebt in Leipzig. Von ihm erschien zuletzt in der Phase2.34 »Bloß eine neue Maschine aufstellen« über Konsequenzen aus dem ökonomischen Scheitern des Realsozialismus.